Tagblatt Online - «Neugierig und offen bleiben

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1. September 2015, 02:40 Uhr
Pensionierte müssen wieder lernen, kein Rad im beruflichen System
mehr zu sein – und ihre Freiheit auszukosten. (Bild: fotolia)
Immer mehr Neupensionierte brauchen
professionelle Hilfe (siehe Ausgabe von
Donnerstag): Michèle Dubois berät sie an der
Zürcher Hochschule für Angewandte
Wissenschaften – und weiss, womit sie hadern.
DIANA BULA
Frau Dubois, Sie sind 62 Jahre alt. Freuen Sie sich schon auf
Ihre Pensionierung?
Michèle Dubois: Einerseits ja, sicher. Es wird aber auch
Dinge geben, die mich herausfordern werden. Etwa werde ich
mich nicht mehr über den Beruf definieren können, ich werde
mich neu erfinden müssen, wie alle.
Haben davor auch die Menschen Angst, welche Ihre
Pensionierungsberatung aufsuchen?
Dubois: Mit dem Job fällt eine Bestätigung weg, die der
Mensch braucht. Er empfindet es oft als persönliche
Kränkung, beruflich nicht mehr gefragt zu sein. Viele Leute
fühlen sich laut Studien zehn bis zwölf Jahre jünger als sie
tatsächlich sind. Sie erleben sich als aktiv und energievoll,
wollen mit 64 oder 65 Jahren noch Pläne schmieden und sich
nicht wie auf dem Abstellgleis fühlen. Von einem Tag auf den
anderen fallen nun aber zentrale soziale Rollen und damit
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Persönlichkeitsfacetten weg. Das kann Angst machen, in ein
Loch oder gar in eine Depression zu fallen. Bei diesem
Übergang braucht es eine Neuorientierung. Pensionäre
machen nun mit sich aus, worin der Sinn des Lebens fortan
liegen soll. Das in der nachberuflichen Zeit herausfinden zu
dürfen, ist ein Geschenk.
Nachberufliche Zeit… Sprechen Sie bewusst nicht vom
Ruhestand?
Dubois: Ja. Früher, als die Arbeit dem Körper noch viel
abverlangte, hat man sich nach der Pensionierung zuerst
tatsächlich erholen müssen und ist deshalb oft einfach auf
dem Bänkli gesessen. Da passte das Wort Ruhestand noch.
Heute aber leben die Menschen länger, im Durchschnitt
werden sie 78 bis 84 Jahre alt. Die Pensionäre sind vielfach
fitter – und aktiver. Da kann nicht mehr von Ruhestand die
Rede sein. Wir sprechen lieber von der nachberuflichen Zeit.
Und die dauert mehrheitlich so lange wie die Kindheit und die
Jugend zusammen, etwa zwanzig Jahre. Das ist viel Zeit, um
sich Wünsche zu erfüllen und Themen zu widmen, für die
neben Arbeit und Familie keine Zeit blieb.
Zwei Menschen, die genug Geld haben, sich anlachen und
ohne Ende reisen: In der Werbung wird der neue
Lebensabschnitt stets als Paradies dargestellt. Nicht alle
empfinden die Pensionierung aber als späte Freiheit…
Dubois: Wer gesund ist und neben dem finanziellen Kapital
auch ein soziales Kapital angelegt hat, ist gut vorbereitet. Wer
jedoch viel gearbeitet und es verpasst hat, einen Freundeskreis
aufzubauen, der steht ohne Struktur plötzlich ziemlich alleine
da. Umso wichtiger ist es, nun neue Wege zu gehen und das
Verpasste anzupacken. Eine professionelle Begleitung
unterstützt dabei.
Wer lässt sich bei Ihnen beraten?
Dubois: Etwa fünfzig Menschen jährlich, die Zahl steigt stetig
– weil die Menschen die Zeit nach der Pensionierung
gestalten und nicht nur absitzen wollen. Es sind Leute, die
sich Fragen stellen zu sich und ihrer Zukunft, die sich gerne
Fragen stellen lassen, um ihre Situation aus einem anderen
Blickwinkel zu betrachten. Manchmal werden auch nur
Informationen gebraucht. Wie lange die Begleitung dauert,
hängt von der Frage des Klienten ab. Das reicht von einer
einmaligen Beratung bis zu einem längeren Prozess.
Wann ist der richtige Zeitpunkt, sich über die Zeit nach dem
Job Gedanken zu machen?
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Dubois: Das ist sehr individuell. Optimal ist es, wenn der
neue Lebensabschnitt geplant werden kann. Das kann ab 55
Jahren, mit 62 oder wann auch immer sein. Es braucht Zeit,
sich über die eigenen Träume klar zu werden. Bis es so weit
ist, kann man schon mal gewisse Dinge ausprobieren, ein
Hobby vertiefen – oder Beziehungen ausserhalb des Büros
wieder bewusst pflegen.
Braucht es denn gleich einen Businessplan fürs Alter?
Dubois: Nein, der wird in unserer Beratung auch nicht
ausgearbeitet. Ich gebe nur Impulse, damit das Gegenüber in
sich hineinhorcht. Reisen kann erfüllend sein – für einige
Zeit. Danach will man aber wieder gebraucht werden. Nur
wie? Wer es gewohnt war, Menschen zu führen, möchte das
vielleicht weiterhin tun und leitet Exkursionen des
Naturschutzvereins. Andere ziehen es gerade vor, etwas zu
unternehmen, das wenig mit früher gemein hat. Sie
engagieren sich in der Freiwilligenarbeit, betreuen
Enkelkinder und helfen Nachbarn. Wer gibt, erhält
Wertschätzung.
Wenn man die nicht bekommt, zeigen sich die ungesunden
Seiten der Rente?
Dubois: Im Nichtstun ist die Zeit nach der Pensionierung
ungesund. Leidenschaft und Sinn führen zu einem erfüllten
Dasein. Wer inaktiv ist, fordert sein Hirn zu wenig heraus,
dabei will es denken. Das Alter kennt auch Gefahren wie
Einsamkeit, Depression und Sucht. Soziale Aktivitäten und
vertieftes Interesse beugen all dem vor. Und sei es, dass man
Schmetterlinge katalogisiert, Biogemüse im Schrebergarten
züchtet oder sich in einer Lesegruppe austauscht.
Viele Firmen bieten Kurse für Menschen an, die bald in
Pension gehen. Wird dort genug aufgeklärt?
Dubois: Die Teilnehmer erfahren, wie sie sich finanziell auf
den neuen Abschnitt vorbereiten müssen. Unterdessen gibt es
auch Unternehmen, welche die Partner der Betroffenen mit
einladen. Diese Umstellung von der beruflichen zur
nachberuflichen Phase bedeutet auch, dass sich das Paar nicht
mehr nur morgens und abends sieht, sondern den ganzen Tag
miteinander teilt. Andere wichtige Themen wie die soziale
Vorsorge kommen aber oft nicht zur Sprache.
Zusammen sein oder alleine Ausflüge unternehmen, das
Leben nehmen, wie es kommt, oder dem Tag Struktur geben:
Diese Balance ist keine einfache Sache, wenn man viele Jahre
lang nach Schema gearbeitet hat.
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Dubois: Ja, auch das ist Thema in unserer Beratung.
Pensionierte lernen wieder, kein Rad im beruflichen System
mehr zu sein, nicht mehr der Firma verpflichtet zu sein,
sondern die Freiheit zu haben, die eigenen Ansprüche ins
Zentrum zu stellen. Diese Flexibilität zu erkennen und sie
auskosten zu können, das kann andauern. Wer dieser Phase
aber mit Offenheit und Neugier begegnet, wird sie geniessen.
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