TTIP: europäische und deutsche Sicht

TTIP: europäische und deutsche Sicht
Prof. Dr. Bodo Risch
Vortragsreihe Open Campus
Tuttlingen, 10. Dezember 2015
Warum TTIP? Und warum nicht?
Traum:
Integration der weltweit größten Wirtschaftsregionen,
Marktpotential realisieren, Wettbewerbsfähigkeit
steigern
► Chance Handel | Wirtschaft
Trauma:
Chlorhühnchen, Gentechnik, Gefährdung der
„kommunalen Daseinsvorsorge“, Aufgabe von
Souveränität durch ISDS
► Risiko Schaden für Zivilgesellschaft | Demokratie
Warum TTIP?
Zerfallende Rechtsordnung der Welthandelsorganisation (WTO), faktisches Scheitern der Doha-Runde
Aufstieg Asiens/Chinas (APEC): Was ist der
„Goldstandard“ der internationalen Handelsordnung?
Neue Dringlichkeit nach TPP-Unterzeichnung
(5.10.2015)?
Inzwischen über 600 bilaterale Handelsabkommen,
Ziel: größere „regulatorische Kohärenz“ auf dem
Weltmarkt, Bürokratieaufwand eindämmen:
Mittelstand „dreht am Rad“
Warum TTIP?
Gewinne aus der Marktöffnung: Spezialisierung,
Kosteneinsparung, Wettbewerb und Innovationen
durch Ausweitung des Marktgebietes. Vorteile beim
Mittelstand durch Abbau von Barrieren.
TTIP als (zu?) ehrgeiziges Vorhaben mit
hochgesteckten Zielen
31,7 %
22,5 %
Beitrag der einzelnen
Länder und der
Europäischen Union
zum globalen
Wirtschaftswachstum,
2012 bis 2030
17,3 %
7,3 %
5,1 %
Quelle: Prognos AG, Wirtschaftsstandort NRW 2030, 2014, S. 6
© IHK Nord-Westfalen 2010
Einschätzung der Unternehmen
Quelle: DIHK, Going International 2014
Einschätzung der Unternehmen
Quelle: DIHK, Going International 2014
Zolläquivalente nicht-tarifärer
Handelshemmnisse
Quelle: iw, PolicyPaper TTIP 2014
Warenhandel
Deutschland –
USA 2013
Quelle: iw, PolicyPaper TTIP, 2014
Handelsszenarien von TTIP
Exporteur
Importeur
Handelsvolumen
2010
(in Mio. USDollar)
Liberalisierungsszenario
(Entwicklung der
Handelsströme in %)
Zollszenario
(Entwicklung der
Handelsströme in
%)
Deutschland
USA
83.553
93,54
1,13
USA
Deutschland
51.645
93,56
1,65
Deutschland
Großbritannien
72.052
-40,91
-0,70
Großbritannien
Deutschland
43.583
-40,93
-0,57
Deutschland
Frankreich
109.223
-23,34
-0,38
Frankreich
Deutschland
76.518
-23,34
-0,24
Deutschland
Italien
74.245
-29,45
-0,37
Italien
Deutschland
52.687
-29,45
-0,55
Deutschland
Japan
17.487
4,81
2,40
Japan
Deutschland
24.891
4,76
-1,68
Deutschland
China
67.728
-12,68
2,19
China
Deutschland
92.536
-12,71
-2,91
Deutschland
Brasilien
17.951
-7,58
2,41
Brasilien
Deutschland
8.844
-7,92
-3,67
Quelle: BertelsmannStiftung, Wem nutzt ein transatlantisches Freihandelsabkommen? 2013
Land
Geschaffene
Arbeitsplätze
Liberalisierungsszenario
Zollszenario
Australien
-52.000
-14.000
Deutschland
181.000
45.000
Frankreich
122.000
30.000
Griechenland
34.000
9.000
Italien
141.000
36.000
Japan
-72.000
-19.000
Kanada
-102.000
-26.000
Polen
93.000
23.000
Portugal
43.000
11.000
Spanien
143.000
36.000
Südkorea
-30.000
-8.000
Tschechien
22.000
6.000
Türkei
-95.000
-25.000
1.086.000
277.000
400.000
106.000
2.043.000
519.000
Vereinigte Staaten
Vereinigtes Königreich
In der OECD geschaffene
Arbeitsplätze
Quelle: BertelsmannStiftung 2013
Erwartungen der Wissenschaft
Positive Auswirkungen einer umfassenden
Liberalisierung nach den Simulationsrechnungen:
Ifo: BIP/Ew. in D +5%, bis zu 160.000 Arbeitsplätze
netto (NRW: +20.000)
CEPR: EU-BIP bis +120 Mrd. Euro (0,5 Prozent höher
in 2027), Plus beim verfügbaren Einkommen eines
Vier-Personen-Haushalts: 545 Euro
Lange Frist (>10 Jahre) und ambitioniertes Szenario
Simulationen schwierig bei „Strukturbruch“ durch TTIP,
tatsächlicher Vertrag noch unklar
Zwischenfazit
Handelsstruktur DE/US intra-industriell geprägt
Unternehmen sehen erhebliche Handelshürden, vor
allem bei „nicht-tarifären Hemmnissen“ (NTBs).
Auf Zolläquivalente umgerechnete Belastungen sind
um den Faktor 10 bis 20 höher als die Wertzölle.
Ein umfassendes Abkommen bringt deutlich mehr als
eine konzertierte Zollsenkung („lohnt kaum den
Aufwand“).
Es gibt handelsumlenkende Effekte zulasten von
Drittstaaten, u.U. mit struktureller Arbeitslosigkeit.
TTIP – worum geht es im Einzelnen?
Marktzugang:
► möglichst umfassender Zollabbau,
► Annäherung bei Ursprungsregeln,
► Handelspolitik (Dialog über AntidumpingMaßnahmen unter Wahrung der WTO-Regeln)
► Öffnung von Dienstleistungsmärkten (zumindest auf
dem Niveau anderer Handelsabkommen, Verkehr,
Anerkennung von Berufsqualifikationen (zuerst
Architekten) ► Inländergleichbehandlung als Ziel;
audiovisuelle Medien ausgenommen)
TTIP – worum geht es im Einzelnen?
Marktzugang:
► Vergabe öffentlicher Aufträge (NichtDiskriminierung, Buy-American-Klauseln, pflichtige
inländische Fertigungsanteile)
► Investitionen (möglichst hohes Liberalisierungs- und
Investitionsschutzniveau, billige und angemessene
Gleichbehandlung im Wettbewerb, Schutz vor
Enteignungen, Streitbeilegung einschl. Regelungen
gegen Missbrauch)
TTIP Eckpunkte
Marktintegration und Regulierung:
► Kompatibilität von ausgewählten Regulierungen
(Chemie, Kfz, IKT, Pharma, Medizingeräte,
Elektromobilität)
► Regulierungskonvergenz im Bereich
Finanzdienstleistungen (Kooperation in der Aufsicht)
► Keine rückwärtsgewandte Harmonisierung, sondern
Rahmengrundsätze für „lebendes Abkommen“ mit
geringeren Hürden in der Zukunft.
TTIP Eckpunkte
Nebenbedingungen:
► Beitrag zur nachhaltigen Entwicklung
► Hohes Umwelt-, Arbeits- und
Verbraucherschutzniveau im Einklang mit EU-Recht
und Vorschriften der Mitgliedstaaten
► Hohe Qualität der öffentlichen Daseinsvorsorge
(Ausnahmen für „public utilities“, Akkreditierung Unis,
Universaldienstpflichten Post)
Einzelheiten: KOM, Directives for the Negotiations on
the Transatlantic Trade and Investment PartnershipL,
Brussels, June 17, 2013.
Verhandlungsinteressen
Deutschland: EU ist Verhandlungspartner! Regierung
pro, aber Parteienbasis? Gegenwind von Linken,
Grünen und aus der deutschnationalen Ecke, BTPräsident Lammert droht mit Ablehnung (Transparenz)
Öffentlich-rechtlicher Rundfunk: anti zur eigenen
Existenzsicherung (netflix)
Südeuropäische Länder (ES, PT): stark pro wg.
spanischer US-Bürger
Osteuropäische Länder (PL, CZ, SK, balt. Staaten):
stark pro für bessere Handelskonditionen
USA: Administration dafür, aber Kongress eher
abwartend, TPP Priorität
Bewertung von TTIP im Überblick
Pro
Contra
Mittelstandsfreundlich
Geringe Impulse für Wachstum, kaum
messbar
Kostensenkend
Arbeitsplatzverluste in Teilbereichen
Beschäftigungsfördernd,
wachstumssteigernd,
Absenkung von Standards:
Gesundheit, Umwelt, Soziales
Mächtiger Wirtschaftsblock (50 Prozent der
Weltwirtschaft)
Beschränkung staatlicher Souveränität
(ISDS)
Gemeinsame Standards ► Weltstandards
(vor allem nach TPP-Unterzeichnung)
Gefahren für die „Daseinsvorsorge“
Intransparente Verhandlungen
Öffentliche Ausschreibungen,
Daseinsvorsorge
Problem: Marktzugangsverpflichtung für Kommunen in
nicht-liberalisierten Bereichen (Wasser, Abwasser,
ÖPNV, Abfall, KulturL), Untersagung lokaler Monopole
etwa in der Energieversorgung durch TTIP?
Wunsch der Kommunen: abschließende Positivliste für
den Marktzugang
Aber EU-Mandat eindeutig: Services supplied in the
exercise of governmental authority as defined by
Article 1.3 GATS shall be excluded (Punkt 20, S. 7).
Öffentliche Ausschreibungen,
Daseinsvorsorge
Definition: schwammig, aber mit klarer Richtung
Öffentliche Ausschreibungen,
Daseinsvorsorge
Komm. Daseinsvorsorge – zulässige Abwehr:
Ad-hoc-Maßnahmen zum Schutz öffentlicher
Interessen (Gesundheit, Abfall, Wasser –
Verhältnismäßigkeit ist zu beachten)
GATS-Ausschluss vom Marktzugang bei Monopolen
oder Ausschließlichkeitsrechten, nach Maßgabe der
EU-Mitgliedstaaten
Direkte Vertragsausnahmen in Anhang II
(Benennung nach Brüssel in Verantwortung der
Bundesregierung)
Öffentliche Ausschreibungen,
Daseinsvorsorge
Ausnahmen („Vorbehalte“) am Beispiel von CETA
(Anhang II, S. 1572 ff.): u.a. Abfallwirtschaft,
Erwachsenenbildung (VHS), Arbeitsvermittlung,
Bibliotheken, Zirkusse, Bestattungswesen (!).
Ansonsten: Gründung eines Tochterunternehmens in
der EU. Es geht um „no less favourable treatment“
ausländischer Anbieter (KOM, Punkt 24, S. 10).
Schon heute faktisch kein Ausschluss amerikanischer
Wettbewerber!
Bewertung und kritische Einzelpunkte
Verbraucherschutz („Chlorhühnchen“):
Klares EU-Mandat (Punkt 8, S. 4): Respekt vor den
nationalen Regelungen und hohes Niveau des
Verbraucherschutzes im Einklang mit den EU-Aquis
und der Gesetzgebung der Mitgliedstaaten.
Bewertung und kritische Einzelpunkte
► Chlorbehandlung nicht nachweislich schädlich
(Chemie vs. Keime), aber Antibiotika?
► Chlor zugelassen für abgepackten Salat (in einigen
EU-Staaten erlaubt)
► WTO-Verfahren gegen Importverbot
► Kennzeichnungspflicht ausreichend?
Aktueller Hauptstreitpunkt:
Investorenschutz (ISDS)
Deutschland: 132 Abkommen ohne merkliche
Probleme
Weltweiter „Goldstandard“ auch hier: nicht bilateral,
sondern auch an China, Indien etc. denken!
Völkerrecht bietet keinen Diskriminierungsschutz für
juristische Personen (auch nicht in der EU)
Deutsche Direktinvestitionen im Ausland (netto): 903
Mrd. Euro, darunter USA (152) und China (47)
Aktueller Hauptstreitpunkt:
Investorenschutz (ISDS)
Allerdings:
Wandel im Verhalten internationaler Konzerne?
2012/13: 114 neue Klagen (UNCTAD), zuvor weniger
als zehn; Rolle amerikanischer „law factories“
Spektakuläre jüngste Streitfälle:
► Philip Morris gegen australisches „Plain Packaging“
auf Zigarettenpackungen
► Vattenfall gegen deutsche Energiewende (3,7 Mrd.
Euro Schadenersatz von Bundesrep. Deutschland)
Aktueller Hauptstreitpunkt:
Investorenschutz (ISDS)
Dilemma beim Investorenschutz:
Eigentumsrechte sichern vs. nationale Regelungshoheit
Transparenz erhöhen
Missbrauch erschweren
„Modernisierter“ ISDS vs. internationaler
Investitionsgerichtshof – Fortentwicklung der
Schiedsverfahren oder stehendes Gericht?
Aktueller Hauptstreitpunkt:
Investorenschutz (ISDS)
Internationaler Investitionsgerichtshof
Neuer Vorschlag der EU (16.09.2015): wünschenswert,
aber Haltung USA?
Öffentlich-rechtliches Gericht erster Instanz (15 Richter)
und eine Berufungsinstanz (6 Richter)
Keine Mehrfach- oder Parallelklagen
Regelungshoheit der Staaten mit eigener Vertragsnorm
gesichert
Klar umrissene Klagemöglichkeiten (5 Rechtsgarantien)
Aktueller Hauptstreitpunkt:
Investorenschutz (ISDS)
Rechtsgarantien
Keine Enteignung ohne Entschädigung
Möglichkeit zum Transfer von Mitteln im
Zusammenhang mit Investitionen
Gerechte und billige Behandlung im Gaststaat
Einhaltung gegebener schriftlicher/vertraglicher
Zusagen gegenüber Investoren
Entschädigung für Verluste unter bestimmten
Umständen (bewaffnete Auseinandersetzungen)
-aber warum ist das alles so schwieg?
Eingriff in nationale Regelungen und Standards, nicht
nur „Zölle“ ► schützenswerte Güter, nationale
Entscheidungshoheit!
Misstrauen in Verhandlungspartner USA
Unübersichtliche Verhandlungsmaterie, „trade speak“
Bilaterale Sicht Deutschland | EU – USA, aber TPP?
Widersprüchliche Einschätzungen aus der
Wissenschaft (► Hermann Lübbes „Moratoriumsnein“)
Kontrafaktische Einschätzung von „Freihandel“ in der
Öffentlichkeit