Ungleichheiten in Gesundheit und Gesundheitsversorgung Dr. Martin Siegel Berlin Centre for Health Economics Research (BerlinHECOR) Technische Universität Berlin Spreestadt-Forum Montag, 18. Mai 2015 Dr. Martin Siegel Ungleichheiten in Gesundheit und Gesundheitsversorgung Warum ist Gerechtigkeit in Gesundheit so wichtig? Gesundheit gehört in alle Debatten über soziale und ökonomische Gerechtigkeit notwendig für Chancengleichheit Grundlage für menschliche Entwicklung Voraussetzung für soziale und ökonomische Teilhabe Beruhen unbehandelte oder nicht verhinderte Erkrankung freie Entscheidungen oder äußere Zwänge? Sind erreichbare und erreichte Gesundheit identisch? Dr. Martin Siegel Ungleichheiten in Gesundheit und Gesundheitsversorgung Soziale Ungleichheiten in der Versorgung Gerechtigkeit und Versorgung Dr. Martin Siegel Ungleichheiten in Gesundheit und Gesundheitsversorgung Ungleichheit und Ungerechtigkeit gleich heißt nicht zwingend gerecht ungleich muss nicht ungerecht sein ungleiche Versorgung bei ungleichem Bedarf ist sinnvoll Versorgung soll von Gesundheit abhängen Versorgung soll nicht vom sozialen Status abhängen Dr. Martin Siegel Ungleichheiten in Gesundheit und Gesundheitsversorgung Gerechtigkeit in der Versorgung: zwei Konzepte Aus dem Grundsatz “Gleiches gleich und Ungleiches ungleich behandeln” lassen sich zwei Grundsätze ableiten: horizontale Gerechtigkeit Gleiches gleich behandeln Personen mit gleichem Bedarf erhalten die gleiche Versorgung relativ gut messbar vertikale Gerechtigkeit ungleiches ungleich behandeln Personen mit unterschiedlichem Bedarf erhalten angemessen unterschiedliche Versorgung Problem: was ist angemessen ungleich → vertikale Gerechtigkeit kaum messbar Dr. Martin Siegel Ungleichheiten in Gesundheit und Gesundheitsversorgung Soziale Ungleichheiten in der Versorgung Determinanten der Inanspruchnahme Dr. Martin Siegel Ungleichheiten in Gesundheit und Gesundheitsversorgung Soziale Determinanten von Inanspruchnahme Zwei-Stufen-Modell: 1 2 Wahrscheinlichkeit für Arztkontakt Häufigkeit von Arztkontakten Krankheitsrisiken und Inanspruchnahme simultan geschätzt Perspective Table 2 Healthcare utilisation; chance of first contact and numbers of visits Healthcare utilisation Inanspruchnahme General practitioners Chance for first contact Number of visits Specialised practitioners Chance for first contact Number of visits Factor OR Lower educational level Medium educational level Higher educational level Employed Unemployed Retired House worker 1st income quintile 2nd income quintile 3rd income quintile 4th income quintile 5th income quintile Private health insurance Obesity Chronic cardiovascular conditions Lung disease Diabetes 0.926 Reference 0.951 Reference 1.296 1.413 0.993 Reference 0.749 0.943 1.040 0.880 0.702 0.999 4.162 2.391 1.532 p-value 0.164 category 0.316 category 0.029 0.003 0.939 category 0.000 0.400 0.567 0.055 0.000 0.983 0.000 0.000 0.052 IRR p-value OR p-value IRR p-value 1.072 0.001 0.901 0.005 1.051 0.065 0.940 0.002 1.044 0.233 0.924 0.003 1.492 1.467 1.188 0.000 0.000 0.000 1.197 1.470 1.067 0.004 0.000 0.233 1.346 1.297 1.009 0.000 0.000 0.815 1.103 1.071 1.022 0.988 0.962 1.083 1.382 1.413 1.456 0.000 0.009 0.336 0.645 0.157 0.000 0.000 0.000 0.000 0.768 0.831 0.976 0.959 0.929 1.041 1.398 1.587 1.552 0.000 0.000 0.569 0.359 0.092 0.358 0.000 0.000 0.000 1.078 1.064 1.048 1.007 1.070 1.058 1.165 1.251 1.114 0.036 0.103 0.144 0.828 0.069 0.035 0.000 0.000 0.059 dadurch Kontrolle von Multikollinearität und Endogenität Datenbasis: TNS Healthcare Access Panel 2002 unemployed use the healthcare system 50% more Concluding remarks den stärksten Einfluss hat Morbidität than the employed and even more than the retired. Although significant, income yields no obvious gra- Analysing health distribution and healthcare utilisadient. unter Obesity and „sozial chronic conditions apparently tion behaviour, we find persisting health and stärkere Inanspruchnahme schwächeren” increase the need for doctor consultations. The pri- healthcare inequalities in Germany despite the fact vately insured do not show different utilisation that its healthcare system has a long-established kein eindeutiger Einkommensgradient erkennbar intensity compared with people who have compul- universal coverage. With unemployment remaining sory health insurance. We find that people with lower educational status a substantive risk factor, one may consider getting people into jobs to be the essential approach Lüngen, Siegel, Lauterbach (2011). Could inequality in health be cured by universal coverage for all citizens? are less likely to contact a specialised practitioner. towards a reduction of health inequalities. ConsiderInternational Journal of Clinical Practice 65(3):249-252 Moreover, while houseworkers appear to have no ing education as a substantive factor for the risk of different a first visit, we estimate signifi- unemployment, the educational system may be seen Dr. Martin Siegel odds for Ungleichheiten in Gesundheit und Gesundheitsversorgung The significantly positive value of r in each model indicates that districts have higher expected screening utilization rates if the adjacent districts have higher values. For example, an increase of the skin cancer screening rates in the neighboring districts by one percentage point increases the expected utilization rate in the observed district by 0.74 percentage points. The insignificant Moran’s I statistics of the spatial lag models suggest that there is no significant spatial autocorrelation left in the residuals. The spatial lag models explain between 21% (colonoscopy) and 50% (Pap-test) of the variation in the screening utilization rates. Inanspruchnahme von Vorsorgeleistungen lower utilization of Pap-tests. Districts with mammography center have an increased screening of 1.91 (i.e. 1.91% more patients use mammography s districts). Regarding the social structure covariates, the young adults with higher education and median ho is negatively associated with mammography uptak turnout is positively associated with uptake of Pap cancer screening, skin cancer screening, and co percentage of smokers is not significantly associated utilization rates. In addition, the use of mammogr Inanspruchnahme von Krebsvorsorge in Kreisen und kreisfreien Städten regionale Unterschiede bestehen im Norden höhere Inanspruchnahme signifikante regionale Spillover-Effekte (Kommunikationseffekt) kein systematischer Einfluss sozio-ökonomischer Determinanten Inanspruchnahme korreliert mit Versorgungsgrad Datenbasis: Routinedaten der KBV Fig. 1. Maps of Germany: age standardized cancer screening utilization rates. Vogt, Siegel, Sundmacher (2014). Examining regional variations in the use of cancer screening in Germany. Social Science & Medicine 110:74-80 Dr. Martin Siegel Ungleichheiten in Gesundheit und Gesundheitsversorgung Zusammenfassung: Ungleichheiten in der Versorgung Arbeitslose und Rentner haben besonders hohe Inanspruchnahme Bildung hat nur geringen Effekt kein systematischer Zusammenhang mit Einkommen für Inanspruchnahme spielen sozio-ökonomische Faktoren auf regionaler Ebene keine Rolle regionale (Wissens-) Spillover: Inanspruchnahme in einer Region beeinflusst Nachbarregion Inanspruchnahme korreliert mit Angebot Inanspruchnahme hängt im Wesentlichen vom Gesundheitszustand ab Dr. Martin Siegel Ungleichheiten in Gesundheit und Gesundheitsversorgung Ungleichheit in Gesundheit Dr. Martin Siegel Ungleichheiten in Gesundheit und Gesundheitsversorgung Die soziale Dimension von Gesundheit Gesundheitssystem ist wichtige Determinante für Bevölkerungsgesundheit in manchen Bereichen kann Gesundheitspolitik nicht viel ausrichten einige Gesundheitsdeterminanten liegen außerhalb des Gesundheitssystems soziales Umfeld sozio-ökonomischer Status sozialpolitische Rahmenbedingungen Umweltbedingungen ... Kenntnis der sozialen Dimension von Gesundheit daher wichtig Dr. Martin Siegel Ungleichheiten in Gesundheit und Gesundheitsversorgung Konzentrationskurve und Konzentrationsindex Ungleichheit messen: die Methode Dr. Martin Siegel Ungleichheiten in Gesundheit und Gesundheitsversorgung Konzentrationskurve und Konzentrationsindex Lorenzkurve: die „reichsten” 10% erhalten über 20% des gesamten Nettoeinkommens Verteilung von Einkommen und schlechte subj. Gesundheit Konzentrationskurve: ca. 60% aller Fälle schlechter subjektiver Gesundheit häufen sich in den „ärmsten 40%” Maßzahl für Ungleichheit: Konzentrationsindex misst Abweichung von Gleichverteilung → positiv: Häufung in höheren Einkommen → negativ: Häufung in geringeren Einkommen → null: keine Häufung nach Einkommen → je größer der Betrag, desto stärker die Ungleichheit Dr. Martin Siegel Datenbasis: Sozio-ökonomisches Panel (SOEP) Ungleichheiten in Gesundheit und Gesundheitsversorgung Entwicklung sozialer Determinanten von Gesundheit negative Beiträge: Faktor »zieht« Merkmal zu den Ärmeren positive Beiträge: Faktor »zieht« Merkmal zu den Reicheren Welche Ungleichheit würde ohne diesen Faktor beobachtet? Zerlegung des Konzentrationsindex für schlechte subjektive Gesundheit 0,05 Beiträge der sozioökonomischen Faktoren „Erklärung” von Ungleichheit: Kombination aus Einfluss eines Faktors und dessen einkommensbezogener Verteilung 0 -0,05 -0,1 -0,15 -0,2 -0,25 Demographie Bildung prekär beschäftigt Ostdeutschland gesundheitliche Ungleichheit Einkommen arbeitslos nicht erwerbstätig nicht erklärt Datenbasis: Sozio-ökonomisches Panel (SOEP) sozio-ökonomische Faktoren tragen maßgeblich zur Ungleichheit bei Ungleichheit hat besonders nach 2004 zugenommen der Einfluss sozio-ökonomischer Faktoren hat zugenommen Siegel, Vogt, Sundmacher (2014). From a conservative to a liberal welfare state: Decomposing changes in income-related health inequalities in Germany, 1994-2011. Social Science & Medicine 108:10-19 Dr. Martin Siegel Ungleichheiten in Gesundheit und Gesundheitsversorgung Hängt einkommensbezogene Ungleichheit vom Alter ab? Frage: in welcher Altersgruppe ist Ungleichheit am größten? inequality Erweiterung: variabler Konzentrationsindex altersspezifische Ungleichheit 0 −0.1 −0.2 Ungleichheit als Funktion von Alter 0 10 20 30 40 50 age 60 70 80 90 60 70 80 90 female 0.1 inequality berücksichtigt unterschiedliche Krankheitsprävalenz und unterschiedliche Größe von Altersgruppen male 0.1 0 −0.1 −0.2 0 10 20 30 40 50 age Datenbasis: Mikrozensus 2005 ähnliches Muster für Männer und Frauen keine messbare Ungleichheit bei Kindern und Alten Ungleichheit am größten in der Lebensmitte Siegel, Mosler (2014). Semiparametric modeling of age-specific variations in income related health inequalities. Health Economics 23(7):870-878 Dr. Martin Siegel Ungleichheiten in Gesundheit und Gesundheitsversorgung Ungleichheit nach individuellem und regionalem Status männlich Einkommen GIMD Adipositas Bluthochdruck Diabetes –0.060 –0.024 -0.086 –0.035 –0.027 –0.050 weiblich Einkommen GIMD –0.121 –0.068 –0.155 –0.040 –0.037 –0.060 Datenbasis: TNS Healthcare Access Panel 2002, 2006 GIMD: German Index of Multiple Deprivation Kombination verschiedener Dimensionen zum Vergleich von kleinräumigen Regionen (hier: Gemeindeebene) Häufung unter schlechter gestellten auf Individual- und Gemeindeebene Zusammenhang auf Individualebene signifikant stärker Siegel, Mielck, Maier (2014). Individual income, area deprivation, and health: Do income-related health inequalities vary by small area deprivation? Health Economics (early view) Dr. Martin Siegel Ungleichheiten in Gesundheit und Gesundheitsversorgung Hängt Ungleichheit vom Status der Region ab? deprivationsspezifische Ungleichheit Ungleichheit auf kleinräumiger Ebene ähnlich wie in Gesamtbevölkerung Wagstaff index Wagstaff index 0.1 0 -0.1 -0.2 obesity, female 0.2 0.1 0 -0.1 -0.2 -0.3 0 0.2 0.4 0.6 0.8 (inverse) area deprivation 1 0 0.2 0.4 0.6 0.8 (inverse) area deprivation 1 0.3 0.3 hypertension, male Wagstaff index 0.2 0.1 0 -0.1 -0.2 hypertension, female 0.2 0.1 0 -0.1 -0.2 -0.3 -0.3 0 0.2 0.4 0.6 0.8 (inverse) area deprivation 0 1 0.3 0.2 0.4 0.6 0.8 (inverse) area deprivation 1 0.3 diabetes, male 0.2 Wagstaff index keine systematischen Zusammenhänge erkennbar 0.3 obesity, male 0.2 -0.3 Wagstaff index Ungleichheit als Funktion von regionaler Deprivation (GIMD) auf Gemeindeebene 0.3 Wagstaff index Hängt einkommensbezogen Ungleichheit vom sozialen Status der Region ab? 0.1 0 -0.1 -0.2 diabetes, female 0.2 0.1 0 -0.1 -0.2 -0.3 -0.3 0 0.2 0.4 0.6 0.8 (inverse) area deprivation 1 0 0.2 0.4 0.6 0.8 (inverse) area deprivation Datenbasis: TNS Healthcare Access Panel 2002, 2006 Siegel, Mielck, Maier (2014). Individual income, area deprivation, and health: Do income-related health inequalities vary by small area deprivation? Health Economics (early view) Dr. Martin Siegel Ungleichheiten in Gesundheit und Gesundheitsversorgung 1 Zusammenfassung: Ungleichheiten in Gesundheit auch in Deutschland hängen Gesundheit und sozialer Status zusammen sozio-ökonomische Faktoren können die Ungleichheit gut erklären der Zusammenhang ist heterogen neben individuellen Faktoren können auch regionale Faktoren eine Rolle spielen Ungleichheit existiert auch auf regionaler Ebene die Ungleichheit hat in den letzten Jahren zugenommen sozio-ökonomische Faktoren können die Zunahme gut erklären Dr. Martin Siegel Ungleichheiten in Gesundheit und Gesundheitsversorgung Fazit Dr. Martin Siegel Ungleichheiten in Gesundheit und Gesundheitsversorgung Fazit ein leistungsfähiges Gesundheitssystem ist Voraussetzung für gute Bevölkerungsgesundheit in Deutschland: kaum Ungleichheit in der Inanspruchnahme aber deutliche Ungleichheit in Gesundheit Gesundheitsdeterminanten außerhalb des Gesundheitssystems sind kaum durch Gesundheitspolitik steuerbar soziale, ökonomische und politische Rahmenbedingungen spielen eine große Rolle sozialpolitische Entscheidungen können sich deutlich auf Gesundheit auswirken Berücksichtigung gesundheitliche Auswirkungen politischer Entscheidungen → “health in all policies” Dr. Martin Siegel Ungleichheiten in Gesundheit und Gesundheitsversorgung
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