Franz Oberlehner Konstruktion, äußere Realität, psychische Realität

Franz Oberlehner
Konstruktion, äußere Realität, psychische Realität
Einleitung
Der Anlass für diese Arbeit ist eine Art Bestätigungserlebnis in der psychoanalytischen Behandlung einer Patientin: Eine rekonstruktive Deutung hatte sich durch äußere Umstände im Nachhinein bestätigt. Da mich
diese Episode weiter beschäftigt hat, habe ich versucht, die Fragen, die
sich daran knüpfen, herauszuarbeiten:
Die erste Frage betrifft die Behandlungstechnik: Wie kann man eine
Konstruktion zur Vergangenheit, wie ich sie bei besagter Patientin benutzte, in der heutigen psychoanalytischen Diskussion noch verorten? Die
zweite Frage ergibt sich aus dem Erlebnis der Bestätigung durch äußere
Realität: Dabei handelt es sich um so etwas wie Realitätsprüfung. Aber
ist Realitätsprüfung im psychoanalytischen Behandlungszimmer nicht fehl
am Platz? Diese zweite Frage führte mich gleich auch noch zu einer abstrakteren dritten, einer im Prinzip wissenschaftstheoretischen Frage: Kann
es bezüglich der psychischen Realität, dem zentralen Gegenstand von
Psychoanalyse als Wissenschaft, überhaupt eine befriedigende Form der
Realitätsprüfung geben?
Die Fallvignette
Ich arbeitete viele Jahre mit einer Patientin, Frau H, die sich nicht in der
Lage sah, eigene Wünsche zu haben, ein eigenes Leben zu leben, selbst
etwas zu wollen. Sie wies die längste Zeit jegliche Verantwortung für ihre
Entwicklung und unsere Arbeit von sich. Im Vorbewussten hing das mit
ihrer Angst zusammen, Tod und Verderben bringend zu sein. Sie sei Schuld
am Unglück ihrer Mutter, ihrer Familie – darin identifizierte sie sich mit
den Vorhaltungen ihrer Mutter, die spätestens seit ihrer Pubertät genau das
behauptete. Aus diesem Gefühl heraus hatte sie auch keine Zimmerpflanzen, geschweige denn Haustiere: Sie befürchtete, unter ihren Händen wür-
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den sie sterben. Gekommen war sie wegen depressiver Verstimmungen.
Erst nach einem Jahr wurde klar, dass sie ihre Destruktivität auch in Rheumaschüben somatisierte: Sie hatte mit solchen reagiert, nachdem sie vom Sitzen auf die Couch wechselte. Ohne die Gewissheit, von mir gesehen zu
werden, wurden Todesphantasien übermächtig. Sie wechselte nach ca. vier
Monaten wieder in die Sitzposition, in der sie dann bis zum Schluss blieb.
Als einmal die Frage auftauchte, ob sie jemals auch das Glück ihrer Mutter gewesen sei, antwortete sie nach langer Überlegung: Wohl schon, vor
ihrer Geburt, als Gedanke der Mutter, da habe sich die Mutter sicher sehr
auf Kinder gefreut. In diesem Zusammenhang erwähnte sie erstmals, dass
ihre Mutter vor ihr mit Zwillingen schwanger gewesen war und nach vier
Monaten einen Abortus erlitten hatte. Es wären die ersten Kinder gewesen,
so war sie die Erstgeborene. Ich maß dieser Erzählung große Bedeutung zu,
kam in der Deutung von Träumen und Phantasien häufig darauf zurück und
bot ihr Konstruktionen rund um ungeborene Geschwister und Totgeburt an.
In der Übertragung war ein inneres Teilobjekt einer kalt hassenden Mutter
präsent, die Lebendiges nicht aufkommen lassen wollte, zart sprießende
Pflanzen guter Stimmung mit mir immer wieder abtötete, mich als kalt
funktionierende Analysemaschine erlebte, mit einem Wort, die Behandlung zu einer Totgeburt zu machen drohte. Abgesehen von der Arbeit im
Hier und Jetzt hielt ich es aber auch für wichtig, dieses Geschehen in
sinnvolle Konstruktionen über die nicht erinnerbare Vergangenheit einzubinden. Die wichtigste davon bestand in der Vermutung, dass ihre Mutter wenig Möglichkeiten hatte, den Verlust der ungeborenen Zwillinge zu
verarbeiten, damit allein gelassen war, und die nächstgeborenen Kinder ersatzweise deren Platz einzunehmen hatten. Frau H hat zwei jüngere Brüder,
der ältere davon ebenfalls mit schweren Pathologien behaftet, der jüngere
gesünder und lebenstüchtiger. Eine gewisse Bestätigung für die Vermutung,
dass sie und der nächstfolgende Bruder jemand anderer hätten sein sollen,
lieferte ihre Erinnerung, dass sie die ungeborenen Zwillinge immer als
verschiedengeschlechtlich, also einen Bub und ein Mädchen, phantasierte.
Konstruktion
So weit reicht die Vignette einmal für die behandlungstechnische Frage:
Wie kann man eine solche Konstruktion zur Vergangenheit in der heutigen psychoanalytischen Diskussion verorten, ist sie noch zeitgemäß?