Wie ich meine Heimat verlassen mußte

Wie ich meine Heimat verlassen mußte
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Die Jahre 1945 und 1946 -
Aus dem Tagebuch von
Magdalene Riedel, geb. Kahlmann
Magdalena Riedel lebte in Sprottau, dem damaligen Niederschlesien. Sie
hatte vier Kinder und brachte kurz vor Beendigung des Zweiten
Weltkriegs ein Baby zur Welt. Sie erlebte die Besetzung ihrer Heimatstadt
durch sowjetische Soldaten und blieb – wohl wegen ihrer zahlreichen
Kinder - vor Vergewaltigungen verschont. Sie erhielt sogar von einigen
Soldaten heimlich Nahrungsmittel. Als Polen die Verwaltung Schlesiens
übernahmen, wurde sie zusammen mit den anderen deutschen
Bewohnern aus ihrer Heimatstadt ausgewiesen. Von ihrem Hab und Gut
durfte sie lediglich zwei Handwagen, Bettzeug und Kleidungsstücke
mitnehmen. Auf dem Fußmarsch war Hunger ständiger Begleiter ihrer
Familie, so dass ihr Baby wegen der Entbehrungen starb. Ihr Weg in die
neue Heimat war gekennzeichnet durch den Kampf ums Überleben,
durch die ständige Suche nach Nahrungsmitteln und Unterkünften.
Im Januar 1945 saßen wir noch gemütlich in unserer netten warmen Wohnung in
Sprottau, Sagener Straße 13. Draußen zogen bei 20° Grad Kälte die Flüchtlinge mit
Pferdegespannen, Fahrrädern und Handwagen auf unserer Straße in Richtung Sagan
entlang. Es war herzzerreißend anzusehen. Kinder und alte Leute waren in Betten
oder in dicke Decken eingepackt. Mütter stillten ihre Säuglinge auf dem Wagen. Viele
Tage zogen die Trecks an unserem Haus vorbei. Sie kamen aus dem Wartegau,
später aus Fraustadt, Rawitsch und Glogau. Meine Kinder hockten laufend am
Fenster, denn für sie war das ein Erlebnis. Oft konnte ich sie beobachten, wie sie
selbst Flüchten spielten. Sie packten ihre Spielsachen in einen kleinen Rucksack und
trugen ihn auf dem Rücken durch das Zimmer. Mich fragten sie: „Wann geht es denn
bei uns los?“ Die Kinder konnten es nicht begreifen, was sich da auf der Straße
abspielte. Bei meinem Bruder Herbert, der gegenüber wohnte (er besaß das
elterliche Gut), war jeden Abend Hochbetrieb. Es kam vor, daß bis zu 10
Pferdegespanne auf seinem Hof standen. Sein Wohnzimmer hatte er ausgeräumt und
mit Stroh belegt, darin schliefen 10 bis 15 Personen. Auch im Kuhstall war ein
Nachtquartier eingerichtet. Oft nahm ich mir auch in unsere Wohnung Leute mit zum
Schlafen. Für mich war es nicht leicht, da ich doch vier kleine Kinder hatte. Der
älteste Sohn war erst 6 Jahre alt und ich im 9. Monat schwanger.
Die nächsten Tage waren für uns sehr aufregend. Deutsche Soldaten brachten die
Nachricht, daß die Festung Glogau von den Russen erobert worden ist. Nun hatten
wir uns jeden Abend zusammen getan, entweder bei meinen Eltern, bei meinem
Bruder oder bei uns, um zu beraten, wie wir es am besten machen könnten, um
nicht in die Kampfhandlungen verwickelt zu werden. Mein lieber Vater sagte: „Von
meinem Hof gehe ich nicht weg“. Bald erfuhren wir von deutschen Soldaten, daß die
Russen schon bis Primkenau vorgerückt waren, das waren 10 Kilometer von uns. Sie
warnten uns davor zu bleiben, es würde uns nicht gut ergehen. Sie, die Russen,
würden uns alle vergewaltigen. Mein Mann machte mir den Vorschlag, ich solle mich
seinen Eltern und Schwestern anschließen. Meine Schwägerin Lucia hatte auch drei
kleine Kinder, und so hofften wir, daß sich das Amt „Mutter und Kind“ für einen
Abtransport mit der Bahn einsetzen wird. Die jüngste Schwester meines Mannes war
16 Jahre alt, von ihr konnte ich auch etwas Hilfe erwarten. Meine Eltern entschlossen
sich zu flüchten. Sie wollten mich natürlich gerne mitnehmen. Ich mußte ja auch jede
Stunde mit meiner Niederkunft rechnen, denn bei dieser Kälte auf der Landstraße
entlang zu ziehen und dann hilflos in fremder Gegend zurückzubleiben, wollte
reichlich überlegt sein.
Es war der 10. Februar, mein Geburtstag, als der Flughafen gesprengt wurde. Viele
Fensterscheiben in der Stadt zerbarsten. Meine Schwiegermutter holte mich und
meine Kinder zu sich. Ich nahm Abschied von meinen Eltern.
Mit zwei
zusammengenähten Mangeltüchern - darin zwei Deckbetten und vier Kopfkissen einem Koffer für den kommenden Erdenbürger, einem Koffer Wäsche zum Wechseln
und etwas Oberbekleidung für mich und meine vier Kinder zogen wir zu meinen
Schwiegereltern.
Mein Mann und mein Bruder wurden in den letzten Tagen zum Volkssturm
eingezogen. Sie mußten eine Panzersperre bewachen.
Ich hatte mich zusammen mit meinen Kindern im ehemaligen Zimmer meines
Mannes niedergelegt, als es an der Haustür klopfte. Einer der Nachbarn brachte die
Nachricht, daß ein Zug eingesetzt wird. Wir sollten uns beeilen und uns zur
Sammelstelle „Wilhelmshütte“ begeben. Dort standen wir mehr als zwei Stunden
unter freiem Himmel. Es fing an zu regnen. Es wurde so dunkel, daß man kaum die
Hand vor Augen sah.
Die Kinder froren und fingen an zu weinen. Da sagte mein Schwiegervater: „Komm
wir, gehen in unsere Wohnung. Die Kinder erfrieren doch. Mag da kommen, was
will“. Am nächsten Morgen fuhr ich mit dem Fahrrad in meine Wohnung, um noch
etwas zu holen. Unterwegs erfuhr ich, dass meine Eltern, meine Schwägerin mit
ihren fünf Kindern (Hubert, der älteste, war erst acht Jahre alt), das Hausmädchen
Erna, meine Schwester Elisabeth mit ihrer Schwiegermutter und ihrem Sohn
Johannes mit einem Pferdegespann geflüchtet sind. In der Nacht hatten sie viele
Soldaten zum Übernachten. Sie haben einfach die Pferde angespannt und meinten,
bloß raus hier. Bei den Russen wird es euch nicht gut ergehen. Mein Vater wurde von
meiner Mutter überredet, das Gut zu verlassen. Mit 72 Jahren konnte er auch nicht
allein zurück bleiben.
Meine Eltern kauften das Gut in Sprottau, Auenweg 5, gleich nach ihrer Hochzeit. Sie
fingen mit viel Schulden an, da sie nicht gleich alles bezahlen konnten. Im Laufe der
Jahre wurde das Wohnhaus gebaut, die Ställe für die Pferde, Kühe und Schweine
wurden ausgebaut. Ackerland und Wiesen wurden dazu gekauft. So wurde es ein
schönes großes Gut mit neuzeitlichen Maschinen und Geräten.
Die Ehe war gesegnet mit fünf Kindern. Als Kinder mussten wir fleißig mithelfen.
Mein Bruder lernte das Schlosserhandwerk, Alfred trat nach 10-jähriger Schulzeit die
kaufmännische Laufbahn an. Mein Bruder Herbert, meine Schwester Elisabeth und
ich halfen auf dem Gut. Wir Geschwister waren „ein Herz und ein Sinn“. Gern denke
ich an die schönen Winterabende zurück. Mein Bruder war Senior in der
Kolpingfamilie; oft brachte er Kolpingbrüder mit. Da wurde musiziert, getanzt und
gespielt. Meine Mutter hat so manchen Walzer mit uns getanzt. Sie sagt heute noch:
„Das war die schönste Zeit, als ihr noch alle zuhause wart. Ich bin meinen Eltern sehr
dankbar, daß sie mich so arbeitsam, sparsam und religiös erzogen haben. Alle fünf
Kinder waren rein katholisch verheiratet. Das Gut wurde meinem ältesten Bruder
Herbert übergeben. Meine Eltern wollten nun ihren Lebensabend gemütlich auf dem
Gut verbringen.
Und nun mussten sie ihr Gehöft am 11. Februar 1945 verlassen, das sie mit so viel
Mühe und Schweiß erworben hatte. Wie mag ihnen zu Mute gewesen sein?
Ich stand nun an diesem Sonntagmorgen so gegen 8.00 Uhr vor dem leeren Gehöft.
Es ging mir sehr nahe, und eine Träne nach der anderen rollte mir über die Wangen.
Ja, die Ungewissheit zu haben, ob ich sie alle noch einmal einmal wiedersehen
würde, machte mir das Herz sehr schwer. Ich faßte Mut und fuhr wieder zu meinen
Kindern. Am Nachmittag kam mein Bruder Alfred, um sich von mir zu verabschieden.
Er hatte seine Frau Christa mit den drei Jungen zum Bahnhof gebracht. Er wurde als
Oberleutnant von Berlin aus in seine Heimatstadt zum Einsatz kommandiert. Er
tröstete mich und drückte mir die Hand. An seine Worte denke ich heute noch.
Wer wird es von uns richtig gemacht haben: die, die geflüchtet sind, oder die, die
noch hier geblieben sind. Wir müssen alles in Gottes Hand legen. Es kann auch sein,
dass ich auf Vaters Erde fallen muss. Vier Tage später ist mein Vater 20 km hinter
Sprottau gefallen.
Der Abend rückte heran – es wurde dunkel. Meine Schwiegereltern waren der
Meinung, es wäre besser, wir gehen in den ausgebauten Luftschutzkeller in Symallas
Gasthaus, um das Schießen nicht so laut hören. Das Gasthaus lag über der Straße.
Dort legten wir die Kinder zum Schlafen. Wir Erwachsenen konnten vor lauter
Aufregung keine Ruhe finden. Am nächsten Morgen gingen wir wieder in das Haus
der Schwiegereltern zurück. Am Nachmittag ging eine Parole herum: Alles in die
Wilhelmshütte, es werden Busse eingesetzt. Auf einmal kam mein Mann; er hatte
sich unerlaubt beim Volkssturm freigemacht. Er brachte mich und die Kinder zur
Wilhelmshütte, sie lag nur fünf Minuten von seiner elterlichen Wohnung entfernt. Wie
wir dort so warteten, schlugen schon die ersten Granaten ein. Eine traf einen Baum,
so dass die Holzstücke in der Luft herumflogen. Nun hieß es, so schnell wie möglich
in den Luftschutzkeller. Mein Mann nahm den Kinderwagen und etwas Gepäck, ich
die Kinder. Er holte schnell noch einen anderen Koffer in den Keller und ging dann
wieder auf seinen Posten zurück. Das war sehr aufregend, als mein Mann uns wieder
verlassen musste. Er kam gerade noch zur rechten Zeit. Der Volkssturm war beim
Abrücken in Richtung Sagan. Das war so gegen 6 Uhr abends. Nun fanden sich noch
mehr Leute aus der Nachbarschaft ein. Wir waren mit den Kindern 21 Personen. Die
Kinder legten wir in die Luftschutzbetten zum Schlafen. Mein Schwiegervater ging
öfter hinaus, um zu sehen, was da vorging. Autos von der Wehrmacht rasten hin und
her und brachten verwundete Soldaten aus der Stadt heraus. Frau Schuldig, die
Hebamme, war die letzte, die heraus fuhr, Sie holte die Wöchnerinnen, die in den
letzten Tagen entbunden hatten. Einmal war ich mit meiner Schwägerin Lucia auch
auf der Straße, es herrschte eine Totenstille. Das deutsche Militär war heraus. Die
Innenstadt brannte lichterloh. Es war so hell, daß man auf der Straße Zeitung hätte
lesen können. Wir gingen wieder in den Keller und legten uns abwechselnd nieder,
denn die Luftschutzbetten reichten nicht für alle. Schlafen konnte keiner von uns,
denn es war alles so aufregend. Vom Nonnenbusch hörte man es Schießen in
Richtung Sagan. Auf einmal ging das elektrische Licht aus. Wir beteten, auch die
Nichtgläubigen fanden dabei Kraft. Meine Schwägerin Lucia und ich lagen zusammen
in einem Luftschutzbett. Ich zitterte vor Aufregung am ganzen Körper, denn die
Angst war groß, daß es bei mir los gehen könnte und die Hebamme noch nicht da
wäre. Man machte sich viele Sorgen: Kommt mein Mann wieder? Werden uns die
Russen vergewaltigen? Uns erschießen? Uns die Kinder wegnehmen? Die deutschen
Soldaten hatten uns doch so viel Grausames erzählt.
Auf einmal hatte ich eine Vision: es wurde ganz hell in einer Ecke und eine Stimme
sagte: Dein Mann kommt wieder. Daraufhin bekam ich eine innere Kraft.
So gegen 4 Uhr morgens hörten wir dann, wie der Russe unsere Stadt besetzte.
Pferdewagen zogen hin und her, Fensterscheiben klirrten, mit Äxten wurden die
Türen eingehauen. Wir hörten Stiefelschritte die Treppe herunterkommen. Ein Soldat
in russischer Uniform kam herein, der sagte: „Geht in eure Wohnungen“. Wir nahmen
an, daß er ein Deutscher war, denn er sagte es in einem guten Deutsch.
Im Haus meiner Schwiegereltern machten wir es uns bequem, denn wir dachten, das
Schlimmste wäre überstanden. Die Schwiegermutter machte gleich Feuer im Ofen
und kochte Kaffee, damit wir uns wieder aufwärmen konnten. Sämtliche Schränke
und Schübe waren aufgerissen und alles war durchwühlt. Es dauerte nicht lange, da
kamen laufend Russen, die uns durchsuchten. Dem Schwiegervater nahmen sie
zuerst die Uhr, dann auch die goldene Kette weg. Er wollte sich dagegen wehren,
aber wir haben ihm gut zugeredet, sonst hätten die Russen Gewalt angewendet.
Auch mir nahmen sie die Armbanduhr und meinen Trauring weg. Den ganzen Tag
wurden wir belästigt. Gegen Abend wurde unser Haus besetzt.
Wir –alle 21 Personen – mußten in das 16 qm kleine Wohnzimmer. Die Kinder legten
wir auf den Boden. Wir hatten nicht den Platz, daß wir alle sitzen konnten. Öfter
kamen Russen herein, die sagten, daß wir alle tot gemacht werden. Wir waren
froh, als der Morgen endlich kam. Es war wirklich nicht einfach, mit sieben kleinen
Kindern – alle unter 6 Jahren – in einem so kleinen Raum zu hausen. Meine
Schwiegermutter erbettelte sich Holz, um für die Kinder ein Süppchen im Ofenlochauf offenem Feuer – zu kochen.
Die Russen hatten sich eine vergnügte Nacht gemacht. Es wurde getanzt und
gespielt. Es gefiel ihnen sicherlich nicht, daß wir alles mit ansehen und anhören
konnten. Denn die Tür war nur eingeschlagen. Um die Mittagszeit mußten wir alle
auf dem Hof antreten. Wir dachten, daß wir auf einen Platz geführt und dort
erschossen werden. Sie führten uns jedoch zwei Häuser weiter in das Haus von
Schorsch. Dort bekamen wir zwei Zimmer und eine Küche zu gewiesen. Auch hier
mußten wir schwere Stunden durchmachen, denn laufend wurden wir von den
Russen belästigt. Einmal wollten sie meinen Schwiegervater erschießen, weil er
seine Tochter Ursel – 16 Jahre – nicht mitgehen lassen wollte. Wir hatten sie als alte
Frau angezogen; sie wurde leider immer als junge Frau erkannt. Fast jeden Abend
klopfte es an der Tür, um sie zu holen. Einmal wurde sie bis an die Vorsaaltür
gezogen. Mein Schwiegervater stellte sich dazwischen und sagte: „ Bis hierhin und
nicht weiter“. Da wollten sie ihn erschießen, gaben aber nur einen Warnschuß ab.
Fast alle Frauen, die zu Hause geblieben sind, wurden vergewaltigt. Meine
Vermieterin, Frau Windisch, wurde als 50jährige dreimal innerhalb einer Nacht
vergewaltigt. Fräulein Babe wurde abends geholt und man fand sie am nächsten Tag
tot auf dem Feld von Dominium. Weil wir immer unsere kleinen Kinder um uns
hatten, wurden wir verschont, denn die Kinder weinten, sobald sich die Russen
näherten.
Die Front rückte immer weiter nach Westen vor. Dadurch kamen neue Truppen. Das
Haus meiner Schwiegereltern in der Kaiser-Otto-Straße wurde wieder frei, und mein
Schwiegervater ging als erstes zur Kommandantur, um nachzufragen, ob wir zurück
in unser Haus ziehen dürften. Wir bekamen die Erlaubnis. Am nächsten Tag gingen
wir in meine Wohnung, um nach dem Rechten zu sehen. Es kann sich niemand
vorstellen, wie es auf den Straßen aussah. Die Wohnungseinrichtungen standen auf
den Straßen, Gardinen und Betten hingen in den Bäumen. Das Vieh von meinem
Bruder lief umher und brüllte und keiner kümmerte sich. Es war ein schrecklicher
Anblick, wir waren machtlos den Dingen gegenüber. In meiner Wohnung standen nur
noch die Möbelstücke. Bekleidung und Wäsche hatten die Russen mitgenommen.
Frau Windisch, meine Hauswirtin, meinte, ich sollte wieder hier einziehen, um meine
restlichen Sachen zu retten. Die unbewohnten Wohnungen und Häuser wurden
ausgeräumt und und die Sachen nach Russland gebracht. Frau Nöthel (ihr Mann war
Dachdeckermeister, sie wohnten in der Kaiser-Otto-Str. 72a ) und Frau Lachmann mit
ihrem Sohn (sie hatten ein Schuhgeschäft in der Friedrichstr. 14 ) mußten aus ihrer
Wohnung und wußten nicht wohin. Ich nahm sie bei mir auf; sie schliefen in meinem
Schlafzimmer und ich mit meinen Kindern im Wohnzimmer. So war ich nicht allein.
Frau Windisch hatte auch mehrere Frauen aufgenommen: Frau Vogt, Frau Auge und
Frau Dietrich. Auch hier wurden wir von den Russen stark belästigt. Am Tag war ich
allein mit den Kindern. Die anderen Frauen mußten bei den Russen arbeiten. Ich
nahm noch ein älteres Fräulein auf, das aus einer Nervenheilanstalt kam. Sie wollte
zu ihrer Schwester nach Berlin, aber durch die Kampfhandlungen kam sie nicht
weiter.
Am 5. März gegen 8 Uhr abends setzten bei mir die ersten Wehen ein. Ich hatte
erfahren, dass unser Hausarzt Dr. Dobernecker - er war schon 80 Jahre alt - mit
seiner Frau auch geblieben war. Aber es traute sich keiner aus Angst vor den Russen
in der Nacht auf die Straße. Eine Wehe kam nach der anderen , aber das Kind nicht.
Nach 5 Stunden konnte ich es vor Schmerzen nicht mehr aushalten, da fassten Frau
Dietrich und Frau Vogt Mut und holten den Arzt. Die beiden Frauen brachten ein
großes Opfer, denn überall hielten die Russen Wache. Die Gefahr, vergewaltigt zu
werden, war riesig. Ohne die ärztliche Hilfe hätte ich es nicht geschafft. 10 Minuten,
nachdem der Arzt da war, kam Johannes zur Welt. Ein paar Minuten später wurde
der Arzt wieder von uns weggeholt. Im Nachbarhaus bei Krenz hatten die Russen
eine Frau mehr als 10-mal vergewaltigt.
Am nächsten Tag mußte ich wieder aufstehen, um mein Kind und die anderen Kinder
zu versorgen. Die anderen Frauen mußten jeden Tag von früh morgens bis spät
abends zum Nähen gehen und durften erst gehen, wenn sie 10 Hemden fertig
genäht hatten.
Das ältere Fräulein durfte bei mir bleiben und war eine kleine Stütze bei der vielen
Arbeit. Am zweiten Tag nach der Entbindung kamen in der achten Stunde zwei
betrunkene Russen in mein Zimmer . Alle anderen Frauen mußten aus dem Zimmer,
und ich war mit den Russen allein. Zwei Kinder hatte ich mit in mein Bett genommen.
Der eine Russe schob den Stubenwagen mit dem Neugeborenen in eine Ecke und
zog die Zudecke von mir weg. Der kleine Günter fing an zu schreien, so laut er nur
konnte. Die Russen blieben vor Schreck stehen und gingen dann. Den 3. Mai werde
ich auch nicht vergessen. Da wollten zwei Russen die Vorsaaltür aushängen. Einer
kam durch das kleine Fenster, das sich in der Tür befindet. Wieder einmal hat sich
lautes Schreien vor Schlimmerem bewahrt. Günter hat manchmal so sehr geschrien,
daß er Krämpfe bekam. Solche Stunden mußten wir öfter durchmachen. Oh, was hat
das Nerven gekostet! Die Kinder waren immer wieder meine Schutzengel. Frau
Nöthel und Frau Lachmann suchten im April wieder eine eigene Wohnung. Laufend
kamen neue russische Soldaten, denen ich mein Schlafzimmer zur Verfügung stellen
mußte. Die Belästigungen uns Frauen gegenüber ließ etwas nach. Schwierigkeiten
machte die Versorgung mit lebensnotwendigen Dingen, denn Zuteilungen gab es
nicht für uns. Russische Soldaten, die auch Kinder hatten, zeigten oft Verständnis für
meine Lage. Sie brachten mir heimlich Nahrungsmittel. Ein Soldat stellte mir sogar
mehrere Tage Milch in einen Stachelbeerstrauch. Norbert war nicht ängstlich. Er
wurde oft von den Soldaten auf den Schoß genommen und bekam etwas zu essen.
Wir lebten von der Hand in den Mund . Manchmal reichte es einfach nicht aus, und
so war ich gezwungen, auch arbeiten zu gehen, Ich ging auf das Gut meines Bruders
und fütterte und melkte dort das Vieh. Dafür bekam ich Milch, Brot und Fleisch. Ich
versuchte den Russen zu erklären, daß ich die Tochter des Gutsbesitzers bin. Als sie
es verstanden, gaben sie mir viele Sachen meiner Eltern zurück. Fünf Wochen lang
haben wir uns so durchgeschlagen, dann zogen die Russen wieder weg. Und ich war
entlassen. Mein Schwiegervater besorgte mir eine Ziege und so hatte ich wieder
Milch für meine Kinder. Die Ziege war von Onkel Becke, er wohnte auf der
Hindenburgstraße 23 und hatte dort eine Gärtnerei. Er wurde von den Russen
erschossen, weil ihnen nicht das gab, was sie von ihm wollten.
Am 8. Mai 1945 war Waffenstillstand. Das russische Militär rückte ab und Polen
besetzten unsere Stadt. Am 28. Juni gegen Abend kamen zwei bewaffnete polnische
Soldaten in meine Wohnung und sagten zu mir, daß ich die Wohnung in 15 Minuten
zu verlassen hätte. Zu meinem Glück war das Hausmädchen meiner Schwägerin
Gertrud ein paar Tage zuvor nach Sprottau zurückgekehrt, um zu sehen, wie alles
aussieht. Sie half mir. Ja, was nun zuerst tun? Wir weckten die Kinder und zogen
ihnen so viele Sachen an, wie es ging. Ein Koffer wurde mit Lebensmitteln
vollgepackt und einer mit Wäsche.
Ich hatte Tage zuvor von den Grauen Schwestern eine Büchse Trockenmilch
bekommen…... und da war ich jetzt sehr froh. Ein Sack mit Strümpfen und
Stricksachen, 6 Wolldecken, 3 Federbetten und 6 Kopfkissen und zwei Koffer wurden
auf den kleinen Handwagen gepackt. Mit einer Wäscheleine wurde alles
festgebunden. In den Kinderwagen kam als Matratze meine schöne KELIMDECKE.
Diese wollte ich mir als einziges Andenken von meinen vielen Handarbeiten
mitnehmen. Mehrere Jahre habe ich an ihr gearbeitet. Darauf legte ich dann das
Badetuch, Windeln, Jäckchen und schließlich den Kleinen. Er war nun 3 Monate alt.
Vor lauter Aufregung fand ich mein gut verstecktes Geld nicht. In meinem
Portemonnaie hatte ich nur 20 Mark. Den Meisterbrief von meinem Mann, das
Stammbuch und die Versicherungsdokumente waren in meiner kleinen Handtasche,
die schon bei meinem vielen Herumziehen immer mitging. Sie hatte ich mit im
Kinderwagen verstaut. Ich zog mir noch ein Stoffkleid an und den Mantel darüber.
Das Hochzeitsbild habe ich noch schnell von der Wand genommen und aus dem
Rahmen gelöst und nur das Foto eingesteckt. Der Pole drängelte uns schon laufend.
Ich tat noch einen letzten Blick auf meine schöne Wohnung und dann mussten wir
das Haus verlassen. Fräulein Erna zog den Handwagen. Ich hatte in einer Hand den
Kinderwagen, in der anderen den Sportwagen. Im Sportwagen saßen Georg, 2 Jahre
und Dorothea 3 Jahre alt. Günter und Norbert mußten laufen, sie waren 6 und 4
Jahre alt. Auf dem Rücken trugen sie einen kleinen Rucksack mit Lebensmitteln.
Mit Frau Windisch und den Frauen, die bei ihr wohnten, zogen wir zunächst bis zum
Ausgang Sagener Straße. Dort war die Sammelstelle der vielen Menschen, die
ausgewiesen wurden. Sie standen schon zwei Stunden und warteten. Die Leute
wurden müde und setzten sich in die Straßengräben. Frau und Herr Preuß –
Stellmachermeister – stellten mir in ihrem Haus das Schlafzimmer zur Verfügung. So
konnte ich wenigstens meinen Kinder schlafen legen. Ausziehen konnte ich sie nicht,
denn wir wussten nicht, wann es weitergehen sollte. In dieser Nacht kamen noch die
Menschen aus den umliegenden Dörfern. Aus Waltersdorf waren Frau und Herr
Tscharn – die Eltern meiner Schwägerin Gertrud - dabei. Früh, etwa um 5 Uhr ging
es dann in Richtung Sagan weiter. Der Treck soll 20 km lang gewesen sein. Wir
zogen unter polnischer Bewachung von einem Dorf ins andere bis nach Sorau. Dort
mußten wir auf einer großen Wiese übernachten. Auch in der zweiten Nacht mußten
wir unter freiem Himmel schlafen. Am Morgen fing es an zu nieseln und bei
strömenden Regen ging es so weiter bis nach Triebel. Die Kinder weinten, denn das
Wasser lief ihnen am Gesicht herunter, und mit der nassen Kleidung wollten sie nicht
mehr weiterlaufen. So mußte ich zu diesem Trauerspiel immer ein freundliches
Gesicht machen. Die Frauen, die neben mir herliefen, staunten, daß ich ebenso
schnell vorwärts kam wie sie. Oft habe ich mit den Kindern gesungen, wenn sie gar
nicht mehr wollten. Das war wirklich ein Kreuzweg. Eine der Frauen war auch sehr
schlimm dran, ihr Mann hatte keine Beine und Arme mehr. Sie mußte ihn auf einer
Karre fahren. Sie hatte auch noch einen Handwagen mit Gepäck. Erst fuhr sie ihren
Mann 100 m, dann holte sie den Handwagen nach. Ja, sie mußte den Weg zweimal
laufen. Ältere Leute waren überhaupt schlecht dran, wenn sie nicht laufen konnten.
Damit sie vorwärts kamen, hatte man sie auf das hohe Gepäck vom Handwagen
gesetzt. An der Neiße wurden wir von den Polen noch einmal gründlich untersucht.
Was ihnen gefiel, wurde uns weggenommen. Es war furchtbar anzusehen, wie sie
mit Gewalt so manchem das Letzte wegnahmen. Es war dann schon in der achten
Stunde abends, da suchten wir uns in den leeren Häusern ein Quartier. Das muß
schon auf der anderen Seite der Neiße gewesen sein, denn nach der Kontrolle ließen
uns die Polen laufen, wohin wir wollten. Wir fanden ein schönes Haus mit sämtlichem
Mobiliar, Feuerung und sogar Kartoffeln. Wir machten uns gleich in einer Stube Feuer
und trockneten unsere nassen Sachen. Ich kochte Kartoffeln, und so hatten wir
endlich einmal wieder ein warmes Essen. Ach, wie fühlten wir uns dort wohl. Die
ganze Nacht regnete es noch. Am nächsten Morgen klärte es sich auf, und wir
tippelten weiter bis nach Cottbus. Dort war es schwer, ein Quartier zu bekommen,
denn niemand wollte mich mit fünf Kindern aufnehmen. Vergeblich hatte ich an
mehreren Türen geklopft. Wir wanderten so durch die Straßen, und da sah ich im
Vorgarten eine Frau. Ihr Blick zeigte, daß sie Mitleid mit uns hatte. Ich sprach sie an
und ohne Zögern durften wir in ihr Haus. Sie meinte, es wird schon Rat werden. Wir
schliefen auf dem Fußboden. Ihre Tochter hat gleich alle meine Kinder gebadet. Wir
blieben zwei Nächte in diesem Haus, um uns etwas zu erholen. Ich war ganz
erschöpft, denn wir hatten in diesen Tagen 120 km zurückgelegt und in jeder Hand
zog ich einen Wagen. Ich hielt es einfach auf den Armen nicht mehr aus, und Günter
und Norbert konnten auch nicht mehr. Die Frau meinte es sehr gut mit uns. In dieser
Familie war auch großes Herzeleid, ihr ältester Sohn war gefallen und von den zwei
Töchtern war die älteste 30 Jahre alt und vollständig gelähmt. Die Frau sagte mir,
daß die Russen auch das kranke Mädchen vergewaltigt hätten. Jeden Abend nahm
sie Flüchtlinge auf und bewirtete sie. Ich wollte nun versuchen, mit der Bahn weiter
zu kommen. Meine große Handtasche, die Feldbetten und den Handwagen gab ich
bei der Frau in Verwahrung.
Wir standen so auf dem Bahnhof, da kam ein Lazarettzug, und als sie mich und
meine fünf Kinder sahen, wurden wir mitgenommen. Planmäßige Züge fuhren noch
nicht. Im Kohlewagen war ein schmaler Gang, dort konnten wir hocken. Der Zug fuhr
bis Hoyerswerda. Es hieß, am nächsten Tag geht es weiter. Mein Johannes wurde
immer schwächer, so dass er nichts mehr zu sich nahm. Schon zu Hause in Sprottau
war er krank. Ich sollte ihm alle zwei Stunden etwas zu trinken geben. Aber das
konnte ich nicht mehr weiter durchführen, weil wir aus der Heimat heraus mussten.
Er bekam an den ersten Tagen nur morgens und abends ein Fläschchen Kochte ich
eins im voraus, so wurde es bei der Wärme sauer. Am Tage erlaubte es uns der Pole
nicht.
Bei einer Rast suchte ich mir etwas Holz zusammen, um dem Kleinen ein Fläschchen
zu kochen. Ich war noch nicht ganz fertig, da kam der Pole und sagte, daß es
weiterginge. Ich durfte das Fläschchen nicht fertig machen. Ich fragte ihn, warum er
so hart sei, denn mein Kind würde mir verhungern. Da gab er mir zur Antwort: Euch
geht es noch nicht schlecht, denn wie habt ihr es denn mit unseren Frauen gemacht?
Sie mussten bei 30 Grad Kälte nach draußen.
Ich ging zum Lazarettarzt, um mir einen Rat zu holen. Er meinte, der kleine Magen
sei vertrocknet. Damit das Kind wieder die richtige Pflege bekommt, wäre es das
beste, ich würde ein paar Tage hier in Hoyerswerda bleiben. Kurze Zeit darauf starb
mein Kind. Das war der 2. Juli 1945 gegen 11 Uhr. Was nun mit dem Kleinen
machen? Zufällig kamen zwei Sanitäter mit einem Sarg bei uns vorbei, um eine
Leiche aus dem Zug zu holen. Ich erzählte ihnen von meinem Leid. Sie hatten Mitleid
und meinten, sie würden mein Kind zu dem Leichnam legen. Soweit ich mich
erinnere, war es ein Tischlermeister aus Guben namens Glatzer. Zur Beisetzung
wollte ich bleiben, aber die beiden Sanitäter sagten: „ Es wäre besser, wenn Sie mit
dem Zug weiterfahren würden, damit die Kinder endlich wieder ihre Pflege und
Ordnung bekommen. Sie können beruhigt sein, der kleine Johannes kommt mit
diesem Toten unter die Erde.“. So gab ich ihnen noch 10 Mark und wir waren die
Sorge um unser kleines Hänschen los. Als die Sanitäter mit dem Kleinen wegfuhren,
fing Nobert an zu schreien und zu weinen, daß sich die Leute auf dem Bahnsteig
aufregten. Norbert sagte: „Mutti, hol doch unser Hänschen wieder zurück, die
Männer schaffen ihn fort“. Wie sollte ich den Jungen trösten, wo es mir doch auch
ganz anders zu Mute war. Meine Gedanken waren bei meinem Mann, denn er hat das
Kind nicht einmal gesehen. Ja, wenn er das alles wüsste. Norbert tröstete ich mit den
Worten: „Wir bestellen uns wieder ein neues Hänschen.“ Er gab sich damit zufrieden.
Der Herrgott weiß es schon, wie er es am besten macht. Durch den Verlust des
Kindes war es für mich bedeutend leichter. Die Frage, wo bade ich das Kind, wo
wasche ich die Windeln, das war immer ein großes Problem für mich. Wir setzten uns
wieder in den Zug, und warteten. Nun verging ein Tag nach dem anderen. Auf
einmal hieß es, daß der Zug stehen bleibt.
Ich wollte gern zu meinen Eltern Reichenbach, Kreis Hohenstein-Ernstthal. Eigentlich
war mir der Aufenthalt meiner Eltern nicht genau bekannt. Fräulein Erna sprach
immer nur von Hohenstein.
Die schwerverwundeten deutschen Soldaten wurden aus dem Lazarettzug entlassen.
Es war ein furchtbarer Anblick, wie Blinde über die Bahnschienen stolperten und
hinfielen. Einigen fehlte ein Arm, ein anderer hatte nur noch ein Bein, auch hatten
einige zerschnittene Gesichter. Und niemand kümmerte sich um sie. Ich versuchte
dann mit einem Güterzug weiter zu kommen, aber es war nicht möglich, denn die
Wagen waren alle zu hoch. Fräulein Erna war dann der Meinung, es wäre besser,
wenn ich für uns ein Quartier in der Stadt suche.
Sie blieb in der Zwischenzeit bei den Kindern. Ich klopfte an mehreren Türen, aber
mit vier Kindern wollte mich keiner aufnehmen. So ging ich wieder zum Bahnhof
zurück. Meine Kinder standen mit dem Gepäck allein auf dem Bahnhof. Ein Zug war
gekommen und Fräulein Erna ist mitgefahren. Wir hatten davon gesprochen, daß sie
vorausfahren wollte, um meine Schwester zu holen, Nun war es so.
Ich nahm die beiden kleineren mit etwas Gepäck, um mich wieder auf die Suche
nach einer Unterkunft zu machen. Günter und Norbert paßten auf das restliche
Gepäck auf. In einer Baracke fanden wir Unterkunft. Dort hatten sich noch mehr
Flüchtlinge einquartiert. Ich hatte für uns einen kleinen Raum. In der einen Ecke lag
etwas altes Stroh, sonst war der Raum leer. Es sah aus bald wie ein Schweinestall,
aber wir hatten ein Dach über dem Kopf.
In einer landwirtschaftlichen Schule konnte ich etwas für uns kochen, sie war nur 2
Minuten von der Baracke entfernt. Während ich abwesend war, durchsuchten die
anderen Flüchtlinge unser Gepäck. Die Kinder versuchten zwar unser Hab und Gut zu
bewachen, sie waren aber zu klein, um es zu verteidigen. Es wurde der einzige
Bettbezug und Georgs einziges Paar Schuhe gestohlen.
Ich suchte mir dann eine andere Unterkunft und fand ein Zimmer bei einem älteren
Ehepaar, das überhaupt kein Verständnis für unsere Situation hatte.
In der Nähe war ein Kindergarten, wo ich drei Kinder unterbringen konnte. Meine
Lebensmittel, die ich teilweise noch von zu Hause mitgebracht hatte, gingen zu Ende.
Ich ging zum Bürgermeiste rund bat ihn um Hilfe. Ich bekam einen Bezugsschein für
drei Brote, ein paar Kartoffeln und ein bißchen Öl. Für Georg bekam ich täglich einen
¼ l Ziegenmilch, und das alles sollte zwei Wochen reichen. Innerhalb von sechs
Tagen hatten wir alles aufgegessen. So war ich gezwungen, betteln zu gehen. Es war
an einem Sonnabend, ich hatte vier Stunden wegen Kartoffeln angestanden. Bevor
ich an der Reihe war, waren sie alle. Es gab keine mehr. Ich hatte auch kein Brot
mehr für meine Kinder. Georg machte mit seinen kleinen Händchen bitte, bitte, er
klatschte die kleinen aneinander, ich konnte ihm nichts geben. Oh, wie weh mir das
tat! Nachmittags ging ich in das Nachbardorf betteln. Ich bekam aber nichts. Es
waren ja so viele Flüchtlinge, die um Nahrung bettelten. Ich zog langsam mit meinen
Kindern an den Feldern vorbei wieder heim. Bei einem großen Feld mit Kartoffeln und
Mohrrüben kam mir der Gedanke, wenn ich hier eine Handvoll Kartoffeln wegnähme,
würde es gar nicht auffallen. Es fiel mir schwer, dies zu tun, war ich doch selbst eine
Bauerstochter. Was tut eine Mutter nicht alles, um ihre Kinder am Leben zu erhalten.
So konnte ich den Kindern am Sonntag etwas zu essen geben.
Ein paar Tage später erfuhr ich, daß die ersten deutschen Soldaten aus einem
naheliegenden Lager entlassen werden. Ich begab mich mit meinen Kindern auf die Landstraße.
Da kam eine Kolonne von 2.000 Mann anmarschiert, mit einer Musikkapelle an der
Spitze. Auf dem Markt hielt der Bürgermeister eine Ansprache, anschließend
bekamen sie die Entlassungspapiere und etwa Verpflegung: 100 g Zucker und ein
kleines
Stückchen
Brot.
Ich ging hin und her und fragte die Soldaten, ob auch Sprottauer dabei wären, denn
es waren fast alles Schlesier. Auf einmal meldete sich der Musiklehrer Walter; er war
auch Chorleiter in unserer Kirche. Er brachte mir die Nachricht, daß sich mein Mann
und mein Bruder Herbert im Lager Elsterhorst befäinden. Das war 2 km von
Hoyerswerda entfernt. Das war eine Freude. Zu wissen, dass mein Mann in der Nähe
ist. Ich versuchte alles Mögliche, um Kontakt zu ihm zu bekommen. Oft bin ich mit
den Kindern bis ans Lager gegangen. Von weitem konnten wir die deutschen
Soldaten sehen. Alle 20 m stand ein Posten. Mein Mann ahnte nicht, daß wir in seiner
Nähe waren, denn er hatte die starke Hoffnung, daß wir noch in unserer lieben
Heimat sind. Einmal sprach ich einen Wachposten an. Ich versuchte ihm mein Leid zu
erklären. Er hatte Mitleid mit mir und meinte, ich solle zum Lagerkommandanten
gehen, denn der könne mir helfen. Ich lief nun bis zum Eingang des Lagers. Die
deutschen Soldaten standen nur 2 bis 3 Meter entfernt, aber ich durfte kein Wort mit
ihnen wechseln. Der russische Kommandant klopfte mir auf die Schulter und meinte,
daß die Gefangenen in kürzester Zeit entlassen würden. Das war aber kein Trost für
mich, denn ich konnte täglich beobachten, wie die gesunden Soldaten zum Bahnhof
geschafft wurden zum Weitertransport nach Russland. Kranke und ältere Soldaten
wurden entlassen. Bei den täglichen Entlassungsfeiern war ich immer dabei, um zu
sehen, ob Bekannte darunter waren. Viele Sprottauer waren dabei, die immer die
Nachricht brachten, daß sich mein Mann noch im Lager befindet.
In der Zwischenzeit war meine Aufenthaltszeit in Hoyerswerda abgelaufen. Ich
schrieb an meinen Cousin nach Glauchau in Sachsen, ob er wüsste, wo meine Eltern
wären. Es war für mich dann sehr schwer, Bezugsscheine für Lebensmittel zu
bekommen; der Bürgermeister gab mir keine mehr. Ich werde es nicht vergessen,
was er zu mir sagte: „Warum haben Sie sich so viele Kinder in die Welt gesetzt?“
Die Aufenthaltsgenehmigung konnte oder wollte er mir nicht verlängern. Ich hoffte
nun täglich, daß meine Angehörigen uns holen würden. Ich sollte diesen Ort
verlassen und wußte nicht, wohin ich gehen sollte. Die Hälfte meines Gepäcks
schaffte ich zum Bezirksschornsteinfeger und zog dann mit meinen 4 Kindern auf der
Landstraße in Richtung Dresden weiter. Als wir nun ein Stück gelaufen waren, merkte
ich, daß es doch nun beim besten Willen nicht mehr ging. Die Kinder hatten einfach
keine Kraft mehr zum Laufen. Wir gingen wieder zurück und begaben uns wieder in
die Baracke, in der wir schon mal schliefen. Hier war auch ich am Ende meiner Kraft,
ich war verzweifelt. Ich betete mit meinen Kindern ein Vaterunser nach dem
anderen, daß der liebe Gott uns doch helfen möge. Die Kinder schliefen dabei ein.
Ich selbst fand die ganze Nacht keine Ruhe, denn was sollte aus uns werden. Ich war
wirklich ganz verzweifelt. Am nächsten Morgen fasste ich Mut und ging mit meinen
Kindern zum Landrat. Dieser stellte mir eine Bescheinigung aus, daß mir der
Bürgermeister die Aufenthaltsgenehmigung verlängern sollte. Vom Wohnungsamt
bekamen wir ein Zimmer im 3.Stock eines Kindergartens zugewiesen. Eine
Kindergärtnerin stellte mir einen Tisch, 4 Stühle und ein Bett zur Verfügung. Einige
Tage später brachte sie mir noch Matratzen. Wir legten sie auf den Boden, so hatten
die Kinder ein schönes Lager. In der Küche konnte uns etwas kochen. Dort hatten wir
es wirklich schön. Ich glaube, der liebe Gott hat meine Gebete erhört. Zur Kirche war
es auch nicht weit. Mit der Ernährung war es manchmal noch sehr schlecht. Einmal
hielt der Herr Pfarrer eine schöne Sonntagspredigt, in der er sagte, daß jeder den
Notleidenden helfen solle, so gut er kann. Ich nutzte die Gelegenheit aus und
bettelte eine Frau an, ob sie nicht ein paar Kartoffeln für uns hätte. Sie nahm mich
mit auf ihr Feld. Mit den Händen machten wir so ungefähr 20 Pfund heraus. Das
reichte nun wieder für einige Tage. So haben wir uns durchgefochten.
Eines Tages, beim Einkaufen, traf ich meine Schwester auf der Straße. Die Frau
meines Cousins Max Ratzmann aus Glauchau hatte den Brief an meine Eltern
weitergeleitet. Ach, wie war die Freude groß! Sie brachte mir 2 Brote und ein Stück
Butter mit. Nun ließ ich die Kinder einmal richtig satt essen. Meine Schwester hatte
ihren Sohn Johannes bei sich. Sie werden es nicht vergessen, mit was für einem
Hunger die Kinder Brot vertilgten. Immer wieder bettelten sie nach einer Schnitte.
Meine Schwester war schon das zweite Mal hier, denn das erste Mal hatte sie uns
nicht gefunden, weil ich mich nicht beim Einwohnermeldeamt gemeldet hatte. Sie
fuhr am nächsten Tag mit ihrem Sohn wieder zurück und wollte in drei Wochen
wieder kommen. Sie brachte ein großes Opfer, denn planmäßige Züge fuhren noch
nicht. Das letzte Stück wurde sie sogar in einem Russenauto mitgenommen. Wie
schön ist es doch, wenn man Geschwister hat!
Ich blieb noch in Hoyerswerda, weil ich hoffte, daß mein Mann oder mein Bruder
entlassen werden könnte. Nach ein paar Tagen hörte ich vom Bürgermeister, daß ein
Treck mit Flüchtlingen zusammengestellt werden soll in Richtung Thüringen. Wir
machten uns schnell auf, um zu meinen Eltern zu kommen. Ich habe einen Zettel mit
der Adresse von Reichenbach an das Brett im Rathaus angebracht, damit mein Mann
und mein Bruder uns finden. Wir wurden von einem Güterzug mitgenommen. Die
Kinder mussten auf einem Brikettwagen sitzen. So fuhren wir nach bis nach
Dresden. Von dort aus ging dann weiter in einem Personenzug nach Glauchau. Dort
kamen wir ganz erschöpft nach 2-tägiger Bahnfahrt an. Meine Verwandten schickten
sofort ihren Sohn Wolfgang mit dem Fahrrad zu meinen Eltern nach Reichenbach. Am
nächsten Tag wurde ich von meiner Schwester und meiner Schwägerin Gertrud mit
Fahrrädern abgeholt. Wie war ich jetzt froh, dass ich bei meinen lieben Verwandten
sein konnte! Als mein Vater mich sah, kamen ihm vor Freude die Tränen, denn er
hatte sich große Sorgen um uns gemacht. Meine Mutter sagte: „Kinder, kommt rein,
ich will euch gleich etwas zu essen geben.“ Günter hat diese ersten Worte meiner
Mutter nicht vergessen.
Am nächsten Tag ging ich zum Bürgermeister und bat um Aufnahme. Er stellte sich
stur und wollte mich wieder abweisen. Auf den Rat meiner Verwandten hatte ich
mich beim Landrat in Glauchau erkundigt, ob ich in Reichenbach aufgenommen
werde. Er sagte, es besteht die Verfügung, da, wo die Eltern sind, kann auch das
Kind hin. Zumal ich auch noch vier kleine Kinder hatte. Da ich nichts schriftlich hatte,
glaubte mir der Bürgermeister nicht. Er hatte allerhand Ausreden. Mehrere Stunden
saß ich in seiner Amtsstube. Auf einmal sagte er, daß ich mich selbst um eine
Unterkunft kümmern müsse. Das versuchte ich auch, aber mit vier Kindern wollte
mich keiner aufnehmen. Man schickte mich von einer Tür zur nächsten. Meine Eltern
konnten mich auf Dauer nicht in ihrer kleinen Wohnung behalten. Wir schliefen alle
bei ihnen auf dem Fußboden. Der Bürgermeister wies mir dann doch noch ein kleines
Zimmer ohne Kochgelegenheit in einer Landwirtschaft zu. So zog ich mit meinen
Kindern am 22. August 1945 bei der Familie Neubert ein. Essen gingen wir zu meinen
Eltern. Zwei Tage später verlor die Tochter Ilse durch einen Unfall ein Stück von
ihrem Finger. Da es in der Landwirtschaft noch viel Arbeit gab, half ich tüchtig mit,
denn die Ernte war noch nicht ganz geborgen. Mir fiel die Arbeit nicht schwer, aber
meine Mutter hatte die Kinder zu versorgen.
Am 6. September 1945 stand mein lieber Mann vor der Haustür. Das war für uns eine
große Überraschung und Freude. Am 2. September wurde er gegen Abend auf dem
Markt entlassen und ist sofort nach Wittichenau gelaufen. Meinen Zettel am Brett
hatte er nicht gelesen. In Radeberg holte er sich beim Pfarrer Max Scholz, einem
Cousin meiner Mutter, die Nachricht, dass meine Eltern in Reichenbach bei
Hohenstein sind. Er stand mit geflickter Uniformhose, schadhafter Jacke und
kaputten Schuhen vor mir. Ich hatte nichts für ihn von zu Hause mitnehmen können.
Von Familie Teuber, wo meine Eltern wohnten, bekam mein Mann zwei gebrauchte
Jacken. Mein Mann half in den ersten Wochen bei Familie Neubert beider Kartoffelund Rübenernte mit. Nach der Ernte versuchte er wieder Arbeit in seinem Beruf zu
bekommen. Er fuhr nach Chemnitz zum Schornsteinfegerobermeister Rüdiger; bei
ihm bekam er gleich eine Stelle. Er blieb die ganze Woche in Chemnitz, nur am
Wochenende kam er zu uns nach Reichenbach. Im Januar 1946 wurde mein Vater
krank. Es ging nicht mehr, daß meine Kinder in der gleichen Stube hockten, in der
mein Vater lag. Ich bat Frau Neubert, ob ich in ihrer Küche mit kochen dürfe. Sie
stellte mir ihre Küche mit zur Verfügung. Meine Tochter Dorothea blieb noch bei
meinen Eltern, da ich keine Schlafgelegenheit für sie hatte. Wenn mein Mann am
Wochenende kam, mußten die drei Jungenin einem Bett schlafen, denn ich hatte nur
zwei Bettstellen. Später bekam ich dann noch ein Bett von einer Familie geschenkt.
Am 1. März 1946 starb mein Vater plötzlich an einem Schlaganfall. Er hätte so gerne
noch einmal seine Heimat wiedergesehen. Oft sagte er zu uns: „Ihr werdet die
Heimat schon einmal wiedersehen, aber ich werde es nicht mehr erleben.“ Wie groß
war manchmal bei ihm das Heimweh, zu Hause hatte jeder sein Bett und im Winter
hatten wir eine warme Stube. Oft und gerne sind meine Eltern zu einem
Plauderstündchen zu uns gekommen. So verging eine Woche nach der anderen.Die
Frühjahrsbestellung ging los. Ich half immer fleißig mit, so hatte ich Essen für mich
und meine Kinder und konnte mich auch körperlich etwas erholen. Natürlich gab es
auch schwere Stunden, denn alles spielte sich jetzt in der Küche ab, und das war für
beide Familien nicht immer leicht. Aber ich muß wirklich sagen, daß es Familie
Neubert gut mit uns meinte. Die Kinder sagten Oma und Opa zu ihnen. Ich habe dort
auch schöne Stunden verlebt, oft haben wir gesungen und so manchen Spaß gehabt.
Im September 1946 bekamen wir zwei kleine Zimmer in Chemnitz, Schloßplatz 13,
als Untermieter bei Frau Lange. Der Anfang war sehr schwer, da wir buchstäblich
nichts hatten. In Reichenbach gab es dann viele Menschen, die uns halfen. Von ihnen
bekamen wir einige Gebrauchsgegenstände. Wir zogen am 24. September 1946 ein.
Unser Inventar bestand aus drei Bettstellen, einem Tisch, zwei Stühlen, vier Hockern,
einem großen und einem kleinen Regal und einem Kindertischchen.