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Zur Rezeptions-Geschichte von „Berlin Alexanderplatz“
1. Anonymer Leserbrief nach der ersten Veröffentlichung in der „Frankfurter Zeitung“ (1929)
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Ein anonymer Leserbrief vom 12. Okt. 1929:
Dieser Brief ist die Meinungsäußerung weiter Kreise der Leserschaft Ihres Blattes, die Sie als geistigen Leiter der
‘Frankfurter Zeitung’ gewiss interessiert. Der Roman in den Spalten Ihres Feuilletons ist zu Ende, dem Himmel sei
Dank! - Franz Biberkopf ist Hilfsportier geworden, und wir wünschen ihm alle einen friedlichen Lebensabend. Ein
tiefes, befreites Aufatmen geht durch die Reihen Ihrer Leser, denn wir haben begründete Hoffnung, dass ein noch
tieferes Herabsteigen in den Schmutz des Lebens nicht möglich ist und uns daher in
Zukunft erspart bleibt. (...) Wenn es Döblin Spaß macht, sich im Kot zu wälzen, so mag
er es tun, und alle, die daran Interesse haben, mögen sich das Buch kaufen, gut. Aber
warum zwingen Sie Ihre Leser, jeden Morgen mit Tagesanfang durch diesen Dreck zu
waten,
in diese niedrigsten NiederungenCopyright
der menschlichen
Gesellschaft zu steigen, dass
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einem der Ekel aufstieg. Man weiß zur Genüge, dass es diese Schichten gibt, in den
Habsucht und Trunksucht, Neid, Verlogenheit, Gemeinheit, Gewissenlosigkeit, Roheit
bis zum kaltblütig begangenen Mord an der Tagesordnung sind - warum aber müssen
wir es jeden Morgen aufs Butterbrot gestrichen bekommen? (...)
In: Frankfurter Zeitung 74, 1929, Nr. 793, vom 24.10.1929
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2. Klaus Neukrantz: ‘Berlin Alexanderplatz’ (1929)
(...) Warum nur soviel Aufregung um dieses neue Buch von Alfred Döblin! Dieser zugegeben selten geschickte
Autor - wäre das Schreiben ein Handwerk wie Kuchenbacken, er bekäme ein Innungsdiplom - hat unglaublich mit
einem Titel provoziert. Tatsächlich aber hat das Buch weder mit Berlin noch mit dem Alexanderplatz auch nur das
Geringste zu tun. Kaschemmen gibt es nicht nur in der Münzstraße, und das Zuhälter- und Prostituiertenmilieu sieht
in allen Spelunken der Welt genau so aus.
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Der Autor
hat eine Romanfigur erfunden,
Franz Biberkopf,
der aus dem Gefängnis kommt
und im
Kampf gegen sein
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„Schicksal“ sich bemüht, ein „anständiger“ Mensch zu werden. Was nach des Autors Vorstellung ein „anständiger“
Mensch ist, wird nicht gesagt. Dem
Autor kommt es auch in diesem Buch auf etwas ganz anderes an. Und an diesem entscheidenden Punkt - dem Willen
des Verfassers - wollen wir ansetzen.
Döblin hat in diesem Buch seiner offen erklärten Feindschaft gegen den organisierten Klassenkampf des Proletariats
unverhüllten Ausdruck gegeben. Soweit überhaupt bei ihm von politisierenden Arbeitern die Rede ist, sprechen sie
nicht die Sprache des klassenbewussten Arbeiters, sondern einen Kaschemmenjargon. Döblin macht den bewussten
Versuch, den Typus des Arbeiters unserer Zeit, der durch die politischen und ökonomischen Auseinandersetzungen
mit dem Kapital zu einer ausgeprägten
scharf
umrissenen Gestalt geformt Copyright
wurde, mit
einem Zynismus
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sondergleichen zu verhöhnen und lächerlich zu machen. Er stellt diesem Massentypus, der das politische und
kulturelle Problem der gegenwärtigen Epoche darstellt, einen erfundenen, mystischen, unaufgeklärten Franz
Biberkopf, den „guten Menschen“, gegenüber und isoliert ihn bewusst von den Klassenkampfaufgaben des
Proletariats.
Klaus Neukrantz, „Berlin Alexanderplatz“ In: Die Linkskurve I, 1929, Nr. 5, vom Dezember 1929, S. 30 f.
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3. Herbert Ihering: Döblins Heimkehr (1929)
(...) „Berlin Alexanderplatz, die Geschichte vom Franz Biberkopf“ - (...) Es ist das Thema von „Mann ist Mann“ in
der Sphäre eines berlinischen „Dreigroschenepos“.
Zuhälter und Zeitungshändler, Einbrecher und Heilsarmee, kleine
Ehrenmänner
und große Gauner, Copyright
Kneipen www.park-koerner.de
und Kaschemmen,
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Untergrundbau und Reklameschilder, Schlager und Bibelstellen, alles
ordnet sich zu einem funkelnden, zuckenden Bildstreifen, zu dem
Wortfilm „Berlin Alexanderplatz“. Ein Menschentausend wird von
Döblin zusammengekehrt und in Bewegung gesetzt. In die Geschichte
von Franz Biberkopf schneidet Döblin Daten und Zeitungsfetzen,
Nachrichten und Gerüchte, Wirklichkeiten und Warnungen, geistige
Leitmotive und heimliche Ängste. Alles, was unterhalb des Bewusstseins
bleibt, alles, was von außen das Bewusstsein kaum ritzt, alles ist für
Döblin wichtig, um den ungleichen Kampf der Kräfte abzustecken. Eine
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Piscatoraufführung
als Roman.
Was soll man mehr bewundern? Die Fülle oder die Form? Den Reichtum
oder die Strenge? Die Drastik oder die Zartheit? Die Konsequenz oder
den Humor? Denn das ist das Wunderbare: die Leichtigkeit, mit der hier
eine berlinische Welt hingestellt und erzählt wird. Die zauberische
Grazie, in die hier der Berliner Dialekt eingeht. Die Bereicherung, die
die Sprache durch den berlinischen Slang erfährt, Döblin ist
heimgekehrt: in seine Welt, in seine Wirklichkeit, in seiner Form.
Nur dem Ende fehlt die geistige Überzeugungskraft. Döblin zieht
gewissermaßen
aus einer medizinischen
Heilung
eine intellektuelle
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Schlussfolgerung. Biberkopf steht nicht mehr allein. Aber wie? Das wird
nur angedeutet. Das hat nur Klang. Das hat noch keinen
weltanschaulichen oder politischen Unterbau. Es ist die einzige Partie,
die sich auf das Wort verlässt, die nicht beweist, sondern Glauben verlangt. Sonst - „Berlin Alexanderplatz“
bereichert den deutschen Roman um einen ungewohnten Inhalt und eine ungewohnte Form. Mehr noch: er führt den
Roman durch tausendfältige Spiegelungen und Brechungen der Gedanken und der Darstellung über sich selbst
hinaus zum Epos, zur Odyssee durch das Berlin von 1928.
Herbert Ihering, Döblins Heimkehr, Berlin Alexanderplatz. In: Berliner Börsencourier vom 19.12.1929
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4. Hörspielversion mit Heinrich George (1930):
Gesendet am 30.9.1930 in der Berliner Funkstunde. Titel: „Die Geschichte vom Franz Biberkopf“. Episodenhörspiel
zu Biberkopfs Leben mit einem Kontrapunkt in der Sprecherstimme des Todes, der als Ausrufer und Warner in der
Tradition der Jedermann-Dramen auftritt.
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5. Filmfassung mit Heinrich George (1931):
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Regie: Piel Jutzi, Biberkopf: Heinrich George. Wie im Hörspiel reine Betonung des
Episodischen und der Aktionen um die Hauptfigur.
Zeitgenössische Kritik von Herbert Ihering zum Film: „Berlin Alexanderplatz kann
dieser Film kaum heißen, Eher, nach der Hauptrolle, Franz Biberkopf. Er ist, wenn man
das Niveau der Tonfilmproduktion bedenkt, ein wertvoller Film. Er ist, wenn man die
Möglichkeiten des Stoffes und des Themas betrachtet, bedenklich (...) Ein Wagnis glückt
nur, wenn es zu Ende gewagt wird. Halbheiten schädigen - auch den Erfolg. In Döblins
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Roman ist die Filmform vorgezeichnet. Er war, übertrieben gesagt, ein geschriebener
Film.“
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6. Walter Muschg über „Berlin Alexanderplatz“ (1961):
(...) Döblin wählte den Alexanderplatz in Berlin Ost, weil er sich da auskannte wie kein Zweiter, es war die Gegend,
wo er als Kassenarzt lebte. Diese Wahl war ein Glücksfall, nie wieder trafen bei ihm künstlerische Absicht, Stoff und
persönliches Erleben so zusammen. Er kehrte aus den visionären Fantasiewelten seiner vorausgehenden Werke in die
Gegenwart seines eigenen Daseins zurück. Auch sein inneres Ringen als Jude um eine Heimat trug dazu bei, dass es
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ihm möglich
war, seinen Berliner Roman nach langer Wartezeit auf geniale Weise wahrzumachen. Um es zu können,
musste er seine Kunstmittel noch einmal steigern und erweitern. Er erzählt alles im Präsens und lässt es in der
unmittelbaren Gegenwart des Jahres 1928 spielen, der epische Bericht geht immer wieder in dramatischen Dialog
über und lässt auch der Lyrik Raum, verbindet also die drei literarischen Gattungen, dazu wechselt der Standort des
Erzählers fortwährend. Dieser unruhige Wechsel, die Auflösung in Kurzszenen,
deren sprunghafte Abfolge und das gleitende Blickfeld innerhalb der Szenen
sind unverkennbar durch den Film beeinflusst, der in den zwanziger Jahren
Europa eroberte. Die chaotische Flut schlägt also auch über der Romanform
zusammen. Die fremdartige Schönheit des „Wang-lun“ und des „Manas“ geht in
einem
Meer von Gemeinheit und Banalität
unter. Eine
nihilistische Vergötterung
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der rohen Kraft und Gier scheint hinter diesem Werk zu stehen.
Es hat auch im Grund keinen Helden. Der Prolet Franz Biberkopf bedeutet mit
seiner primitiven Mörderexistenz die Verneinung des Menschenbildes, das
bisher vom europäischen Roman vorausgesetzt wurde. Döblin schrieb nicht nur
einen Proletarier-, sondern einen Verbrecherroman, seine am meisten
bewunderten Kapitel spielen in der Berliner Unterwelt, deren Luft sie unerhört
echt erfüllt. Darin berührt er sich mit Brecht/Weills „Dreigroschenoper“, deren
Berliner Uraufführung am 31. August 1928, also während der Niederschrift des
Romans, stattfand. Die beiden Werke sind in der Gesellschaftskritik und der
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künstlerischen
Haltung miteinander verwandt.
In beiden entlud sich die bereits
schwüle Atmosphäre Deutschlands, beide wurden als revolutionär empfunden,
obschon sie nur indirekte Opposition trieben und in ihrer politischen Linie stark
voneinander abwichen. Zwar stellt auch Döblin die Einbrecherkolonne als
kapitalistisches Unternehmen dar, aber ohne satirische Spitze. Er war in seiner Jugend aktiver Sozialist gewesen,
hatte aber die Partei aus Protest gegen ihre Bonzenwirtschaft verlassen und nach der Revolution von 1918/19
vernichtende Kritik an ihren Führern geübt. In letzter Stunde veröffentlichte er dann das Manifest „Wissen und
Verändern!“ (1931), in dem er alle freiheitlich gesinnten Deutschen aufrief, sich auf einen vom Marxismus befreiten
Sozialismus zu einigen, weil nur so die von
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rechts
und links drohende Gefahr abgewehrt
werden
könne. Seine Auffassung blitzt auch
in „Berlin
Alexanderplatz“
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hie und da auf. Aber wenn Biberkopf völkische Zeitungen verkauft, die Arbeiter in den Kneipen politisieren oder die
Sprache der Gerichte und der Bürokratie leicht parodistisch zitiert wird, sind das nur Farbflecken im Zeitgemälde,
wie die beiläufigen Hinweise auf die Wirtschaftskrise oder auf Biberkopfs Erlebnisse im Krieg. Döblin hatte den
Glauben an die politischen Parteien längst verloren, er schrieb keinen Zeitroman, sondern ein Gleichnis für den Weg
Deutschlands seit der Niederlage.
Das Bild Berlins entsteht durch Montage und Collage zahlloser zufälliger Wirklichkeitsfetzen. Ausschnitte aus
Börsenberichten, amtlichen Publikationen, Text- und Annoncenseiten von Zeitungen, Geschäftsreklamen,
Plakatwänden, Firmenprospekten, Briefen von Sträflingen, Schlachthausstatistiken, Lokalnachrichten,
Lexikonartikeln, Operettenschlagern, Gassenhauern
und Soldatenliedern, Wetterberichten,
Berliner BevölkerungsCopyright www.park-koerner.de
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und Gesundheitstabellen, Nachrichten über sensationelle Zeitereignisse, Polizeirapporten, Gerichtsverhandlungen,
behördliche Formulare untermalen die Handlung bis in die intimsten Gespräche, ja bis in das Unterbewusstsein der
Personen hinein. Ein Erzähler, der alles weiß und auch das Verborgene sieht, rafft ein unermessliches Material
zusammen. (...)
Walter Muschg, Alfred Döblins Roman „Berlin Alexanderplatz. Die Geschichte vom Franz Biberkopf“. In: Nachwort zur dtvAusgabe „Berlin Alexanderplatz“, München 1965. S. 417-419. - Zuerst: Walter-Verlag, Nördlingen 1961 -
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7. Marcel Reich-Ranicki über Döblin (1971):
(...) Denn er war nicht nur ein schnoddrig-kühner Visionär, sondern auch ein weltfremder Eiferer, nicht nur ein
bahnbrechender Künstler, sondern auch ein unverbesserlicher Dilettant, nicht nur ein genialer Schriftsteller, sondern
bisweilen auch ein kleinlicher Mensch und ein ganz großes Kind. Er war wandlungsfähig, aber auch launenhaft. Er
reagierte
auf seine Umwelt impulsiv Copyright
und sprunghaft,
immer ungeduldig und meist
hastigwww.park-koerner.de
und mitunter auch
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ungerecht und grausam.
Dabei gab er sich - wie Hermann Kesten berichtet - „nicht die geringste Mühe, um nicht böse zu erscheinen“. Seine
Verbohrtheit und Disziplinlosigkeit beeinträchtigten häufig die Ergebnisse seiner Neuerungssucht und seiner
rühmlichen Experimentierlust. Und nicht selten wurde seine Unrast von seiner Unvernunft übertroffen. So sind denn
Döblins Briefe oft scharfsinnig, bisweilen töricht, fast nie besonnen und immer aufschlussreich.
Mit Ausnahme von „Berlin Alexanderplatz“ - den Ruhm dieses Romans hielt er übrigens für ein absolutes
Missverständnis - blieben seine vielen Bücher fast ganz erfolglos. Die Schuld dafür suchte er natürlich bei allen, nur
nicht bei sich selber. Es sei - meinte er 1927 - „ein verdammtes und verfluchtes Los in Deutschland Literatur zu
treiben und nicht vor die Ullstein-Hunde zu gehen.“
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Ein vertrackter Querulant und ein leidenschaftlicher Krakeeler, wie er im Buche steht. Aber man müsste blind sein,
um nicht zu sehen, dass dieser einsame Jude, dieser skurrile Kämpfer, dieser streitsüchtige und bissige Prediger
zunächst und am meisten an sich selber gelitten hat: an seinem Naturell und Temperament, an seiner Hektik und
Fantasie und vor allem an seiner einzigartigen Reizbarkeit.
Hier und da fallen in den Briefen Gedanken auf, die marxistische Einflüsse erkennen lassen, doch gilt für Döblin,
was er selber 1942 geschrieben hat: „Der Marxismus und Materialismus lag mir nie, wenn auch die gesellschaftliche
Erneuerung, aber die taugt ohne gleichzeitige menschliche Erneuerung bekanntlich nix.“ Zur Sowjetunion, die ihn
nur kurz zu interessieren vermochte, meinte er 1930: „Dieser despotische friderizianische Staatskapitalismus, der den
Massen
nach alter Methode von außen auferlegt
wird,
hat aber nicht das Mindeste mitCopyright
Kommunismus
zu tun.“
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Allerdings empfiehlt es sich, Döblins Äußerungen in politischen Fragen nicht gerade auf die Goldwaage zu legen. Im
Grunde war ihm politisches Denken vollkommen fremd, im Mittelpunkt seines Lebens und Werks standen vielmehr auch wenn er es bisweilen für richtig hielt, dies zu tarnen - eindeutig religiöse Fragen. Er war ein gläubiger Anarchist
auf der unentwegten Suche nach einem Hafen. Zwar berief er sich gern auf die exakten Wissenschaften, doch war er
ein Mystiker und überdies ein Sittlichkeitsapostel, der sich oft mit kesser Diktion behelfen wollte.
Das Judentum hat ihn irritiert, der Katholizismus fasziniert - aber weder mit dem einen noch mit dem anderen hat es
sich Döblin je leicht gemacht.
(...)
Döblins vielfache Bemühungen, nach 1945 in Deutschland wieder heimisch zu werden, scheiterten, wie man weiß,
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gänzlich, aber es wäre ungerecht, nur seine Umwelt für diesen Fehlschlag verantwortlich zu machen. (...) Im Juni
1957 starb, verlassen und einsam, resigniert und verbittert und immer noch von materieller Not geplagt, der seltsame
und schwierige Mann, dem Deutschland einen der größten Romane dieses Jahrhunderts verdankt.
Marcel Reich-Ranicki, Über Döblins Briefe, in: DIE ZEIT, Nr. 1, 1971, 1. Jan. 1971, S. 20
8. Richard
Hey zum 100.
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Geburtstag
von Döblin
(1978):
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„Wer ist dieser Schriftsteller? Ein Meister deutscher Erzählung oder ein expressionistischer Schwärmer? Die
Fragezeichen müssen bleiben. Döblin war und ist in seinem Werk: Naturwissenschaftler und Mystiker, Jude und
antisemitischer Preuße, Kleinbürger und Anarchist - ein Realist der Überrealität.“
in: DIE ZEIT Nr. 33, 11. Aug. 1978
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9. Fernsehinszenierung (14 Folgen) von Rainer Werner Fassbinder mit Günter Lamprecht (1980):
Auch Fassbinder, zeitlebens ein glühender Verehrer Döblins, bietet in seinem Film keine äußere Stadtmontage, noch
viel weniger eine zeitgeschichtliche Rekonstruktion Berlins als Rahmen für die Geschichte Biberkopfs. Vom
Alexanderplatz sieht man nur die U-Bahn-Station, ein kahles, ödes Labyrinth. Seine Aufmerksamkeit gilt der
Geschichte, besser: den vielen kleinen Geschichten bzw. Handlungsfetzen innerhalb des Romans; in diesem Sinne
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hat erwww.park-koerner.de
einen Spielfilm gedreht. Aber er ist nicht, und das unterscheidet ihn von Jutzi, an dem Was, sondern an dem
Wie der Geschichte(n) interessiert. Das Wesentliche ‘ist ganz einfach’, schreibt er, ‘wie das ungeheuerlich Banale
und Unglaubwürdige an Handlung erzählt wird’. In dem Wie des Erzählens glaubt er die verborgenen Geschichten
und Schichten der Döblinschen Romanfiguren entdecken zu können. Diese versucht er in Bilder zu setzen. Sein Film
bleibt vor der äußeren Erscheinungswirklichkeit der Figuren nicht stehen, sondern er ist eine Reise in ihr Inneres.
Fassbinder will ihr Innenleben, also das, was unterhalb der knirschenden Funktionalität des Alltagslebens an
unbewussten Kräften in ihnen wirkt, erkunden. Metaphorisch gesprochen ist sein Film auch ein Versuch, in das
Labyrinth der inneren Stadt der Romanfiguren, in ihre abgelegenen und dunklen Seelenräume zu gelangen. Allein
das ist vermutlich auch er Grund dafür gewesen, dass Fassbinder manche Passage des Films stark unterbelichtete.
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große Teile des Fernsehpublikums
für dieses
ambitiös in Szene gesetzteCopyright
‘Dunkelkammerspiel’
wenig
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Verständnis aufbrachten, dass einzelne Zuschauer sogar, angestachelt durch die Invektiven der Boulevardpresse
(„Schmuddelsex“, „Orgie der dummen Redensarten“) dessen Absetzung vom Programm forderten, spricht indes für
sich selbst.
Peter Bekes, Berlin Alexanderplatz, Oldenbourg Interpretationen, München, 1995, S. 116/117
Alfred Döblins „Berlin Alexanderplatz“ zählt man gemeinhin zu den bedeutendsten Romanen der Weltliteratur.
Pflichtlektüre also. Als ich deshalb das Buch zu lesen anfing, blieb ich bald stecken. Das Panorama einer Großstadt,
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das www.park-koerner.de
Döblin hier ausbreitet, in der Form
von Kriminalstorys, Liebesgeschichten,Copyright
proletarischen
Lebensläufen,
vermischt mit Zeitungsnotizen, Werbesprüchen, Bibelzitaten, Schlagertexten, Reportagen, inneren Monologen,
dargestellt in einer Sprache, deren Rhythmus und Tempo die Hektik großstädtischen Lebens virtuos nachbildet, das
ist unzweifelhaft große Kunst.
Aber die Figur des Transportarbeiters Franz Biberkopf, der wegen Totschlags an seiner Geliebten ins Zuchthaus kam
und nun entlassen wird, der den großen Vorsatz fasst, anständig zu bleiben, und den sein Schicksal, Schlag für
Schlag tiefer ins Elend der Arbeitslosigkeit, der Kriminalität, in die Gemeinheit der Menschen hineintreibt, bis er am
Boden liegt und nur noch Amen sagen kann, dieser seltsame Mann blieb mir in all dem Chaos fremd.
Als ich den Roman, des Filmes wegen, wieder las, sah ich wohl dass Döblin seinen Biberkopf liebt und dass es auch
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richtig ist, diesen armen Helden, diesen
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der zwanziger Jahre, als das Produkt
der Umstände
zu zeigen, aus
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denen er nicht herauskam. Aber lieben konnte ich ihn deshalb noch lange nicht; zu oft geriet er mir aus den Augen in
diesem fürchterlichen und lustigen Kaleidoskop. Allzusehr, schien es mir, fesselt der Roman durch seinen
artistischen Glanz, durch seine kunstvollen Abschweifungen und Ausschweifungen.
Nun ist die Identifikationsmöglichkeit mit der Hauptfigur sicherlich ein sehr fragwürdiges literarisches Kriterium.
Eine Art Kitschbedürfnis steckt wohl auch hinter solchen Wünschen. Das Erstaunlichste an Fassbinders Film ist,
dass man in ihm den Franz Biberkopf, der ja doch viele abstoßende Züge hat, lieben lernt, und zwar vor allem
deshalb, weil Fassbinder ihn liebt.
Ulrich Greiner, Rainer Werner Copyright
Fassbinderswww.park-koerner.de
Verfilmung von Döblins „Berlin Copyright
Alexanderplatz“,
in: DIE ZEIT,
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Nr. 42, 1980, 10. Okt. 1980, S. 45
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Aufgaben:
1.
Von welchen unterschiedlichen Perspektiven her kritisieren a) der anonyme Leser (in 1.) und b) Franz
Neukrantz (in 2.) den Roman „Berlin Alexanderplatz“?
2. Wie beurteilt der zeitgenössische Kritiker Herbert Ihering den Roman?
3. Reich-Ranicki hält Döblin für einen „gläubigen Anarchist auf der unentwegten Suche nach einem Hafen“ und
betont damit die unorthodoxe religiöse
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finden?
4. Entwerfen Sie ein Konzept (Skizzierung eines Drehbuchs) für eine erneute Verfilmung von „Berlin
Alexanderplatz“! Setzen Sie dabei andere Schwerpunkte als Jutzi 1931 oder Fassbinder 1980.
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