Uwe Durst: Theorie der phantastischen Literatur. 2. aktualisierte, korrigierte und erweiterte Aufl. Berlin: LitVerlag 2010. (Zusammenfassung) Uwe Dursts Theorie der phantastischen Literatur von 2010 setzt sich zum Ziel, die ’Unsauberkeiten’ zu eliminieren, die in Todorovs Einführung der reinen strukturalistischen Methode widersprechen; sein Ansatz will der „Eigengesetzlichkeit der Literatur konsequent Rechnung“ (S. 92) tragen. Das Bezugssystem für das Fantastische sucht er folglich weder „im außerfiktionalen Wirklichkeitsempfinden des Lesers“ (S. 101), noch „im externen naturwissenschaftlichen Weltbild“ (S. 102), sondern nur in der Abweichung von innerliterarischen Konventionen. Denn Durst unterscheidet prinzipiell „zwischen fiktionsexterner Wirklichkeit und fiktionsinterner Realität“ (S. 69) und ersetzt den außerliterarischen Begriff der Wirklichkeit durch den innerliterarischen Begriff des Realitätssystems, worunter er „die Organisation der Gesetze“ versteht, „die innerhalb einer fiktiven Welt gelten“ (S. 93). Er unterscheidet zwei Realitätssysteme: das Reguläre oder Realistische und das Wunderbare (S. 101). Für Durst ist das Phantastische ein Nichtsystem (N), das sich aus der innertextuellen Konkurrenz einer „Normrealität (reguläres System R) und einer Abweichungsrealität (wunderbares System W)“ (S. 103) ergibt, „wobei im Phantastischen beide Kontrahenten über die erzählte Welt desselben Textes gebieten und einen Kampf um die alleinige Herrschaft führen, die weder der eine noch der andere erringt“ (S. 101). Ein Vorzug des Modells ist das „narrative Spektrum“, das es aufstellt und auf dem sich das Hin und Her eines Textes, seine „Sprünge“ zwischen den Systemen adäquat nachzeichnen lassen: Es verläuft als Linie zwischen den Positionen R und W, wobei das Phantastische (N) genau in der Mitte liegt, wo sich die beiden Systeme R und W überlagern: N R ←----------------------|------------------------→ W (S. 103) R = reguläres System, Normrealität W = wunderbares System, Abweichungsrealität N = Nichtsystem, das Phantastische Der Realismusbegriff, der hier unterlegt wird, ist ein rein formaler, denn Durst geht von der prinzipiellen ’Wunderbarkeit’ aller Literatur aus, die im Realismus durch Konvention entschärft und daher gar nicht mehr wahrgenommen werde. Als Realismus definiert er die Strategie eines Textes, seinen Konstruktionscharakter zu verleugnen, die eigene Gemachtheit in Abrede zu stellen. Ein Hinweis auf die zahllosen ’Wunderbarkeiten’ realistischer Literatur seien z.B. die übernatürlichen Fähigkeiten des gottähnlichen auktorialen Erzählers (S. 80). Für Durst ist daher nicht das Wunderbare das Nicht-Realistische, sondern umgekehrt: das Realistische ist das NichtWunderbare. Deswegen geht er in seiner Untersuchung vom Wunderbaren aus, das er als entblößte sequentielle Lücke definiert. Eine Sequenz ist nach Roland Barthes1 „eine logische Folge“ von „kleinsten Erzähleinheiten“, die Kerne (oder auch Kardinalfunktionen) genannt werden und „eine für den Fortgang der Geschichte folgentragende Alternative eröffne[n]“ (zit. nach S. 239). Beispiel: Das Telefon klingelt, es gibt zwei Möglichkeiten: Entweder man hebt ab oder nicht, wodurch die Geschichte in zwei verschiedene Richtungen vorangetrieben werden kann. Zwischen den Kernen befinden sich Katalysen (auch Satelliten genannt), die die Räume zwischen den Kernen ausfüllen, ohne jedoch für den Fortgang der Handlung konstitutiv zu sein, hier z.B.: Das Telefon klingelt (Kern), der Held läuft zum Apparat (Satellit), hebt den Hörer ab (Kern). Das Wunderbare entsteht nun nach Durst, der hier Zimmermann2 folgt, dadurch, dass ein Glied der Sequenz ausgelassen wird. Bei unserem Beispiel: Der Hörer hebt sich hoch, ohne dass sich jemand zu ihm hinbewegt und ihn abhebt. Oder man hebt ab und spricht mit dem Anrufer, ohne dass es geklingelt hat. Genauso ist z.B. die Sequenz „Gespenst, das durch eine geschlossene Tür geht“, um das erste und das dritte Glied der Reihenfolge „Tür öffnen“, „hindurchtreten“, „Tür schließen“ verkürzt (S. 243). Oder Dorian Grays Jugend bleibt erhalten, weil in der Sequenz „Lebenszyklus“ die Glieder „altern“ und „sterben“ ausgelassen werden (S. 246). 1 Roland Barthes: Einführung in die strukturale Analyse von Erzählungen [1966] Hans Dieter Zimmermann: Trivialliteratur. Schema-Literatur? Entstehung, Formen, Bewertung, 2. Aufl. Stuttgart u.a. 1982. 2 Natürlich sind nicht alle sequenzielle Lücken wunderbar, ganz im Gegenteil: solche Lücken treten auch in der nicht-wunderbaren, realistischen Literatur in Hülle und Fülle auf (z.B. zeitliche Ellipsen oder Verkürzung von Wegstrukturen etc.), da ja nicht alles erzählt werden kann (S. 261). Aber an der Serie Getränk lässt sich zeigen, was eine reguläre von einer wunderbaren Sequenzlücke unterscheidet. Wenn das letzte Glied der Sequenz „ein Getränk bestellen, erhalten, trinken, bezahlen“ weggelassen wird, kommt „nichts Wunderbares zustande, sondern nur eine neue Realismuskompatible Sequenz namens Zechprellerei“ (S. 253). Beim Wunderbaren dagegen entsteht keine andere reguläre Sequenz. Beispiel: Ein Held nimmt eine Zigarette aus der Schachtel und merkt, dass es dabei nicht raschelt. Nichts, was er mit dieser Schachtel macht, erzeugt ein Geräusch. Dadurch wird gleichzeitig das Verhältnis zwischen Kardinalfunktion und Katalyse verändert. Denn das Fehlen des Geräusches macht aus der Katalyse (da ja eine raschelnde Verpackung normalerweise „keinen Alternativpunkt der Erzählung darstellt“) einen Kern, insofern die Handlung dadurch in eine neue Richtung getrieben wird (S. 262). Durst kommt zu dem Schluss: Das skandalöse wunderbare Ereignis ist mithin nicht eine bloße, sondern eine entblößte Sequenzlücke, die durch ihre Betonung zum Thema wird (S. 261) […] Die Differenz zwischen realistischen und wunderbaren sequentiellen Lücken liegt im Grad ihrer Bloßgelegtheit. (S. 264) Und was ist ein fantastisches Ereignis? Eine entblößte Lücke, die in keines der beiden Systeme integriert werden kann, deswegen bezeichnet Durst das Fantastische als Nichtsystem und platziert es genau in der Mitte der Spektrallinie. Wenn sich der Telefonhörer von allein hebt, befinden wir uns im wunderbaren System. Wenn der Held ihn abhebt, im regulären. Aber wenn man ein Ereignis keinem der beiden Systeme zuordnen kann, befinden wir uns im Nichtsystem des Fantastischen. Denn nicht nur bleibt die Lücke erkennbar, sondern sie wehrt sich gegen jede - reguläre oder wunderbare - Kohärenzstiftung. Als Beispiel bringt Durst folgende Passage aus E.T.A. Hoffmanns Sandmann: Der Vater öffnete die Flügeltür eines Wandschranks; aber ich sah, daß das, was ich so lange dafür gehalten, kein Wandschrank, sondern vielmehr eine schwarze Höhlung war, in der ein kleiner Herd stand. Coppelius trat hinzu, und eine blaue Flamme knisterte auf dem Herde empor. (Zit. nach S. 248, Hervorh. O.L.) Hier werden gleich zwei Sequenzen verkürzt und kombiniert, nämlich die Sequenz „Anzünden der Flamme auf einem Herd“ und die Sequenz „Ortswechsel“, so dass das Hinzutreten des Coppelius die Entfachung der Flamme zur Folge zu haben scheint. Durst resümiert: „Der fantastische Effekt […] beruht auf der Unsicherheit, ob es sich um eine reguläre oder wunderbare Sequenzlücke handelt.“ (S. 263) Anders formuliert: Handelt es sich um eine (reguläre) Ellipse (Auslassung) oder um eine vollständige (also: wunderbare) neue Sequenz? Sobald eine eindeutige Antwort darauf möglich ist, sobald also der Text die besondere Position des Nichtsystems verlässt und die erzählte Welt in die Kohärenz eines R- oder W-Systems überführt, wird das Phantastische unweigerlich aufgehoben. Das Phantastische entsteht somit, im Gegensatz zum Wunderbaren und Realistischen, niemals aufgrund eigener Definitionen, sondern stets aus dem Auf- und Abbau der anderen beiden Systeme.
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