LK 2015-1 Abiturprüfung Hessen 2015 – Deutsch

Abiturprüfung Hessen 2015 – Deutsch Leistungskurs
Vorschlag A
Abweisende Frauen – abgewiesene Männer
Erlaubte Hilfsmittel:
1. ein Wörterbuch der deutschen Rechtschreibung
2. eine Liste der fachspezifischen Operatoren
3. Fontane: Frau Jenny Treibel
4. Kleist: Die Marquise von O…
Aufgaben:
1. Geben Sie den Inhalt des Gedichts Abschied von seiner ungetreuen Liebsten von
Johann Christian Günther wieder und analysieren Sie Form, Sprache und Wirkung
des lyrischen Textes. (Material) (35 BE)
2. Vergleichen Sie das Verhältnis zwischen dem lyrischen Ich und der Liebsten in
Günthers Gedicht (Material) mit dem Verhältnis zwischen Wilibald Schmidt und
Jenny Treibel in Fontanes Roman Frau Jenny Treibel. (30 BE)
3. Konflikte zwischen abweisenden Frauen und (zunächst) abgewiesenen Männern
spielen in Fontanes Frau Jenny Treibel und Kleists Die Marquise von O… eine
wichtige Rolle. Dies zeigt sich in den Beziehungen zwischen Corinna und Marcell
Wedderkopp sowie zwischen der Marquise und dem Grafen F.
Beurteilen Sie – auch unter Berücksichtigung der gesellschaftlichen Bedingungen
der damaligen Zeit – das Verhalten der beiden Frauenfiguren ihren späteren Ehemännern gegenüber. (35 BE)
LK 2015-1
Material
Johann Christian Günther: Abschied von seiner ungetreuen Liebsten (um 1715)
5
10
15
20
25
30
35
Wie gedacht,
Vor1 geliebt, jetzt ausgelacht.
Gestern in die2 Schoß gerissen,
Heute von der Brust geschmissen,
Morgen in die Gruft gebracht.
Wie gedacht,
Vor geliebt, jetzt ausgelacht.
Dieses ist
Aller Jungfern3 Hinterlist:
Viel versprechen, wenig halten;
Sie entzünden und erkalten
Öfters, eh ein Tag verfließt.
Dieses ist
Aller Jungfern Hinterlist.
Dein Betrug,
Falsche Seele, macht mich klug;
Keine soll mich mehr umfassen,
Keine soll mich mehr verlassen,
Einmal ist vorwahr genug.
Dein Betrug,
Falsche Seele, macht mich klug.
Denke nur,
Ungetreue Kreatur,
Denke, sag ich, nur zurücke
Und betrachte deine Tücke4
Und erwäge deinen Schwur.
Denke nur,
Ungetreue Kreatur!
40
45
50
55
60
Bringt mein Kuß
Dir so eilends Überdruß,
Ei so geh und küsse diesen,
Welcher dir sein Geld gewiesen6,
Das dich wahrlich blenden muß,
Bringt mein Kuß
Dir so eilends Überdruß.
Bin ich arm,
Dieses macht mir wenig Harm7;
Tugend steckt nicht in dem Beutel8,
Gold und Schmuck macht nur die Scheitel9,
Aber nicht die Liebe warm.
Bin ich arm,
Dieses macht mir wenig Harm.
Und wie bald
Mißt10 die Schönheit die Gestalt!
Rühmstu11 gleich von deiner Farbe,
Daß sie ihres gleichen darbe12,
Auch die Rosen werden alt.
Und wie bald
Mißt die Schönheit die Gestalt!
Weg mit dir,
Falsches Herze, weg von mir!
Ich zerreiße deine Kette,
Denn die kluge Henriette
Stellet mir was Bessers für13.
Weg mit dir,
Falsches Herze, weg von mir!
Hastu5 nicht
Ein Gewissen, das dich sticht,
Wenn die Treue meines Herzens,
Wenn die Größe meines Schmerzens
Deinem Wechsel widerspricht?
Hastu nicht
Ein Gewissen, das dich sticht?
Aus: Klaus Bohnen (Hg.): Deutsche Gedichte des 18. Jahrhunderts, Stuttgart 1987, S. 38 ff.
Die Rechtschreibung entspricht der Textvorlage.
Hinweis: Johann Christian Günther (1695 –1723) war ein bedeutender deutscher Lyriker des frühen
18. Jahrhunderts.
LK 2015-2
1
2
3
4
5
6
7
vor: früher
die: (heute) den
Jungfer: Mädchen
Tücke: Boshaftigheit, Hinterhältigkeit
hastu: hast du
gewiesen: gezeigt
Harm: Kummer
8
9
10
11
12
13
Beutel: Geldbeutel
Scheitel: Kopf
mißt: verliert, entbehrt
Rühmstu: rühmst du
darbe: entbehre
für: vor
Hinweise und Tipps
r Das Gedicht des schon nicht mehr barocken Poeten Johann Christian Günther (Mar terial) gibt keine Rätsel auf und ist dennoch ein lyrisches Bravourstück. Es erschließt
r sich Ihnen am besten, wenn Sie es sich – nachdem Satz-, Wortschatz- und damit inr haltliche Verständnisprobleme mithilfe der Fußnoten ausgeräumt sind – leise und
r rhythmisch betont vorsprechen und den Rhythmus (für andere unhörbar!) mitklopfen.
r Sie erfassen so, wo bedeutsame Pausen und damit die klanglichen, gedanklichen und
r emotionalen Akzente sitzen. Markieren Sie diese Akzente. Was will der Verlassene?
r Wie ist ihm zumute? Notieren Sie am Rand des Textblatts Strophe für Strophe, wie er
r spricht. Beschreiben Sie die Wirkung des Textes auf Sie, um dann zu untersuchen,
r wie und mit welchen Mitteln sie erzeugt ist. Es unterstützt Ihre Arbeit, sich das Ger dicht grob zu gliedern.
r Die folgenden Aufgaben sind thematisch an Aufgabe 1 angeschlossen. Bereits für
r Aufgabe 2, den Vergleich, muss viel Inhalt rekonstruiert werden. Die LK-Kompetenz,
r mit der Sie hier punkten können, liegt vor allem in der methodischen und kognitiven
r Kunst, aus dem Volumen eines ganzen Romans die vergleichbaren Aspekte so ger schickt (so genau wie nötig und so komprimiert wie möglich) herauszuschälen und zu
r formulieren, dass der Bezug zu Günthers Gedicht weitgehend im Fokus bleibt. – Die
r noch umfangreichere Stoffmasse, aus der sie in Aufgabe 3 schöpfen müssen, macht
r es Ihnen wahrscheinlich unmöglich, in den Texten noch einmal das eine oder andere
r nachzuprüfen, sodass Sie ganz auf Ihre ja immer nur ungefähren Leseerinnerungen
r angewiesen bleiben. (Obwohl Sie also keine Zitate parat haben können, ist im
r Lösungshinweis nicht auf sie verzichtet.) Hinzu kommt, dass die Vergleichsmomente
r zwischen Kleists Novelle und den vorher bearbeiteten Texten verschwindend gering
r sind, während die Aufgabe, das Verhalten der Marquise zu beurteilen, letztlich die
r Wiedergabe der gesamten Novelle erforderlich macht. Werden Sie zum Verknapr pungs- und Formulierungskünstler. Legen Sie Wert auf beurteilende Sätze zum Bewer gungsspielraum einer (klugen) Frau in der jeweiligen Zeit.
LK 2015-3
Lösungshinweise
1. Die Entstehung des Gedicht Abschied von seiner ungetreuen Liebsten von Johann
Christian Günther wird auf (etwa) 1715 datiert. Das Gedicht wäre also 300 Jahre
alt? 300 Jahre von uns entfernt? Natürlich merkt man am Wortschatz, dass es sehr
alt sein muss. Aber das Temperament dieses Dichters und lyrischen Ich wirkt so
unmittelbar frisch und kraftvoll, wie das im Gedicht behandelte Thema aktuell ist:
Eine Liebesbeziehung geht in die Brüche. Mann und Frau hatten sich Treue
geschworen, aber die Liebste hat den Schwur gebrochen, denn einer ist aufgetaucht, der attraktiver für sie ist, weil er Geld hat. Die bittere Wahrheit: Der Liebende, der Poet, das lyrische Ich (man glaubt, den historischen Günther persönlich
sprechen zu hören) ist arm.
Nicht selbstverständlich für unsere an romantische Liebeslyrik gewöhnten Ohren
ist aber die Haltung des Verlassenen. Er überlässt sich nicht elegisch-wehmütigem
Trauern, sondern richtet sich stolz auf, behauptet seinen Selbstwert und reißt sich
aktiv von der Liebsten los. Zumindest versucht er es. Im Rollentausch verabschiedet er, wie die Überschrift und besonders die letzte Strophe sagen, sie, die
ihn verlassen hat. In neun Strophen vollzieht sich diese innere Verabschiedung
wie ein reinigendes Gewitter. Er spricht von seinem Schmerz (vgl. V. 32), und
man weiß, dass er leidet. Aber was er ihr hinterherruft, klingt vor allem zornig,
wild, trotzig und fast drohend in der angeschlossenen Belehrung. Obgleich das
Leid des Verlassenseins zum Ausdruck kommt, ist Günthers Gedicht keine Stimmungslyrik. Es ist vielmehr eine rhetorisch sorgfältig aufgebaute, lyrisch-dramatische Rede und Argumentation:
Die beiden ersten Strophen bilden die Einleitung. Die erste Strophe sagt, was
geschehen ist: Die Liebe ist jäh umgeschlagen in höhnische Abweisung. Tempo
und derbe Verben (reißen, schmeißen) betonen das Extreme des Umschwungs.
Die zweite Strophe reflektiert diesen Schicksalsschlag als allgemeingültigen Fall:
Alle Frauen seien launisch, unzuverlässig und falsch, sie versprechen viel und halten wenig. – In diesen Einleitungsstrophen ist das lyrische Ich nur indirekt anwesend (Vers 1 „Wie gedacht“ zu lesen als: „Wie ich mir gedacht habe“). Ab der
dritten Strophe aber tritt es auch grammatisch hervor und adressiert alles, was ihm
auf dem Herzen liegt, nun in direkter Anrede so an die Geliebte, als stünde sie vor
ihm. (Natürlich spricht das lyrische Ich, der vor den Kopf gestoßene Mann, hier zu
sich; nur geistig steht sie ihm vor Augen.) Die zusammengehörigen Mittelstrophen 4 bis 8 sind in sich noch einmal gegliedert (4 und 5; 6 bis 8). Dann folgt, in
Entsprechung zur Einleitung, der furiose Schluss (Strophe 9).
Als Konsequenz aus der Erkenntnis, dass alle Frauen untreu seien (Strophe 2),
erklärt das Ich der (imaginierten) Ungetreuen seine Generalabsage an die Frauen
überhaupt. Ihr abscheuliches Verhalten habe ihn für immer klug gemacht (Strophe 3).
Dann folgen die Vorwürfe. Er redet ihr ins Gewissen, fordert sie auf, sich an ihren
Schwur zu erinnern und ihre Schuld, ihren Betrug, ihre „Tücke“ (V. 25), zu erkenLK 2015-4