Philosophische Positionen zum Thema Suizid

Philosophische Positionen zum Thema Suizid
Dr. Bruno Frischherz, [email protected]
Luzerner Psychiatrie lups.ch
11. Juni 2015
1. Einleitung
«Es gibt nur ein wirklich ernstes philosophisches
Problem: den Selbstmord.»
S. 2
(Camus, 1942/1959, S. 9)
Übersicht
Einleitung
Philosophische Positionen zum Suizid
 Selbstmord
 Freitod
 Selbsttötung/Suizid
Exkurs: Lebenskunst
Abschluss
S. 3
2. Selbstmord
S. 4
Platon (ca. 429-377 v. Chr.)
«Denn was darüber in den
Geheimnissen gesagt wird, daß wir
Menschen wie in einer Feste sind und
man sich aus dieser nicht selbst
losmachen und davongehen dürfe, das
erscheint mir doch als eine gewichtige
Rede und gar nicht leicht zu
durchschauen. Wie denn auch dieses, o
Kebes, mir ganz richtig gesprochen
scheint, daß die Götter unsere Hüter
und wir Menschen eine von den
Herden der Götter sind.»
S. 5
(Platon, 1983, S. 15)
Aristoteles (384-322 v. Chr.)
«Recht in einem Sinne ist, was vom
Gesetz in bezug auf jede einzelne
Tugend geboten ist. Nun gebietet das
Gesetz aber z. B. nicht, sich selbst
zu töten; was es aber nicht zu töten
gebietet, das zu töten verbietet es.»
S. 6
(Aristoteles, 1985, S. 127)
Thomas von Aquin (1224-1332)
«Wer sich daher selbst das Leben
nimmt, sündigt gegen Gott; wie der,
der einen fremden Sklaven tötet, gegen
den Herrn sündigt, dem der Sklave
gehört; und wie der sündigt, der sich
eine Entscheidung anmaßt über eine
Sache, die ihm nicht übertragen ist.
Gott allein also steht die Entscheidung
zu über Leben und Tod (...)»
S. 7
(Thomas von Aquin, 1987, S. 95)
Thomas von Aquin (1224-1332)
Die Selbsttötung ist untersagt,
1. weil sie sich gegen die göttliche Entscheidung über
Leben und Tod wendet,
2. weil sie ein Unrecht gegenüber der Gemeinschaft ist,
denn jeder Mensch gehört ihr als Teil an,
3. weil sie dem Selbsterhaltungstrieb und der «Liebe, mit
der jeder sich selbst lieben muss» entgegengesetzt ist.
S. 8
(Ritter & Gründer, 1995, S. 496 ff.)
Immanuel Kant (1724-1804)
«Die Selbstentleibung ist ein
Verbrechen (Mord). Dieses kann nun
zwar auch als Übertretung seiner Pflicht
gegen andere Menschen (...) betrachtet
werden; - aber hier ist nur die Rede von
Verletzung einer Pflicht gegen sich
selbst, ob nämlich, wenn ich auch alle
jene Rücksichten bei Seite setzte, der
Mensch doch zur Erhaltung seines
Lebens, bloß durch seine Qualität als
Person verbunden sei, und hierin eine
(und zwar strenge) Pflicht gegen sich
selbst anerkennen müsse.»
S. 9
(Kant, 1797/1968, S. 554)
Albert Camus (1913-1960)
«Es gibt nur ein wirklich ernstes
philosophisches Problem: den
Selbstmord. Die Entscheidung, ob das
Leben sich lohne oder nicht,
beantwortet die Grundfrage der
Philosophie. Alles andere - ob die Welt
drei Dimensionen und der Geist neun
oder zwölf Kategorien habe - kommt
erst später. Das sind Spielereien;
zunächst heißt es Antwort geben.»
S. 10
(Camus, 1942/1959, S. 9)
3. Freitod
S. 11
Seneca (ca. 4 v. Chr.-65)
«Es gibt nichts, worin wir so sehr der
Stimmung der Seele Rechnung tragen
müssen, als den Tod. Wähle sie sich
ihren Ausweg gemäß dem Drange, der
sie treibt; mag sie nach dem Schwerte
greifen oder nach einem Strick oder
nach einem die Adern durchdringenden
Gifttrank, gleichviel, sie zerreiße ohne
Zögern die Ketten der
Knechtschaft!»
S. 12
(Seneca, 1993, S. 266 ff. )
Peter Paul Rubens
(1577 - 1640)
Der Tod des Seneca
S. 13
David Hume (1711-1776)
«Wäre die Verfügung über
menschliches Leben dem
Allmächtigen derart als besondere
Vorsehung vorbehalten, daß es einen
Eingriff in sein Recht darstellte, wenn
die Menschen über ihr eigenes Leben
verfügen, dann würde es gleichermaßen
verbrecherisch sein, für die Erhaltung
wie für die Zerstörung des Lebens
tätig zu sein.»
S. 14
(Hume, 1777/1985, S. 14)
David Hume (1711-1776)
Die Selbsttötung ist erlaubt,
1. weil die Selbstvernichtung so wenig ein Verstoß gegen den
göttlichen Willen wie die Selbsterhaltung ist. Beide Male
operiert der Mensch nur mit den Kräften, die ihm Gott
verliehen hat.
2. weil die soziale Verpflichtung dann ihre Grenze erreicht,
wenn das eigene Leben unerträglich wird.
3. weil die Selbstvernichtung im eigenen Interesse liegt,
wenn das Leben zur Last wird.
S. 15
(Ritter & Gründer, 1995, S. 496 ff.)
Friedrich Nietzsche (1844–1900)
«Viele sterben zu spät, und einige
sterben zu früh. Noch klingt fremd die
Lehre: »stirb zur rechten Zeit!«
Stirb zur rechten Zeit; also lehrt es
Zarathustra.
[...]
Meinen Tod lobe ich euch, den freien
Tod, der mir kommt, weil ich will.»
S. 16
(Nietzsche, 1891/1971, S. 592 ff.)
Jean Améry (1912-1978)
«Niemand aber hat das Recht, dem
anderen vorzuschreiben, auf welche
Weise und im Hinblick auf was er
seinen Eigenbesitz lebend und
sterbend realisiert.»
S. 17
(Améry, 1976/2015, S. 113)
Emile M. Cioran (1911-1995)
«Der Tod wird nicht unbedingt als
Befreiung empfunden; der
Selbstmord befreit immer: er ist
summum, ein Übermaß von Heil.»
S. 18
(Cioran, 1969/1979, 56)
4. Selbsttötung/Suizid
S. 19
Karl Jaspers (1883-1969)
«Der einzelne Selbstmord als
unbedingte Handlung ist nicht nach
einem allgemeinen Kausalgesetz oder
einem verstehbaren Typus zureichend
zu begreifen, sondern wäre die
absolute Einmaligkeit einer sich in
ihm erfüllenden Existenz.»
S. 20
(Jaspers, 1932/1973, S. 304)
Karl Jaspers (1883-1969)
Die Frage nach der Selbsttötung ist nicht allgemein zu
beantworten,
1. weil das nur den Einzelnen und seinen Gott angeht. Wir
sind nicht Richter.
2. weil das nur die Betroffenen angeht. Die Selbsttötung
bedeutet einen Abbruch der Kommunikation.
3. weil es das Geheimnis des Einzelnen mit sich selbst
ist, wie und in welchem Sinne er in Wahrheit „ist".
S. 21
(Jaspers, 1932/1973, S. 313)
Wilhelm Kamlah (1905-1976)
«Wer dieses Recht auf den eigenen Tod
hat, der hat eben damit das Recht auf
einen menschenwürdigen, sanften
Tod, d. h. auf einen Tod, der ihn in
ruhiger Gelassenheit sterben läßt. Und
kann es nicht Situationen geben, in
denen der geeignete Helfer auf dem
Wege zu einem solchen Tod der Arzt
wäre?»
S. 22
(Kamlah, 1976, S. 24)
Adrian Holderegger (*1945)
«Ich habe einfach keinen Sinn mehr
gesehen." Was heißt hier aber Sinn und
Unsinn? [...] Vielmehr handelt es sich
hier zunächst einmal um „eingekleidete"
Umschreibungen eines anderen
wichtigen Problems, nämlich der
schlichten Frage: Gibt es einen
Menschen, der zuverlässig zu mir hält?
Gibt es ein menschliches Du, das
mich versteht?»
S. 23
(Holderegger, 2002, S. 86)
Verena Lenzen (*1957)
«Die Selbsttötung ist weder als
Sünde noch als Krankheit zu
interpretieren, sondern als
vielschichtige Vollendung eines
konkreten Lebens zu respektieren.»
S. 24
(Lenzen, 1987, S. 225)
Dagmar Fenner (*1971)
«Anstelle einer "einfachen Ethik" mit
universellen Geboten oder Verboten
wird eine "differenzierende Ethik"
entworfen, die ein Urteil von besonderen
Lebensumständen und
unterschiedlichen Handlungstypen
abhängig macht.»
S. 25
(Fenner, 2008)
5. Exkurs zur Philosophie der Lebenskunst
S. 26
Martin Seel (*1954)
«Zwar unterscheide ich Arbeit und
Interaktion, Spiel und
Kontemplation nicht primär als
mögliche Dimensionen des Glücks,
sondern als Dimensionen gelingenden
Lebens - als existentielle Möglichkeiten,
die einem gelingenden Lebensvollzug
offenstehen. Wer aber Zugang zu diesen
Möglichkeiten hat, erlebt in ihrer
Gegenwart oft auch Situationen
episodischen Glücks.»
S. 27
(Seel, 1999, S. 141)
Wilhelm Schmid (*1953)
«Was häufig gemeint ist, wenn nach
»Glück« gefragt wird, ist eigentlich
»Sinn«. Glück kann ein Ersatzbegriff für
Sinn sein. Es ist die Frage nach dem
Sinn, die moderne Menschen in
wachsendem Maße umtreibt.»
S. 28
(Schmid, 2007, S. 45)
Peter Bieri (*1944)
«Selbsterkenntnis ist dasjenige, was
dazu führt, daß wir eine transparente
seelische Identität ausbilden und
dadurch in einem emphatischen Sinne
zu Autor und Subjekt unseres
Lebens werden können. Sie ist also
kein freischwebender Luxus und kein
abstraktes philosophisches Ideal,
sondern eine sehr konkrete Bedingung
für ein selbstbestimmtes Leben und
damit für Würde und Glück.»
S. 29
(Bieri, 2011, S. 15)
6. Abschluss
1. Ein striktes moralisches Suizidverbot lässt sich
philosophisch nicht überzeugend begründen.
2. Sind die Vorgeschichte, die Umstände und die seelische
Verfassung des Suizidenten zum Zeitpunkt der Tat ganz
oder fast unbekannt, gilt das Prinzip „Im Zweifel für das
Leben“.
3. Wenn die Umstände darauf hindeuten, dass die Absicht,
sich zu töten, nicht vorübergehend und krisenbedingt ist,
gilt das Prinzip „Bei Gewissheit für die Freiheit“.
S. 30
(Wittwer, 2003, S. 396)