memo - Bulletin für Gönner/-innen

1.2016
Bulletin für die Gönnerinnen
und Gönner der Schweizerischen
Alzheimervereinigung
Februar 2016
«Er geht gut damit um»
”
Ich vermisse den
Austausch mit den
Arbeitskollegen.
Leben mit Demenz vor der Pensionierung
Alex Jung war noch berufstätig,
als er die Diagnose Demenz
erhielt. Gemeinsam mit seiner
Frau und der Hündin Bella lebt er
den Alltag mit einer Krankheit,
über deren Verlauf noch wenig
bekannt ist.
Ein hübsches Reiheneinfamilienhaus
in einer idyllischen Wohnstrasse im
baslerischen Riehen: Die Tür geht auf
und ein grosser schwarzer Hund
schiesst in den gepflegten Vorgarten,
um den Besuch gebührend zu begrüs­
sen. Die «Golden-Mix-Dame» hört auf
den Namen Bella. Herrchen und Frau­
chen stehen in der Tür und heissen
uns ebenfalls herzlich willkommen.
Sabine Jung hat sich den Tag heute
frei­genommen. Die 56-Jährige leitet
ein Pflegeheim in Basel. Ehemann
Alex Jung, 63, ist nicht mehr berufstä­
tig. Bis 2014 betrieb er als Klimatechni­
ker seine eigene Firma für Haustech­
nik, Bau und Qualitätsmanagement.
2014 musste er das Geschäft aufgeben.
Seiner Krankheit wegen.
Alex Jung,
Demenz-Betroffener
Der lange Weg zur Diagnose
Alex Jung ist ein sympathischer
Mann mit wachen, freundlichen Au­
gen, die interessiert verfolgen, was um
ihn herum passiert. Das Sprechen
breitet ihm aber sichtlich Mühe. Seine
Frau, mit der er seit 25 Jahren zusam­
men und seit 17 Jahren verheiratet ist,
lässt ihn geduldig ausreden, hilft ihm,
wenn er nicht mehr weiterweiss. Vor
zwei Jahren wurde bei Alex Jung eine
seltene Form von Demenz festgestellt.
Sie gehört zum Typ «frontotemporale
Demenz», tritt früher auf als zum Bei­
spiel eine Alzheimer-Demenz, zwi­
schen 40 und 65 Jahren, und beein­
trächtigt insbesondere die Sprachfähigkeiten. Dass mit ihm etwas nicht
stimmt, bemerkte Alex Jung schon ei­
nige Jahre zuvor; er hatte zunehmend
Mühe, die richtigen Worte zu finden
oder Dinge zu benennen. Das Ehepaar
suchte den Hausarzt auf, der jedoch
nichts Auffälliges entdecken konnte
und sie an einen Spezialisten verwies.
Dort hiess es, Herr Jung leide an einer
Konzentrationsschwäche.
Aus dem Inhalt
Interview
Wissen zugänglich machen
Interview
Grüezi, Stefanie Becker
«Fehldiagnosen in Zusammen­
hang mit frontotemporaler Demenz
sind leider häufig», sagt Margrit
­Dobler, Sozialarbeiterin und Leiterin
einer Gesprächsgruppe für Angehöri­
ge von frontotemporalen Demenz­
erkrankten. Häufig werde eine De­
pression diagnostiziert. Die daraus
abgeleiteten Fehlbehandlungen wür­
den die Situation nur noch erschwe­
ren – für den Erkrankten, aber auch
für den Angehörigen, weil keine Ver­
besserung eintritt.
Eine Psychotherapie und ein Coa­
ching sollten Alex Jung helfen, sich im
Alltag wieder besser zurechtzufinden.
Doch das Gegenteil trat ein: Er fühlte
sich immer mehr überfordert und
sein sprachlicher Ausdruck wurde
merklich schlechter. Also liessen sie
weitere Abklärungen machen, ver­
suchten aber, nebenher normal wei­
terzuleben. Sie nahmen einen grösse­
ren Umbau an ihrem Haus vor. Und
Sabine Jung schenkte ihrem Mann
Bella zum Geburtstag.
Die Diagnose erhielten sie im Ok­
tober 2013: logopenische progressive
Aphasie, eine Unterform der fronto­
temporalen Demenz. Da es sich um
eine seltene Demenzform handelt, ist
über den Krankheitsverlauf wenig be­
kannt. Alex Jung erhielt die übliche
Alz­h eimer-Medikation verabreicht.
Die Nebenwirkungen waren heftig
und eine Verbesserung stellte sich
nicht ein; daher wurden die Medika­
mente in Absprache mit der Ärztin
abgesetzt. Sie fühlten sich damals
sehr allein gelassen. Auch die emp­
fohlene Intensivtherapie aus Ergo-,
Physiotherapie und Gedächtnistrai­
ning zeigte nicht die erhoffte Wirkung,
und die vielen Termine waren für Alex
Jung eher belastend. «Viel besser tat
es ihm, mit Bella im Wald spazieren
zu gehen», sagt seine Frau.
Ein Herz und eine Seele: Alex Jung und
die Hundedame Bella.
Fühlen sich in ihrem Zuhause wohl: das
Ehepaar Jung beim Nüsseknacken.
«Ich bin doch nicht allein»
Die Spaziergänge mit dem Hund
sind ein wichtiger Bestandteil des All­
tags von Alex Jung, den er zu Hause
verbringt, während Sabine Jung arbei­
tet. Mittags ruft er seine Frau an, so
haben sie es vereinbart. Ihre Büro­
nummer ist bei ihm gespeichert und
mit einem Tastendruck abrufbar.
Traurig stimmt sie, ihn allein zu Hau­
se zu wissen, auch wenn es ihm damit
gut geht, sagt sie. «Aber ich bin doch
nicht allein», entgegnet Alex Jung,
«ich habe Bella.»
Dass sie sich zu viele Sorgen
macht, hört Sabine Jung oft von ihrem
Mann. Deswegen gab es auch schon
Streit. «Wenn die Partner nicht mehr
auf der gleichen Ebene kommunizie­
ren können, sind Konflikte vorpro­
grammiert», weiss Margrit Dobler aus
ihrer Erfahrung. Umso wichtiger sei
die Diagnose, denn sie erklärt, warum
jemand auf welche Weise reagiert.
«Bei Demenzerkrankten mit beson­
ders herausforderndem Verhalten,
das sich zuweilen auch beleidigend
bis gewalttätig gegenüber dem Part­
ner ausdrückt, ist die Verständigung
noch viel schwieriger, oder gar nicht
mehr möglich. In solchen Fällen
kommt es auch zu Trennungen.»
Abgesehen davon, dass Alex Jung
einmal eine Tomate nach seiner Frau
geworfen hat, zeigte er nie aggressives
Verhalten. «Die Tomate habe ich ihm
nachher in einem Ratatouille serviert,
damit war der Vorfall gegessen», sagt
Sabine Jung belustigt in die Richtung
ihres Mannes, der sich zwar nicht da­
ran erinnern, ein Schmunzeln aber
dennoch nicht unterdrücken kann.
Alex Jung wirkt in der Tat sehr ruhig,
mit sich und der Welt zufrieden. Heu­
te könne er nach einer Meinungsver­
schiedenheit auch Frieden schliessen,
das sei ihm früher eher schwergefal­
len, sagt sie. Er nickt: «Ja, ich bin zu­
frieden.»
Die Beziehung verändert sich
Auf die Frage, ob er denn nichts
vermisse, antwortet er mit einem kla­
ren «doch». Den Austausch mit Men­
schen bei der Arbeit etwa. Oder das
Lesen. Früher habe er Zeitungen ge­
radezu verschlungen. Heute würde er
es nicht einmal mehr versuchen. «Ich
habe Angst, festzustellen, dass ich es
nicht mehr kann», sagt er. Sabine Jung
fehlt das «ungezwungene Schwatzen»
mit ihrem Mann. «Wir haben immer
viel und gern diskutiert.» Heute wür­
den sie häufiger mit dem Hund spa­
zieren gehen, zusammen Radio und
Musik hören oder in ihrem schönen
Garten werkeln. Der grosse Nuss­
baum hat dieses Jahr besonders viel
abgeworfen, da könne man stunden­
lang zusammen Nüsse knacken.
«Das Wichtigste ist, zu akzeptieren,
dass die Krankheit eine Beziehung
verändert», sagt Margrit Dobler. «Sich
zu sagen: Es ist immer noch mein
Ehepartner, aber nicht mehr die glei­
che Person, die ich einmal geheiratet
habe. Ich bin seine Ehefrau aber auch
seine Betreuerin und Pflegerin.» Das
falle vielen schwer, denn es sei auch
ein Abschied auf Raten, wenn sich die
erkrankte Person immer mehr aus der
gemeinsamen in eine eigene Welt zu­
rückzieht.
Die Krankheit lässt sich nicht auf­
halten, aber womöglich etwas ver­
langsamen. Alex Jung versucht es
­erneut mit Logopädie. Sabine Jung
möchte so lange wie möglich weiter­
arbeiten. Sie liebt ihren Beruf, der ihr
einerseits viel abverlangt und ande­
rerseits sehr viel gibt. Ihr Mann hat
kürzlich erklärt, wenn er nicht mehr
alleine zu Hause bleiben könne, wür­
de er ins Pflegeheim gehen. «Für mich
ist das Pflegeheim kein Schreckge­
spenst, sondern kann eine gute Op­
tion sein.» Die Erfahrungen aus ihrer
Arbeit zeigen sich hier als Vorteil.
«Und auch, dass mein Mann so gut
mit der Krankheit umgeht», fügt sie an.
«Ich bewundere das an ihm.» Manch­
mal, wenn sie sich mit anderen Betrof­
fenen unterhalte, denke sie, dass es
noch viel schlimmer sein könnte. «Ja,
gell», sagt ihr Mann, «wir haben es
doch eigentlich gut.» Dann steht Alex
Jung auf. Er hat für den Moment genug
geredet. Er sieht nach, was Bella macht.
Stolze Ernte: Nüsse vom eigenen Baum
aus dem Garten.
Wissen zugänglich machen
Pflegewissenschafter Georg Franken über frontotemporale Demenz
Herr Jung leidet an einer speziellen
Form von frontotemporaler Demenz,
die in erster Linie die Sprachfähigkeiten beeinträchtigt. Welche ande­ren Formen gibt es und wer ist
davon betroffen?
Bei einer frontotemporalen De­
menz (FTD) unterscheidet man heute
im Wesentlichen zwischen zwei
Haupttypen: der Verhaltensvariante,
bei der sich Verhalten und Persönlich­
keit verändern, und den sprachlichen
Varianten, die wie bei Herrn Jung
durch verschiedene Formen sprachli­
cher Beeinträchtigungen gekennzeich­
net sind. Betroffen sind häufig Men­
schen zwischen 40 und 65 Jahren.
Bei der FTD wird von herausfor­
derndem Verhalten gesprochen. ­
Was bedeutet das konkret?
Gemeint sind Verhaltensweisen,
die Angehörige oder Pflegepersonen
herausfordern, beispielsweise ent­
hemmtes Verhalten. Die Betroffenen
handeln impulsiv, machen etwa an­
zügliche Bemerkungen oder geben
leichtsinnig Geld aus. Dann ist stereo­
types Verhalten typisch, zum Beispiel
wiederholtes Summen oder Schmat­
zen. Schliesslich ist auch Apathie oft
anzutreffen. Die Betroffenen vernach­
lässigen Beruf oder Haushalt und ver­
lieren das Interesse an ihren Hobbys.
Verändert sich dieses Verhalten im
zeitlichen Verlauf der Erkrankung?
Die Verhaltensweisen können im
Krankheitsverlauf, aber auch je nach
Situation variieren. Die Betroffenen er­
scheinen apathisch, wenn sie auf sich
allein gestellt sind, bei Stimulation
können sie enthemmt reagieren. Mit
Fortschreiten der Erkrankung verhin­
dern zunehmende Beeinträchtigungen
manche Verhaltensweisen.
Was ist der grösste Handlungsbedarf?
Was wir heute wissen, ist in der Öf­
fentlichkeit, aber auch bei Fachperso­
nen, wenig bekannt. Um zielgerichtet
unterstützen zu können, brauchen wir
vielfältige und leicht zugängliche In­
formationen für unterschiedliche Ziel­
gruppen: Erwachsene, Jugendliche,
Erkrankte und pflegende Angehörige.
Dann sind kompetente Fachpersonen
wichtig, die eine frühzeitige Diagnose
und angemessene Begleitung der Be­
troffenen gewährleisten können. Und
schliesslich bedarf es spezialisierter
Beratungs- und Unterstützungsange­
bote, wie sie die Schweizerische Alz­
heimervereinigung entwickelt, die auf
die besonderen Herausforderungen
dieser Demenzerkrankung eingehen.
Georg Franken ist Pflegewissenschafter an
der Universität Witten/Herdecke und Pflege­praktiker.
Was wir tun
Gerade bei seltenen Demenzformen
braucht es kompetente Beratung, die
auf die spezifischen Bedürfnisse der Betroffenen zugeschnitten ist. Die Alz­­
heimervereinigung baut in der ganzen Schweiz entsprechende Angebote
auf. So gibt es neu Grup­pen für An­
gehörige von Menschen mit frontotem­
poraler Demenz, und die Anlaufstellen
stehen zur Verfügung bei Fragen zum
Krankheitsbild und zum Umgang mit
den Erkrankten.
Grüezi, Stefanie Becker
Die neue Geschäftsleiterin im Interview
Sie waren zuvor Leiterin des
Instituts Alter der Berner Fachhochschule. Was war Ihre Motivation,
von der Forschung in die Praxis zu
wechseln?
Ich habe bereits viel gesehen und
erfahren und hoffe, mir bald einen
richtigen Überblick verschafft zu ha­
ben. Ich kenne die Alzheimervereini­
gung, seit ich 2010 in die Schweiz ge­
kommen bin. Umso spannender ist es,
nun einen Blick hinter die Kulissen zu
werfen und zu sehen, wie professio­
nell hier gearbeitet wird. Natürlich
gibt es auch noch viel zu tun. Und da­
rauf freue ich mich sehr.
Mit Blick auf meinen bisherigen
beruflichen Werdegang, der sich im­
mer stärker auf die Praxis ausrichtete,
war ein solcher Wechsel ein logischer
weiterer Schritt: Ich war zuerst an der
Universität Heidelberg in der Grund­
lagenforschung und später in der an­
wendungsorientierten Forschung tä­
tig, bevor ich an der Fachhochschule
meinen Blick weiter für die Praxis
schärfen konnte. Als Geschäftsleiterin
der Alzheimervereinigung habe ich
nun die Möglichkeit, meine bisheri­
gen Berufserfahrungen und meine
Fachkenntnisse als Psychologin und
Gerontologin mit dem Thema zu kom­
binieren, das mich schon seit Jahren
auch persönlich beschäftigt – und das so
nahe an der Praxis wie noch nie vorher.
© Stefanie Becker
Stefanie Becker, seit wenigen
Wochen sind Sie offiziell im Amt
als Geschäftsleiterin der Schwei­ze­rischen Alzheimervereinigung.
Wie ist es Ihnen ergangen?
Welches sind Ihre Ziele und
Erwartungen?
«Es gibt viel zu tun; darauf freue
ich mich.»
Mittelfristig ist die Umsetzung der
nationalen Demenzstrategie eines der
wichtigsten Ziele, und zwar mit dem
Anspruch, sie runter vom politischen
Parkett auf den Boden der echten Um­
setzung zu bringen. Ich hoffe, dass wir
damit in den nächsten Jahren einen
entscheidenden Beitrag zu einer de­
menzfreundlichen Gesellschaft leisten
können. Wir, das sind der Dachver­
band und alle kantonalen Sektionen
der Alzheimervereinigung. Die enge
Kooperation mit unseren Sektionen,
die ausserordentlich grosse Leistun­
gen erbringen, ist für mich zukünftig
eine wichtige und zentrale Aufgabe.
Denn ich bin überzeugt davon, dass
wir unsere gemeinsamen Ziele auch
nur gemeinsam erreichen können.
Welches sind Ihre privaten
Interessen?
Berufliche und private Interessen
lassen sich bei mir nicht so strikt
trennen. Das, was ich beruflich ma­
che, beschäftigt mich auch privat.
Ich verbringe meine freie Zeit aber
auch gerne in der Natur, etwa bei
Spaziergängen an der Aare, bei de­
nen ich mich sehr gut entspannen
kann. Und als persönliches Ziel habe
ich mir vorgenommen, wieder häufi­
ger Klavier zu spielen.
NEWS
Schweizerische Alzheimervereinigung
Rue des Pêcheurs 8E
CH-1400 Yverdon-les-Bains
Tel. 024 426 20 00, Fax 024 426 21 67
[email protected], www.alz.ch
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Alzheimer-Telefon: 024 426 06 06
Mo – Fr, 8 – 12, 14 – 17 Uhr*, d / f / i
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und Ihrer kantonalen Sektion: www.alz.ch
«memo» erscheint 3-mal jährlich in einer
Auflage von ca. 100 000 Exemplaren.
02/2016 Fotos: Maurice K. Grünig
«Menschen mit Demenz
als Kunden»
Im Berufsalltag kommen wir immer
wieder mit Menschen mit Demenz in
Kontakt. Es ist wichtig, die Anzeichen
einer solchen Krankheit zu erkennen,
um Schwierigkeiten und Missverständnisse zu vermeiden. Im Kanton Wallis
führt die Alzheimervereinigung zielgruppenspezifische Schulungen, etwa
für Zahnärzte, durch. Solche Angebote
werden in Zukunft vermehrt von den
kantonalen Sektionen durchgeführt
werden. Broschüren zum Thema finden Sie in der Infothek auf www.alz.ch.
©
Neue Studie zeigt: Aufklärung
zu Demenz tut not
Nur 35 Prozent der Bevölkerung über
40 Jahre fühlen sich gut oder sehr gut
über Demenz informiert. Auch besteht
nach wie vor grosse Unsicherheit im
Umgang mit den Betroffenen. Dies
zeigt eine neue Studie von gfs zürich.
Die Alzheimervereinigung und Pro
Senectute haben im Rahmen der Sen­
si­bilisierungskampagne «Demenz kann
jeden treffen» Videoporträts von Betroffenen realisiert, die an Demenzkranke und Angehörige appellieren,
offen mit der Krankheit umzugehen.
www.memo-info.ch/de/demenz-alltag