„Die Wissenschaft hat ein Problem mit der Demokratie“ Im Gespräch mit Peter Finke über Citizen Science und Demokratiedefizite der Wissenschaft Das Interview zu Finkes Buch „Citizen Science. Das unterschätzte Wissen der Laien“ (München 2014) führten Miguel de la Riva und Patrick Georg cog!to: In Ihrem Buch schreiben Sie, dass Wissenschaft zu wichtig sei, um sie den Experten zu überlassen. Wer soll Wissenschaft machen, wenn nicht Wissenschaftler? Peter Finke: Wissenschaft sollen natürlich Wissenschaftler machen. Aber die Frage ist: Wer ist Wissenschaftler? Und was ist Wissenschaft? Häufig wird „Wissenschaftler“ mit einem Beruf und „Wissenschaft“ mit dem identifiziert, was in Universitäten und Forschungseinrichtungen der Industrie stattfindet. Das finde ich falsch. Bei Wissenschaft geht es nicht um Stellen oder Institutionen, sondern um Erkenntnis und die Suche nach Wahrheit. Wissenschaft ist viel mehr als die beruflich betriebene Wissenschaft. Einen wichtigen Teil der Wissenschaft, der nicht ausreichend wahrgenommen wird, gibt es nicht in den Universitäten und wissenschaftlichen Institutionen, sondern mitten in der Gesellschaft. Das ist der Bereich von Bürgerwissenschaft oder Citizen Science. cog!to: Wo trifft man Wissenschaft außerhalb der Universität an? Finke: Das kann ich an Beispielen aus meiner Biographie erklären. Ich bin als Schüler einer Geschichtswerkstatt beigetreten. Da haben wir die Geschichte von Menschen aus unserer Nachbarschaft erforscht, die während der NS-Zeit deportiert wurden, was bei uns damals noch nicht richtig aufgearbeitet war. Später war ich als Student in einen naturwissenschaftlichen Verein. Das ist neben Geschichtswerkstätten eine zweite wichtige Organisationsform von Citizen Science. Ich hatte mich für ein Philosophiestudium entschieden, war aber auch sehr an Biologie interessiert, besonders an Vögeln und Fischen. Ich wollte Leute treffen, die mir zeigen, wo ich interessante Vögel beobachten kann und lies mir sagen, dass die in diesem Verein sind. Und in der Tat, da habe ich Leute getroffen, 70 cog!to 01/2015 die sich unwahrscheinlich gut auskannten auf verschiedensten Feldern, mit Vögeln, Pflanzen der Umgebung und vielem anderen mehr, die teilweise aber garnicht studiert hatten. Ein drittes Beispiel dafür, wo Wissenschaft jenseits der Profiwissenschaft stattfindet, sind politische Verbände und Bürgerinitiativen. Als ich älter wurde ärgerte ich mich über viele verbreitete Vorstellungen von Wirtschaft. Ich lernte Kollegen kennen, die das auch so sahen, und wir haben zusammen die Vereinigung für ökologische Ökonomik mitbegründet. Auch in Bewegungen wie der Anti-AKW-Bewegung fand Citizen Science statt, als sich Menschen substantielle Expertise zu dieser Energiegewinnung und ihren Risiken aneigneten und so den sogenannten Experten, mit denen sie nur selten auf Augenhöhe sprechen durften, die Stirn boten. cog!to: Mit Ihrem Buch wollen Sie das Wissen von Laien rehabilitieren. Was wissen Laien? Und was unterscheidet ihr Wissen von dem professioneller Wissenschaftler? Finke: Für Laien ist Nähe bedeutsam. Sie haben einen Bezug zu ihrer Lebensumgebung. Nicht selten kennen Sie sich mit ihr sogar besser aus als professionelle Wissenschaftler. Professionelle Wissenschaftler beschäftigen sich oft mit allgemeinen, in der internationalen scientific community als wichtig anerkannten Problemen. Zuweilen verlieren sie dabei aber den Blick für das, was vor ihren Augen stattfindet. Wenn ich wissen will, ob hier in der Landschaft um meinen Wohnort noch das Schwarzkehlchen lebt, ein mittlerweile seltener Vogel, dann frage ich nicht einen Ornithologen an irgendeiner Universität, sondern Herbert Wolf, einen Bürgerwissenschaftler aus der Nähe, der sich gut mit Vögeln auskennt. Und wenn ich wissen will, ob ein bestimmter Farn hier noch vorkommt, dann frage ich keinen Berufsbotaniker, sondern Irmgard Sonneborn, die sich in ihrer Freizeit eine eindrucksvolle Expertise angeeignet hat und jede Woche die Umgebung erkundet. Es ist wichtig, dass nicht nur die großen, allgemeinen Forschungsfragen angegangen werden, sondern auch solche Entwicklungen verfolgt werden. Wer nicht mehr wahrnimmt, wie sich seine Umwelt – und ich meine auch die soziale und kulturelle Umwelt, Bürgerwissenschaft beschäftigt sich nicht nur mit Ökologie – verändert, der wundert sich 10 Jahre später: „Was ist denn da passiert?“ Was Herbert Wolf oder Irmgard Sonneborn tun, ist darum eine wichtige wissenschaftliche Aufgabe, die von der professionellen Wissenschaft aber nicht ausreichend besorgt wird. In einigen Fächern zwar noch mehr als in anderen, aber immer aus der Fachperspektive, und das ist der zweite Punkt. Die professionelle Wissenschaft ist meistens noch immer in isolierte Fachperspektiven aufgesplittert. Der Blick von Citizen Scientists ist ein anderer. Wenn sich etwa ein Vogelkundler, der jede Woche danach sieht, welche Vögel in seiner Umgebung vorkommen, fragt, warum auf dem Acker, an dem er vorbeikommt, keine Feldlerchen mehr singen – da ist es doch klar, dass der sich mit Landwirtschaft beschäftigen muss, mit der EUSubventionspolitik, mit Klimawandel – denn das ist ein Zugvogel – und auch mit den Pflanzen, an deren Blüten die Insekten leben, von denen die Feldlerche ihre Jungen ernährt. Mit all dem muss der sich beschäftigen, und das ist unter Citizen Scientists ganz selbstverständlich. Das ist aber nicht die Normalperspektive der professionellen Wissenschaft, in der erst langsam damit begonnen wird, über Fächergrenzen hinweg zu forschen. cog!to: In Ihrem Buch unterscheiden Sie zwischen zwei Arten von Citizen Science: light und proper. Wie meinen Sie das? Finke: Für mich ist das, was meistens als Citizen Science bezeichnet wird nur Citizen Science light. Das ist eine Methode der professionellen Wissenschaft, die in den USA schon eine gewisse Bekanntheit erreicht hat. So hat etwa die Cornell University entdeckt, dass sie Bürger und deren Wissen bei Forschungsprojekten gewinnbringend einsetzen kann, nicht zuletzt, um kostengünstig an Daten und Beobachtungen zu kommen. Dabei aber bleibt das Projektdesign, die Auswertung der Daten und das Schreiben der abschließenden Aufsätze den Profis vorbehalten. Citizen Science proper dagegen ist selbstorganisierte Forschung. Da entscheiden Bürger, was sie erforschen und wie, und da ist niemand, der ihnen reinredet. Das bedeutet auch, dass sie sich die relevanten Kompetenzen selbst aneignen müssen. Ich habe oft gesehen, wie Menschen, die sich für ein bestimmtes Gebiet interessieren, alles tun, um alles Mögliche über es zu lernen. cog!to: Laien haben vermutlich häufig nicht dasselbe methodische Geschick wie professio- nelle Wissenschaftler. Ist Laienforschung nicht sehr fehleranfällig? Finke: Natürlich werden in solcher Forschung Fehler gemacht, so wie in der professionellen Wissenschaft auch. Nur bei den Profis gibt es dann etwas, was es in Citizen Science meist nicht gibt: Die Beobachtung durch Kollegen und Konkurrenten. Macht man einen Fehler, kann das ein anderer nachweisen und veröffentlichen. In Citizen Science dagegen ist man oft froh, wenn es überhaupt jemand gibt, der sich um einen bestimmten Bereich kümmert. Ich bin aber dagegen, die ganze Debatte über Citizen Science zu einer Debatte über die möglichen Risiken und Fehler zu verkürzen. Nicht nur, weil Fehler überall passieren, sondern weil es in Citizen Science, meiner Erfahrung nach, auch nicht das ganz große Problem ist. Kontrolle ist sicher eher eine Schwäche von Citizen Science, ihm steht aber die Stärke gegenüber, dass sich Bürger um Fragen kümmern, um die sich oft sonst niemand kümmern würde. Citizen Science ist stark in empirischer und angewandter Forschung, die sich auf das Lebensumfeld der Bürger bezieht, die sie betreiben. cog!to: Wie verhalten sich professionelle und Bürgerwissenschaft zueinander? Ist Citizen Science ein Konkurrenzprojekt zur professionellen Wissenschaft? Finke: Citizen Science kann die professionelle Wissenschaft nicht ersetzen. Überall, wo es um sehr spezielle Fragestellungen geht, wo es sehr abstrakt wird und viel Hintergrundwissen nötig ist, wo es teuer wird und große Geräte nötig sind gibt es keine Alternative zur professionellen Wissenschaft. Aber der Fehler, den man leider häufig antrifft, ist, dass das die ganze Wissenschaft sei. Ich spreche mich nur dagegen aus, die eher elementare und beobachtungsnahe Forschung der Laien gar nicht zu den Wissenschaften zu zählen oder als zweit- oder drittklassige Wissenschaft zu betrachten, weil sie sich im Basisbereich der Wissenschaft bewegt, der den Laien leichter zugänglich ist. cog!to: Ihr Buch über Bürgerwissenschaft liest sich zugleich wie eine Kritik an den Institutionen der professionellen Wissenschaft. Desöfteren kontrastieren Sie eine unbefangene Wissenslust von Laien mit den institutionellen Zwängen professioneller Forschung. Sie sprechen von einem „Korsett der Profis“. Wie meinen Sie das? Finke: Die professionelle, institutionalisierte Wissenschaft hat, wenn man so will, auch ihre dunklen Seiten. Verschiedene Einflüsse schränken ihre Freiheit ein. So sind etwa drei Viertel der Wissenschaftsförderung in Deutschland Drittmittelförderungen, und der größte Teil davon kommt aus Wirtschaft und Industrie. In der Verteilung der Mittel gewinnen daher ökonomische Verwertungsrücksichten ein großes Gewicht, und das erklärt, cog!to 01/2015 71 warum manche Wissenschaften am Hungertuch nagen. Aus meiner Sicht ist Geld nicht generell der große Mangelfaktor in der Wissenschaft. Geld ist ein Mangelfaktor nur in bestimmten Wissenschaften, deren Ergebnisse sich nicht gut ökonomisch verwerten lassen. Wissenschaft ist heute in einem Maße von ökonomischen Erwägungen abhängig, dass sie einen Teil ihrer Freiheit verloren hat. Ein zweiter Bereich, in dem Sie an Freiheit einbüßt, betrifft ihr Verhältnis zur Politik. Die Politik hat den Universitäten eine Reform verordnet, die einheitliche Studiengänge in ganz Europa vorsieht. Dabei wäre hier doch Vielfalt viel wichtiger. Wenn jemand eine Idee hat, wie man etwas besser macht, dann soll er das doch durchführen dürfen. Gegen diese von oben angeordneten Reformen haben sich Wissenschaftler zu wenig zur Wehr gesetzt. Und eine dritte Hinsicht, in der Wissenschaft an Freiheit verloren hat, erwächst aus dem heute nötigen Verwaltsungsaufwand, der sich seit der Bolognareform, die ja eigentlich das Gegenteil bewirken sollte, vervielfacht hat. Eine Universität lässt sich heute nicht mehr wie ein Verein führen. Es ist eine große Institution geworden, und die muss man übersichtlich halten. Aber muss sie immer in dieser hierarchischen Form organisiert sein, wie sie organisiert ist? Muss sie immer in dieser disziplinären Form organisiert sein, in der sie organisiert ist? Angesichts solcher institutioneller Zwänge macht es fast den Eindruck, dass die eigentlichen Ziele von Wissenschaft eher durch Citizen Science verkörpert werden als durch diese Form der Berufswissenschaft. cog!to: Kann Citizen Science zu einer Veränderung der professionellen Wissenschaft beitragen? Finke: Ja, vor allem bei der Frage, wie die professionelle Wissenschaft dem Rest der Gesellschaft gegenübersteht. Die professionelle Wissenschaft trennt sich gegenwärtig eher ab, dazu gibt es das alte Bild des Elfenbeinturms. Hierzu bereite ich zurzeit ein neues Buch mit 35 beteiligten Autoren vor; es wird heißen “Freie Bürger, freie Forschung”, und wir beschreiben darin, wie sich die Wissenschaft gegenüber der Bürgergesellschaft öffnen kann. Das neue Bild wird heißen: Freie Bürger, freie Forschung, die Wissenschaft öffnet sich der Öffentlichkeit und den Bürgern. Von daher finde ich übrigens auch ein Buch von Popper besonders gut, nämlich Die offene Gesellschaft und ihre Feinde.1 In diesem Buch macht er deutlich, wer die Feinde der offenen Gesellschaft sind. Das sind die, die in einer offenen Gesellschaft geschlossene Gesellschaft spielen wollen. Er exemplifiziert das zwar vor allem an Philosophen wie Hegel, die geschlossene Systeme vorgelegt haben. Aber er hat den Gedanken allgemeiner formuliert. Und in gewisser Weise spielt auch ein großer Teil der professionellen Wissenschaft in unserer offenen Gesellschaft geschlossene Gesellschaft. cog!to: Sie Schreiben in Ihrem Buch, dass Citizen Science wichtige emanzipatorische Funktionen im Rahmen der Zivilgesellschaft erfüllen könne. Welche gesellschafltichen Veränderungen kann Citizen Science anstoßen? Finke: Der wichtigste Gesichtspunkt ist die Frage nach der Demokratie in der Wissenschaft. Wenn wir in einer Demokratie leben und der Meinung sind, dass wir sie weiterentwickeln müssen, wo sie noch Mängel aufweist – dann ist einer dieser Mängel im Bereich Wissenschaft. Es geht darum, dass Wissenschaftler nicht sagen: „Wir sind die Wissenschaftler, die anderen sind die Bürger“. Diese Einstellung kommt auch in Redeweisen wie „Wissenschaft trifft Bürger“ zum Ausdruck. Das finde ich verkehrt, nicht nur, weil Wissenschaftler auch Bürger sind, sondern weil manche Bürger auch Wissenschaftler sind. Und wenn man das zu Ende denkt, dann bedeutet das doch, dass die Wissenschaft sich öffnen muss, wo sie sich noch nicht geöffnet hat für die Sorgen, Fragen und Ideen der anderen. Bisher öffnet sie sich nur der Wirtschaft und Politik, und das sehr weit. Solange sie sich aber nicht auch allen Bürgern gegenüber öffnet, hat die Wissenschaft ein Problem mit der Demokratie. Das Interview führten Miguel de la Riva und Patrick Georg. Foto: Patrick Georg 1 Popper, Karl R. 1945. The Open Society and Its Enemies. 2 Bände. London: Routledge. Zu Peter Finke: Peter Finke (geb. 1942) war Professor für Wissenschaftstheorie. Er lehrte an den Universitäten Bielefeld und Witten/Herdecke und trat 2006 aus Protest gegen die Bologna-Reform vor der Pensionsgrenze in den Ruhestand. 72 cog!to 01/2015
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