Link öffnet in einem neuen Fenster.Layout st

Dienstag, 16. Juni 2015 Agenda Seite 29
Magazin
KINO
Riesenerfolg für
«Jurassic World»
Der Indominus rex (Bild)
setzt eine Rekordmarke:
«Jurassic World» spielt als
erster Film über 500 Millionen Dollar am Startwochenende ein. SEITE 24
www.bernerzeitung.ch
23
Made in Prison
OFFENER VOLLZUG In der
Berner Strafanstalt Witzwil
werden Vogelhäuschen und
Setzlinge produziert. Das
wichtigste Produkt aber ist
Selbstkompetenz – die Gefangenen sollen sich nach der
Strafe im Alltag und in der
Arbeitswelt zurechtfinden.
«Im Dezember 2014 kam das
Aufgebot. Einrücken.» Xherdan
Müller presst Luft durch die Lippen, «fünf Jahre und drei Monate». Dann Stille, man hört nur das
Scheppern eines Bleistifts, das
Müller aus der Hand und auf den
Tisch gefallen ist.
Müller heisst nicht wirklich
Müller, er trägt einen albanischen Namen* und kam im Alter
von fünf Monaten mit seinen Eltern aus dem Kosovo in die
Schweiz. Heute ist Müller 22 Jahre alt, seit Februar ist sein Zuhause eine Zelle in der gesicherten
Zone der Strafanstalt Witzwil.
Witzwil, die kleine Siedlung im
grossen Moos zwischen Neuenburger-, Murten- und Bielersee,
ist der grösste Landwirtschaftsbetrieb der Schweiz (siehe Kasten). In 26 Berufen bereiten sich
hier 166 Gefangene auf das Leben
in Freiheit vor, 148 davon im offenen Vollzug. Die Gefangenen haben Arbeitspflicht, das Ziel heisst
Resozialisierung, Wiedereingliederung in die Gesellschaft.
Drehtüren im Zaun
Mittagspause. Vier Männer sitzen auf einer Bank im Innenhof
der Anstalt, ein fünfter steht vor
ihnen und gestikuliert. Rufe
schallen über den Hof, Sprachen
werden fliegend gewechselt,
Deutsch, Französisch, Albanisch,
Arabisch. Ab und zu geht eine
Frau vorbei. Weiblichkeit ist das
einzige Merkmal, das einen Menschen hier eindeutig als Angestellte identifiziert. Der Innenhof könnte auch ein Schulhausplatz sein, nur die Schüler sind
etwas gross – und ein Zaun erinnert daran, dass man sich in einer
Strafanstalt befindet.
Viermal täglich passiert Xherdan Müller mit seinem Badge die
Drehtüren im Zaun, die die gesi-
Arbeitsmeister Reto Bangerter bespricht mit Xherdan Müller den Zusammenbau des Vogelhäuschens. «Eigentlich weiss er, wie das geht,
ihm brauche ich nicht viel zu erklären», sagt Bangerter.
cherte Zone vom Aussenbereich
trennen. Antreten ist um
7.35 Uhr, am Mittag zum Essen
wieder hinein, ausrücken um
halb zwei, einrücken um halb
sechs. Vor dem Aus- und dem
Einrücken bildet sich eine kleine
Menschenmenge auf der jeweiligen Seite des Zauns.
Unbedingt die Lehre beenden
«Ich war im ersten Lehrjahr, als
die Strafe kam, ich war 18 Jahre
und vier Monate alt, dazumal.»
Müller klopft mit seinem Bleistift
auf die Werkbank. Er habe das
Urteil ans Obergericht weitergezogen, wollte unbedingt noch die
Gipserlehre fertigmachen. «Es
war schwer, eine schwere Zeit.
Weil mit dieser Strafe», er stockt,
«erwartet man eigentlich, dass
sie einen ausschaffen.» Trotzdem
hat Müller seine Lehre mit der
«Es ist einfach so»
«Draussen» hat Müller nach der
Lehre ein Team von drei bis vier
Leuten geführt, hier, im Werkatelier der Strafanstalt, baut er an einem Vogelhäuschen (siehe Kasten). «Es ist schon schwer, damit
umzugehen, weil, na ja, aber es ist
einfach so», räumt Müller ein
und vergleicht seine jetzige Welt
mit der Welt draussen: «Es ist genau gleich, wie wenn man den Betrieb wechselt, dann muss man
wieder vorn anfangen und zeigen, was man kann, damit er Vertrauen in einen hat, in dem Sinn.»
«Die Zeit geht
schneller vorbei,
wenn man am
Arbeiten ist.»
Xherdan Müller, Gefangener
«Er» ist in diesem Fall Reto Bangerter, Müllers Arbeitsmeister.
Während des Interviews sitzt er
an der Werkbank nebenan, wirft
ab und zu etwas ein.
Als die zwei Männer beim Fototermin eine Arbeitssituation
zeigen sollen, fällt das Posieren
beiden schwer. «Müller ist sehr
begabt, ihm brauche ich nicht viel
zu erklären», sagt Bangerter. Für
den Fotografen zeigt Bangerter
Müller aber dann doch noch einmal, wie man das Vogelhäuschen
zusammensetzen muss.
Müller ist eine Ausnahme.
«Meiner Meinung nach wurden
viele der Gefangenen, die hierherkommen, gar nie sozialisiert»,
sagt Hans-Rudolf Schwarz, Direktor der Anstalten Witzwil,
«nur die Minderheit hat vor
Strafantritt einen Lehrabschluss
und einen festen Arbeitsplatz gehabt.» Dementsprechend schaffen nur wenige nach der Entlassung den Sprung auf den freien
Arbeitsmarkt. Trotzdem sei
die Arbeit wichtig, sie gibt dem
Alltag in Gefangenschaft Struktur, den Gefangenen Erfolgserlebnisse.
Entwicklung durch Arbeit
Die Gefangenen müssen in Witzwil Tages- und Etappenziele erreichen. Diese beschränken sich
nicht auf die Arbeit, auch Körperhygiene, Ordnung in der Zelle
FLEISCH
BERNER ANSTALTSLÄDEN
Produkte aus den Gefängniswerkstätten
Witzwil ist eines von vier Strafund Massnahmenvollzugszentren im Kanton Bern. Wie
in Witzwil haben die Gefangenen
auch auf dem Thorberg, in St. Johannsen und in der Frauenstrafanstalt Hindelbank Arbeitspflicht. Ein Teil der Produkte,
die in Gefangenschaft produziert
werden, werden in den anstaltseigenen Läden verkauft.
Hans-Rudolf Schwarz, Direktor der Anstalt Witzwil, legt
aber Wert darauf, dass der Laden
nicht die Haupteinnahmequelle
ist. «Unser Kerngeschäft, neben dem Vollzug, ist der Landwirtschaftsbetrieb», sagt
Schwarz. Witzwil biete Fohlensömmerung an, produziere
Milch, Fleisch, Saatgut, Obst und
Gemüse. Zwei Drittel der Arbeitsplätze unterschieden sich nicht
von «draussen». An einem Drittel
Abschlussnote 4,9 beendet: «Als
einer der Besten habe ich abgeschlossen», erzählt er, «und dann
war ich in Bern an den Swiss
Skills, an den Berufs-SchweizerMeisterschaften. Das war letztes
Jahr, im Sommer.»
Beat Mathys
der Arbeitsplätze werde etwas
langsamer produziert. Die Verlangsamung komme auch daher,
dass knapp die Hälfte der Gefangenen Probleme mit Medikamenten, Alkohol oder anderen Drogen habe. Gefangene, die
in ihrer Arbeitsfähigkeit eingeschränkt sind, arbeiten im Werkatelier. Unterstützt von einigen
voll einsetzbaren Gefangenen
wie Xherdan Müller bearbeiten
sie dort Holz, dörren Früchte oder
stellen saisonale Dekorationen
her. Diese Produkte werden neben Fleisch, Früchten, Blumen,
Gemüse und Backwaren im
Anstaltsladen verkauft. kra
Verkaufsladen Anstalten Witzwil
Witzwilstrasse, 3236 Gampelen;
Montag bis Freitag: 8 bis 12 Uhr
und 13.30 bis 17 Uhr,
Samstag: 9.30 bis 12 Uhr.
Fleisch ist das gefragteste Produkt
im Witzwiler
Anstaltsladen.
Von der Kalbsbratwurst bis zu
Schweinsplätzli
oder Trockenfleisch gibt es
alles, was das
Karnivorenherz
begehrt. Eine
Spezialität ist die
Baumnuss-Salami. Sie ist mild,
aber würzig, erinnert von der Konsistenz her an eine Bauernwurst,
und die eingearbeiteten Nussstücke ergeben einen
angenehmen Biss. Das Fleisch
stammt von Tieren, die in Witzwil
in Freilandhaltung aufgezogen
und in der eigenen Metzgerei
geschlachtet werden. kra
oder ein freundlicher Umgangston können Ziele sein. Arbeitsagogik nennt sich das Konzept,
das durch Arbeit Fortschritte in
Selbstkompetenzen erzielen will.
Mit Körperhygiene und Umgangston hat Müller keine Probleme. Sein Ziel ist Weiterbildung.
2016 möchte er in Witzwil eine
Malerlehre beginnen, weil «Gipser und Maler zusammengehören». Müller zeichnet mit seinem
Bleistift Dreiecke auf ein Blatt
Papier.
Bei der Frage, warum er im Gefängnis ist, lacht er verlegen. Er
zögert. Nein, die Frage möchte er
nicht beantworten, meint er. Der
Prozess laufe seit vier Jahren,
und er habe mit dem Opfer zusammen versucht, die Strafe zu
mindern, sie seien zum Anwalt
gegangen. «Das Opfer war auch
schockiert über das Strafmass,
aber ja, man hat es einfach nicht
eingesehen. Also ich will nicht sagen, dass ich unschuldig bin, ich
bin schon schuldig zu sprechen,
das schon. Aber niemand hat mit
diesem Strafmass gerechnet,
auch mein Anwalt nicht.»
Müllers Zukunft ist ungewiss.
Noch ist eine Ausschaffung in
den Kosovo wahrscheinlich:
«Wir sind daran, gegen den Migrationsdienst Beschwerde einzulegen, und ja», er zögert, «also
mein Lehrbetrieb hat jetzt auch
einen Brief geschrieben, dass er,
also mein Lehrmeister, mich
nach der Entlassung sofort fest
anstellen würde.»
«Die Arbeit bedeutet mir viel»
«Müller sagte mir, er wolle einen
perfekten Vollzug hinlegen», erzählt Bangerter: «Dies ist aber
extrem anstrengend.» Zwischen
Hoffnung und Angst bietet die
Arbeit eine Konstante: «Die Arbeit hier bedeutet mir viel. Ab
und zu würde ich auch samstags
oder sonntags lieber arbeiten.
Weil, stundenlang Billiard spielen oder Tischfussball», Müller
zieht die Luft ein, «das ist auch
nicht so, na ja, also, die Zeit geht
schneller vorbei, wenn man am
Arbeiten ist.» Edith Krähenbühl
* Name von der Redaktion geändert
VEREDELTES OBST
GEMÜSE UND SETZLINGE
Auch wer eher dem Gemüse zuspricht oder eine Beilage zur
Kalbsbratwurst sucht, wird im
Laden fündig. Wie an einem
Marktstand wird im Anstaltsladen Gemüse und Salat angeboten, das Sortiment variiert je
nach Saison. In der dem Laden
angeschlossenen Gärtnerei werden zudem Setzlinge und Topfblumen verkauft. So kann man
selber entscheiden, ob man einfach Tomaten kaufen möchte
oder ob man sich gleich eine eigene Tomatenstaude zulegt. kra
HOLZARBEITEN
Arbeiten wie dieses Vogelhäuschen entstehen im Werkatelier,
in der Schreinerei oder in der geschlossenen Abteilung. Je nach
Saison stellen die Gefangenen
Gebrauchs- und Dekorationsgegenstände her, die dann im Laden verkauft werden. Vor Ostern
werden Osterhasen produziert,
vor Weihnachten Schneemänner aus Holz. Dekogegenstände
kommen auch aus der Gärtnerei,
so gibt es zum Beispiel Holzkränze mit Herzchen und Blumen zum Valentinstag. kra
Witzwil hat eigene Obstplantagen. Das Obst wird nicht nur
frisch verkauft, sondern zu einem
Teil auch weiterverarbeitet. Ein
Produkt, welches erst nach der
Verarbeitung im Laden landet,
sind die gedörrten Apfelringe.
Sie sind mit und ohne Schokoladenüberzug erhältlich. Ebenfalls
im Angebot sind Süssmost, Sirup, Konfitüren und Nüsse, aber
auch Gemüsechips. Auch diese
Produkte werden von den Gefangenen in der Küche des Werkateliers hergestellt und verpackt. kra
Bilder
Beat Mathys (3),
Fotolia (1)