Referat von J. Kunz-Willi

02.11.2015
24. Pflegesymposium
Gratwanderung zwischen Selbstbestimmung und Verantwortung
Rechtliche Aspekte
Judith Kunz-Willi
Leiterin Rechtsdienst
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1. Fallbeispiel mit Bezug auf das Erwachsenenschutzrecht
Das neue Erwachsenenschutzrecht ist seit 1. Januar 2013 in Kraft.
Absicht war unter anderem:
− Stärkung des Selbstbestimmungsrechts
− eine stärkere Ausprägung des Verhältnismässigkeitsprinzips
− unterstützen statt entmündigen
Massgeschneiderte Massnahmen bezwecken eine feine Abstufung des staatlichen
Eingriffs.
Professionelle Kindes- und Erwachsenenschutzbehörden (KESB) wurden eingeführt.
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Art der Beistandschaft von Frau F. ist zu klären.
Die Anordnung einer umfassenden Beistandschaft oder die gezielte Einsetzung eines
Beistandes, der den Patienten mit Bezug auf medizinische Massnahmen vertreten soll,
ist regelmässig ein deutlicher Hinweis für die fehlende Urteilsfähigkeit des Betroffenen
(…) [Regina Aebi-Müller].
Zeitliche Ressourcen und medizinisches Know-how der Beiständin sind begrenzt.
Formaljuristisch: Ist der Patient urteilsfähig, ist sein Wille zu beachten. Ist der Patient
urteilsunfähig, dürfen sich die medizinischen Fachpersonen auf seine Willensbekundung
nicht verlassen.
Damit ist die Urteilsfähigkeit der entscheidende Faktor für die Abgrenzung zwischen
Selbstbestimmung und Fremdbestimmung.
Empfehlung: Fall interdisziplinär besprechen; Rücksprache mit Arzt und/oder
Psychologen; im Team entscheiden; Entscheid dokumentieren.
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Was sie wissen sollten:
Es handelt sich um einen Behandlungsvertrag (nach Auftragsrecht OR Art. 394ff.).
Es ist kein Erfolg geschuldet.
Wichtig sind: Sorgfältig handeln; pflegerische Verrichtungen präzise ausführen;
Handeln nach bestem Wissen und Gewissen sowie nach allen Regeln der
ärztlichen Kunst bzw. dem medizinischen Standard.
Originäre Aufgabe des Arztes ist es
− die Suizidalität zu beurteilen bzw. mittels psychiatrischem Konsil beurteilen zu lassen
− die Urteilsfähigkeit zu beurteilen
− die weitere Behandlung/Therapie festzulegen
Die lückenlose Dokumentation ist unerlässlich.
In einem allfälligen Rechtsstreit ist die Pflegedokumentation häufig das einzige
Beweismittel. Darauf stützen sich die fachärztlichen Gutachten ab.
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Was können Sie tun:
Schutzbedürftigkeit (geistig u/o körperlich) des Patienten abklären.
Sieht die Patientin den Unterstützungsbedarf ein?
Kann sich die Patientin den Unterstützungsbedarf selber organisieren?
Bei Schutzbedarf aufgrund Suizidgefahr müssen Sie zwingend den Arzt involvieren.
Die Massnahmen sind lückenlos zu dokumentieren.
Ärzte und Pflege können sich irren. Sie haben aber zu belegen (dokumentieren), dass
Sie die (ärztliche) Sorgfaltspflicht haben walten lassen.
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Mögliche Massnahmen:
Ärztliche /
psychiatrische
Beurteilung
Antrag auf
behördliche FU
Ärztliche FU
Niederschwellige
Massnahmen
Wichtig:
Die Beiständin kann die Anordnung einer fürsorgerischen Unterbringung (FU), ärztlich oder
behördlich, nicht ersetzen.
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2. Rechtliche Konsequenzen eines Behandlungsfehlers
BGE 120 Ib 411
Sachverhalt: Herr G., ein Patient der offenen Station einer psychiatrischen Klinik,
veranlasste die stationäre Aufnahme seiner Ehefrau. Dr. A. führte ein Gespräch mit der
Ehefrau. Diagnose: zeitlich und autopsychisch nicht voll orientiert, Beeinträchtigungsund Verfolgungswahn. Dr. A. liess die Patientin für eine telefonische Rücksprache allein.
Sie begab sich währenddessen in den Korridor und stürzte sich aus dem Fenster.
Einen psychiatrischen Behandlungsfehler begeht insbesondere, wer eine konkret
erkennbare Suizidgefährdung oder die Gefahr des Entweichens nicht erkennt, sie
fehlerhaft einschätzt oder sie schlicht nicht beachtet. Je grösser die konkrete, aktuelle
Suizidgefahr ist, desto intensiver müssen die erforderlichen Vorsichtsmassnahmen sein.
Grundsätze der Arzthaftung werden analog auch bei Pflegefehlern angewendet.
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Was ist zu beachten:
Die Einwilligung fehlt oder die Behandlung war falsch: Haftpflichtfall
Die Haftpflichtversicherung ist zu informieren.
Die Krankengeschichte ist möglichst rasch zu vervollständigen.
FMH und SPZ empfehlen zeitnah ein Gedächtnisprotokoll zu erstellen.
Die wichtigsten Beweismittel im Haftpflichtstreit sind:
− die Krankengeschichte
− die Aussagen der Beteiligten
− die medizinischen Gutachten
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Haftpflichtverfahren
Strafverfahren
i.d.R. Betroffene
Betroffene oder Staat
Schadenersatz u/o
Genugtuung
Haft u/o Busse
i.d.R. Spital/Institution
die behandelnde(n)
Person(en)
i.d.R. vollständig gedeckt
i.d.R. Anwalts- und
Gerichtskosten
mittel
sehr tief
finanzielle Abgeltung
Rache, Verurteilung
Versicherungsentscheid,
Vergleich, Gerichtsurteil
Nichtanhandnahmeverf.,
Einstellung, Strafbefehl,
Anklageerhebung
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3. Bewegungseinschränkende Massnahmen
Das Gesetz regelt nur das Vorgehen bei urteilsunfähigen Menschen. Bei urteilsfähigen
Personen ist die einzige Möglichkeit die Bewegungsfreiheit einzuschränken mittels FU.
Voraussetzung: Das Verhalten eines Patienten gefährdet in erheblichem Mass die
Sicherheit und die Gesundheit (eigene oder diejenige anderer Menschen).
Die Massnahme ist verhältnismässig, d.h. mildere Massnahmen reichen nicht aus.
Bei äusserlichen Massnahmen entscheidet die Pflegeeinrichtung ob und welche
Massnahme ergriffen wird (Ruhigstellen durch Medikamente: Die vertretungsberechtigte
Person muss der Massnahme zustimmen).
Bewegungseinschränkende Massnahmen sind z.B.: Anbringen eines Bettgitters oder
Rollstuhltisches; Tragen von Gurten; Abschliessen von Fenster und Türen, elektronische
Massnahmen wie gesicherte Fenster und Türen.
Es ist immer ein Ermessensentscheid.
Der Mangel an Personal rechtfertigt keine bewegungseinschränkenden Massnahmen.
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Verlangt wird vom Gesetz:
− Protokollierungspflicht
− Überprüfung
− Information der zur Vertretung bei med. Massnahmen berechtigten Person
− Beschwerdemöglichkeit bei der KESB
Das Gesetz macht keine Vorgaben, wer in der Institution den Entscheid fällt. In akuten
Situationen muss die Pflege den Entscheid treffen können.
Jede Institution sollte ein Konzept betreffend den bewegungseinschränkenden
Massnahmen haben. Darin können Vorgehensweisen und Zuständigkeiten generalisiert
werden.
Die Dauer von bewegungseinschränkenden Massnahmen gehört nicht ins Reglement;
sie muss individuell festgelegt werden.
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Besten Dank!
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