I. Faktoren erweiterter Sicherheit 2. Regionalanalysen Henning Riecke Afghanistan – Chancen und Risiken nach dem Abzug der ISAF Nach dem Abzug der Kampftruppen in der Internationalen Schutztruppe in Afghanistan (ISAF) beginnt 2015 eine neue Phase der Eigenständigkeit für das Land. Die Folgeoperation Resolute Support der NATO (RSM) wird den afghanischen Sicherheitsapparat unterstützen, mit deutlich geringeren Streitkräften und zunächst nur für zwei Jahre. Damit verbindet sich geringerer politischer Einfluss, doch ist die faktische und symbolische Bedeutung dieser Sicherheitspräsenz für das Funktionieren des afghanischen Staates kaum zu überschätzen. (Reader Sicherheitspolitik, Ausgabe 6/2015) Viel hängt von der Leistungs- und Handlungsfähigkeit der neuen afghanischen Regierung der nationalen Einheit ab. Präsident Aschraf Ghani, der in den USA Karriere gemacht hat und nicht in die Gräueltaten der Kriege in Afghanistan verstrickt war, steht vor gewaltigen Aufgaben. Die Regierungsbildung ist nach über einem halben Jahr nicht abgeschlossen, Einzelinteressen verschiedener Machtgruppen müssen ausbalanciert werden. Die afghanische Wirtschaft kommt nicht voran, abgesehen von der Drogenindustrie, das Staatsdefizit ist hoch, Korruption verbreitet und die Sicherheit der Bürger nur schwer zu gewährleisten. Der Kampf gegen die Taliban und andere regierungsfeindliche Kräfte dürfte jetzt erst wieder richtig losgehen – gleichzeitig ist deren Einbindung in einen Friedensprozess ein vorrangiges Ziel. Doch auch der Durchhaltewillen der westlichen Verbündeten ist entscheidend. Sie und ihre Partner haben fast vierzehn Jahre lang die Sicherungsverantwortung für den Staatenaufbau übernommen und müssen dessen Ergebnisse an ihren hochfliegenden Erwartungen, den großen Opfern und dem gewaltigen Aufwand messen. Die aktuelle Situation der afghanischen Gesellschaft ist weniger stabil, als es westliche Strategen zu Beginn des Einsatzes für wünschenswert und machbar hielten, aber ist immer noch in vielen Aspekten besser als das, was in den Jahren bis 2003 afghanische Normalität war.1 Afghanistan hat in diesem Prozess mehr und mehr Eigenverantwortung übernommen, braucht aber noch weitere Freunde und Geldgeber. 1 Vgl. Fortschrittsbericht Afghanistan 2014 einschließlich einer Zwischenbilanz des AfghanistanEngagements, verfasst vom Sonderbeauftragten der Bundesregierung für Afghanistan und Pakistan, Dr. Michael Koch, Auswärtiges Amt, November 2014. 1 Der gerade angelaufene Transformationsprozess läuft bis 2024, so beschlossen auf der Geberkonferenz in Tokyo 2012, zusammen mit einer Selbstverpflichtung, bis 2015 Afghanistan mit ca. 4 Mrd. Dollar pro Jahr zu unterstützen. Die Geberkonferenz in London im November 2014, auf der Ghani sein Reformprogramm vorstellen konnte, verlängerte diese Zusage bis 2017. Auch danach wird es Unterstützung geben, doch hoffen die Geldgeber dann auf einen geringeren Finanzbedarf. Schon jetzt sorgen die unsichere Sicherheitslage und die verbreitete Korruption in Afghanistan für eine zunehmende donor fatigue (Gebermüdigkeit).2 Auch können Erfolge der Aufständischen und eine landesweite Verschlechterung der Sicherheitslage das Vertrauen der internationalen Geldgeber, Entwicklungshelfer und Non-Governmental Organizations (NGOs) in die Vision eines gesunden afghanischen Staates erschüttern. Pressekonferenz mit NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg, dem Präsidenten der Republik Afghanistan, Mohammad Ashraf Ghani, und dem Chef der Exekutivverwaltung, Abdullah Abdullah, in Brüssel. Foto: NATO Die Sicherheit in Afghanistan bleibt also auch deshalb Kernaufgabe der westlichen Partner, weil nur auf diese Weise das bislang Erreichte und die hohen Investitionen geschützt werden können. Aber hat die schlanke Unterstützungsmission überhaupt eine Chance, beim Aufbau der Sicherheit in Afghanistan zu helfen? Was sind die politischen Rahmenbedingungen für das Aufbauprojekt, welche Chancen und Probleme sind zu erwarten? Der afghanische Staat Es ist ein Erfolg der internationalen und afghanischen Bemühungen, dass seit 2002 ein Staatswesen mit demokratischen Strukturen, einer Zentralregierung, einer freien Medienlandschaft und einer aktiven Zivilgesellschaft aufgebaut werden konnte. Bei 2 Vgl. Tamim Asey: The Other Drawdown – Why Donor Fatigue Is Threatening to Derail Afghanistan, Foreign Policy, 10.11.2014 (http://foreignpolicy.com/2014/11/10/the-otherdrawdown-why-donor-fatigue-is-threatening-to-derail-afghanistan/?wp_login_redirect=0). 2 aller Frustration über fehlende Sicherheit, Menschenrechtsverletzungen, Korruption und administrative Unfähigkeit darf dieser Umstand nicht aus den Augen verloren werden. Die beiden Wahlgänge in Afghanistan im letzten Jahr haben trotz aller Opfer und gewalttätiger Störungsversuche einen demokratischen Machtwechsel eingeleitet. Der schwarze Finger – in Tinte getaucht beim Wahlgang – war in Afghanistan ein Symbol für die Unterstützung des demokratischen Systems. Schwarzer Finger Ein afghanischer Mann zeigt seinen Tintenabdruck am Finger als Beweis für seine Teilnahme an den Präsidentschaftswahlen 2009. Foto: US-Army Der brisante Streit über die Glaubwürdigkeit des Ergebnisses zwischen den beiden führenden Kandidaten drohte diesen Erfolg zunichte zu machen, als der zweite Wahlgang im Sommer 2014 vom unterlegenen Kandidaten angezweifelt wurde. Der Politologe und ehemalige Weltbankmitarbeiter Ghani (Paschtune) hatte nach erster Auszählung gesiegt, doch der ehemalige Außenminister Abdullah Abdullah, (Vater Paschtune, Mutter Tadschikin) protestierte gegen vermeintliche Wahlfälschung. Der Streit wurde durch einen Überprüfungsprozess in afghanischen Händen und ein Abkommen zwischen dem führenden und dem zweiten Kandidaten unter USVermittlung beigelegt. Eine Regierung der nationalen Einheit wurde möglich, die Ghani als Präsident und Abdullah als Chief Executive (de facto Premierminister) ins gemeinsame Regierungsprojekt bindet. Beide Führungspersönlichkeiten haben gleiche Rechte bei der Postenvergabe, was ein monatelanges Postengerangel befördert hat, denn Freunde müssen bedient werden.3 Dieses Verfahren war also zunächst einmal Ausweis einer wachsenden Glaubwürdigkeit der demokratischen Institutionen und der afghanischen Fähigkeit zur Konfliktlösung. Allerdings hat die langwierige Verhandlung über das Wahlergebnis und die noch immer nicht abgeschlossene Regierungsbildung für Stillstand in der der afghanischen Entwicklung gesorgt, politisch wie wirtschaftlich. 3 Vgl. Ali Jalali: Forging Afghanistan’s National Unity Government, United States Institute for Peace, Peace Brief, Nr. 183, January 16, 2015 (http://www.usip.org/publications/forgingafghanistan-s-national-unity-government). 3 Nach einer Einschätzung der afghanischen Handelskammer sind die größten Hindernisse für dringend benötigte und zugesagte Wirtschaftsreformen und ökonomisches Wachstum aber die Unfähigkeit der Koalitionsregierung, überhaupt ein Kabinett zusammenzustellen. Zuletzt waren drei der wirtschaftlich relevanten Ministerien noch nicht besetzt. Weitere Probleme seien die mangelnde Sicherheit und die katastrophale Infrastruktur.4 Erst am 21. April 2015 wurde ein Kabinett vereidigt, nach sieben Monaten Verhandlung. Darin fehlt noch immer der Verteidigungsminister, obwohl die Kampfhandlungen mit den regierungsfeindlichen Kräften in den Frühjahrsmonaten traditionell zunehmen.5 Diese Position des Geschäftsführers beziehungsweise Premierministers, zunächst noch per Präsidialdekret geschaffen, soll durch eine Loya Jirga nach zwei Jahren in die Verfassung überführt werden. Zuvor muss eine Parlamentswahl stattfinden, die im Frühjahr 2015 schon in Zeitverzug geraten ist, auch wegen der Regierungsbildung. Viel hängt davon ab, dass das Führungsduo die fragile Einigung hinter dem gemeinsamen Programm in ein dauerhaftes, kooperatives Binnenverhältnis überführen kann. Gelingt dies nicht, einschließlich der geplanten Verfassungsänderung, wird die Legitimität des afghanischen Staatwesens weiter beschädigt. Schwache Volkswirtschaft Mit einem Kabinett allein wären die Schwierigkeiten aber nicht beseitigt. Afghanistan leidet strukturell unter einer schwachen Volkswirtschaft, trotz eindrucksvoll steigender Wachstumsdaten nach 2002. Angesichts der Einkommensverluste durch den Abzug der internationalen Streitkräfte und nachlassender Großzügigkeit der Geldgeber hat Afghanistan sogar seit drei Jahren ein sinkendes Wirtschaftswachstum zu verzeichnen. Die Arbeitslosigkeit ist nach wie vor hoch, etwa ein Drittel der arbeitsfähigen Afghanen hat keinen Job, bei schnell wachsender Bevölkerung.6 In Afghanistan kommt Wachstum auch nicht allen zu Gute, Einkünfte landen eher bei den Nutznießern der Patronage, die 4 Vgl. Qudratulla Jawid Afghanistan Chamber of Commerce and Industry: Worried about the rejection of economy-relevant ministers for the cabinet (in Farsi), 8am (afghan. TVSender/Website), 01.02.2015, (http://8am.af/acci-cabinet-ministers-are-getting-worried-aboutthe-way/), Kawun Khamosh: One year after the elections; what are the people saying? (in Farsi), 05.04.2015 (http://www.bbc.co.uk/persian/afghanistan/2015/04/150405_k03_year_after_afghan_election). 5 Vgl. David Loyn: Afghan elections. One year on and still no government, BBC World-Asia, 07.04.2015 (http://www.bbc.com/news/world-asia-32196037); Shahzeb Jellani: Afghan cabinet nearly complete after months of delay, BBC News Asia, 21.04.2015 (http://www.bbc.com/news/world-asia-32391844). 6 Das CIA Factbook schätzt eine Arbeitslosigkeit von 35% (2008), (https://www.cia.gov/library/publications/the-world-factbook/fields/2129.html). Die Weltbank sieht Wachstumsraten von durchschnittlich 9,3 % von 2001-2012, 3,7% im Jahr 2013, 4,2 % im Jahr 2014 (http://www.worldbank.org/en/country/afghanistan/overview#1). 4 Kluft zwischen arm und reich ist groß.7 Der Umzug vieler Afghanen in die urbanen Zentren und eine große Zahl von Binnenflüchtlingen verschärfen diese Probleme noch. Ghani hat sich neben höherer Transparenz und der Bekämpfung von Korruption auch die ökonomische Selbständigkeit Afghanistans auf die Fahnen geschrieben. Der politische Stillstand verzögert aber die Arbeit an einem der drängendsten Probleme, dem hohen Budgetdefizit. Im vergangenen Jahr lag dies bei 446 Mio. US-Dollar, also etwa einem Fünftel der geplanten Ausgaben. Nach Schätzungen der Weltbank benötigt Afghanistan aber etwa 7 Mrd. Dollar jährlich, um eine funktionierende Regierung zu unterhalten.8 Kabul kann dabei wenig aushelfen, denn die Staatseinnahmen sind notorisch niedrig: Das Land muss erst noch ein funktionierendes Steuersystem und Zollkontrollen aufbauen – auch dabei ist Korruption ein Hindernis. Anfang April gab es erst einmal einen Streik Kabuler Einzelhändler, die gegen Gesetze protestierten, die Steuerdisziplin erzwingen sollen.9 Die Reformfähigkeit Kabuls ist aber auch eine Voraussetzung für die internationalen Hilfen, die schon lange nicht mehr bedingungslos ausgehändigt werden, wenn überhaupt. Große Teile dieser Hilfsgelder bleiben bei den nationalen Dienstleistern der Geberländer hängen, die in Afghanistan aktiv sind. Drogenland Afghanistan Drogenproduktion und –handel sind essenzielle Bestandteile der afghanischen Volkswirtschaft. Mittelfristig ist eine Zukunft Afghanistans ohne die Auswirkungen der Drogenindustrie nicht realistisch. Schattenwirtschaft, illegale Geldflüsse, Korruption, Verstrickung der Ordnungskräfte, finanzielle Versorgung der regierungsfeindlichen Kräfte, ein wachsendes Suchtproblem, all dies bleibt afghanische Realität, auch weil die Nachfrage in den Nachbarstaaten und dem Westen unvermindert hoch ist. Afghanistan produziert über 90 Prozent des Opiums weltweit, der weit größte Teil in den südlichen Provinzen (von den 34 Provinzen sind 15 ohne Mohnanbau). United Nations Office on Drugs and Crime (UNODC) und das afghanische Ministerium für Drogenbekämpfung zeigen in ihren gemeinsamen Berichten, wie der Anbau und die Produktivität zuletzt sogar gewachsen sind.10 Afghanische Bauern bauen Opium an, weil die Gewinnspanne um ein vielfaches höher ist als bei legalen Agrarpflanzen. Die 7 Vgl. Thomas Ruttig: Einiges besser, nichts wirklich gut. Afghanistan nach 34 Jahren - eine Bilanz, in: WeltTrends, Jg. 22, Nr. 94, Januar/Februar 2014, S. 35. 8 Vgl. Kevin Sieff/ Joshua Partlow: Afghan economy facing serious revenue shortage, Washington Post, 15.04.2014, (http://www.theguardian.com/world/2014/apr/22/afghanistaneconomy-revenue-budget-shortfall). 9 Vgl. Kabul merchants protest over tax, 1TVNews, 07.04.2015 (http://1tvnews.af/en/news/afghanistan/16010-kabul-merchants-protest-over-tax). 10 Vgl. United Nations Office on Drugs and Crime/ Islamic Republic of Afghanistan, Ministry of Counter-Narcotics: Afghanistan Opium Survey, Cultivation and Production, Kabul, November 2014, S. 6 zu finden unter www.unodc.org/afghanistan/. 5 Ernte des Opiumsaftes ist umständliche Handarbeit, 15 Arbeiter benötigen eine Woche um einen Hektar abzuernten. Bei einer Anbaufläche von 224.000 Hektar lässt sich ermessen, welche Beschäftigungseffekte der Drogenhandel hat. Die Vernichtung von Anbauflächen droht, die wirtschaftliche Grundlage nicht nur der Bauern zu zerstören.11 Die internationale Militärpräsenz hat den Aufbau dieser Strukturen mit befördert, denn er brachte lokale Alliierte in die Position, sich einen Anteil am Kuchen zu sichern.12 Später, auch während der Truppenaufstockung ab 2010 unter Barack Obama, war der Kampf gegen das afghanische Drogensystem weniger wichtig als die militärischen Erfolge. Drogennetzwerke im Umfeld der Taliban wurden stärker bekämpft als solche, in denen loyale Regierungsvertreter verstrickt waren. Auch eine Zerschlagung von kriminellen Gruppen führt eher dazu, dass die Kontrolle der Vertriebswege eben in neue Hände übergeht. Mohnfeld in Afghanistan Foto: ISAF/Marco Mancha Nicht zuletzt sind der Anbau, die Vermarktung des Opiums und deren Besteuerung wichtige Einnahmequellen für die Aufständischen. Landgewinne der Taliban nach dem Abzug der internationalen Kampftruppen würden dazu führen, dass sie sich Einnahmequellen zurückholen würden, die ihren Kampf möglich machen. Hier liegt also ein innerer Widerspruch vor: Um die Drogennetzwerke zu zerschlagen, bräuchte die Regierung starke Institutionen, Sicherheit in der Fläche und wirtschaftliche Perspektiven für die Opiumbauern – all dies wird durch die omnipräsente Drogenkriminalität untergraben. Land ohne Sicherheit Vieles hängt also von einer Beendigung der Kampfhandlungen, dem Zurückdrängen der Aufständischen und einer Verbesserung der Sicherheitslage ab. Das ursprüngliche Ziel 11 Vgl. Mathieu Atkins: Drogenstaat Afghanistan, Wie Heroin ein Land regiert, in: Rolling Stone, Februar 2015, S. 66-75. 12 Vgl. Thomas Ruttig: a.a.O., S. 31. 6 der ISAF, die Infrastruktur der Al Quaeda in Afghanistan zu zerschlagen, ist wohl erreicht worden. Allerdings gibt es weit verzweigte Netzwerke von extremistischen Aufständischen mit unterschiedlichen Stammesbindungen. Der Islamische Staat (IS) ist in jüngster Zeit auch in Afghanistan aktiv, allerdings auf niedrigem Niveau. Einzelne militante Gruppen haben sich dem IS zugewandt, auch um ihre Position unter den Aufständischen zu verbessern.13 Die Afghan National Security Forces (ANSF) können weite Teile des Landes nicht kontrollieren, vor allem in den paschtunischen Gebieten im Süden und Osten. Afghanische Armee und Polizei sorgen für die Sicherheit in den bevölkerungsreichen Zentren und entlang der großen Verkehrsverbindungen. Zwar konnte die Sicherheitslage in Afghanistan mit der Truppenaufstockung nach 2009 zunächst stabilisiert werden, die Auseinandersetzungen bleiben aber intensiv. Die Zahl der Gewaltakte während der Wahlgänge blieb zwar hinter den Befürchtungen zurück. Gleichzeitig gehören Anschläge und Gewaltakte der Taliban aber heute landesweit zum afghanischen Alltag. Die Zahl der zivilen Opfer war im vergangenen Jahr so hoch wie nie.14 In den Sommermonaten von 2014 gelangen den Taliban einige schwere Angriffe in Kandahar und Kabul sowie die Rückkehr in verlorene Positionen in der Provinz Helmand. Die Aufständischen „weichen größeren Gefechten aus, verzichten auf größere Geländegewinne und verlassen sich auf Mittel des asymmetrischen Krieges wie Sprengfallen, gezielte Mordanschläge auf Vertreter der Kabuler Regierung sowie Nadelstich-Attacken gegen Stützpunkte der NATO/ISAF Truppen.“15 Im April waren Attacken auf ein Gerichtsgebäude in Mazar-i-Sharif und einen NATO-Konvoi in Jalalabad zu verzeichnen.16 Die Taliban sind zwar weit davon entfernt, einen erneuten Eroberungszug nach Kabul zu führen, um die Macht zu übernehmen. Sie können aber die Sicherheitslage dauerhaft verschlechtern. Militärisch dürften sie kaum zu besiegen sein, zumindest nicht für die afghanischen Streitkräfte. Umso wichtiger wäre jetzt eine Neuauflage der Friedensverhandlungen. Präsident Ghani hat diese oben auf der Prioritätenliste. Dabei müssten Kompromisse gemacht werde: die Taliban müssten die Verfassung anerkennen und sich, dies fordert Washington, von Al Quaeda lösen, gleichzeitig dürften sie Schutzgarantien und eine 13 14 Vgl. Borhan Osman: The Shadows of ‘Islamic State’ in Afghanistan: What threat does it hold? Afghanistan Analysts Network, 12.02.2015 (https://www.afghanistan-analysts.org/theshadows-of-islamic-state-in-afghanistan-what-threat-does-it-hold/). Die UN zählt 3,699 Tote und 6,849 Verletzte im Jahr 2014, United Nations AssistanceMission in Afghanistan / United Nations Office of the High Commissioner for Human Rights, Afghanistan. Annual Report 2014 Protection Of Civilians In Armed Conflict, Kabul, Februar 2015, S. 11; http://www.unama.unmissions.org/Portals/UNAMA/human%20rights/2015/2014Annual-Report on-Protection-of-Civilians-Final.pdf 15 Vgl. Thomas Ruttig: a.a.O., S. 28. 16 Vgl. Taliban suicide bomber strikes Nato convoy in Afghanistan, Dawn (pakistanische Nachrichtenseite), 10.04.2015 (http://dawn.com/newss/1175093/taliban-suicide-bomber-natoconvoy-in-afghanistan). 7 Beteiligung am politischen System verlangen. Einige Teile der Taliban um den Führer Mullah Omar stehen dem offener gegenüber als andere. Viele Gruppierungen der regierungsfeindlichen Kräfte werden den vollständigen Abzug der ISAF-Kampftruppen abwarten, um sich neu aufzustellen und gegebenenfalls verlorene Position wieder zu beziehen. Einzelne Talibanfraktionen und Aufstandsgruppen, wie das in Pakistan residierende Haqqani-Netzwerk, opponieren dagegen. Auch haben Offensiven auf pakistanischer Seite Kämpfer nach Afghanistan gedrängt, die ihre Chance auf militärische Erfolge wittern. Afghanische Militärpatrouille Foto: ISAF Ghani hat aber auch Kapital auf seiner Seite: Er kommt nicht mehr in den Ruch, für die Amerikaner zu verhandeln, sondern tut dies selbständig für Afghanistan. Auch sind die Opfer des Bürgerkrieges ausnahmslos Afghanen, das Narrativ, die Taliban kämpften gegen fremde Invasoren, fällt jetzt weg. Ghani hat auch mit einem frühen Besuch in Pakistan im November 2014 eine neue Phase der Zusammenarbeit eingeläutet. Dieser Schritt, umstritten in Afghanistan, und seine Reisen nach China und Saudi-Arabien könnten die Voraussetzungen dafür schaffen, den Taliban in ihren Schutzzonen jenseits der Grenze den politischen Rückhalt zu entziehen.17 China könnte seine regionale Rolle mit Blick auf Afghanistan durch politische Überzeugungsarbeit beim Verbündeten Pakistan ausfüllen und Islamabad für ein härteres Vorgehen gegen die Taliban gewinnen. Sicherheit in afghanischen Händen Die ANSF gehören bei der Bilanz allerdings trotzdem auf die positive Seite. Der Ausbau eigenständiger afghanischer Armee- und Polizeieinheiten – die Voraussetzung für einen Abzug westlicher Kampftruppen – kam erst unter Obama voll in Gang (zuvor war es den 17 Vgl. Afghan Peace Talks with Taliban: Issues, Players and Challenges, NBC NEW, 4.4. 2015 (http://www.nbcnews.com/news/world/afghan-peace-talks-n333801); Afghan President: Hopeful Talks With Taliban Could Start, The Wall Street Journal, 21.03.2015, (http://www.wsj.com/articles/afghan-president-hopeful-talks-with-taliban-could-start1426973166); Abdullah Sharif: Afghan President Ashraf Ghani Returns to Kabul, Huffington Post, 09.04.2015, (http://www.huffingtonpost.com/abdullah-sharif/afghan-president-ashrafghani-returns-to-kabul_b_7032592.html). 8 Amerikanern oft nur um die Ausbildung befreundeter Milizen und afghanischer Soldaten für US-geführte Missionen gegangen). Die afghanische Nationalarmee umfasste im letzten Jahr 195.000 Soldaten, Nationale Polizei 152.000, daneben existiert die lokale Polizei. Mit dem Abzug der ISAF hatten Afghanen im letzten bei fast allen Einsätzen gegen regierungsfeindliche Gruppen das Kommando und zwar in allen Distrikten Afghanistans.18 Die afghanischen nationalen Sicherheitskräfte konnten während der zwei Wahlgänge im Frühjahr und Sommer 2014 selbstständig ein recht hohes Sicherheitsniveau sicherstellen. Dennoch brauchen die Afghanen Unterstützung bei der Verlegung, der Luftaufklärung, Führung und Kommunikation oder der medizinischen Versorgung. Sicherheit bei Kabul durch deutsche Truppen. Foto: Bundeswehr/Alexander L. Inzwischen ist der Unterbau für die Anwerbung, Auswahl und Ausbildung auch von Offizieren erheblich gestärkt worden, die Institution der Afghanischen Nationalarmee hat einen guten Ruf und ist als Arbeitgeber gesucht. Auch ist die ethnische Durchmischung inzwischen besser. Problematisch sind immer noch der verbreitete Analphabetismus und der hohe Grad an Abgängen durch Desertion, zeitweiliges Fernbleiben oder Tod und Verwundung im Gefecht.19 Das bedeutet nicht, dass afghanische Verteidigungsagenturen bereits in der Lage sind, diese Armee selbständig und nachhaltig aufrechtzuerhalten. Ein administrativer Unterbau wäre aber die Voraussetzung dafür. Notwendig ist internationale Beratung vor allem bei den administrativen Fähigkeiten in den Ministerien und Kommandostellen, die für den Streitkräfteaufbau, die Budgetierung, Planung oder die Beschaffung der afghanischen Streitkräfte benötigt werden. Daneben ist es eine 18 Fortschrittsbericht Afghanistan 2014, a.a.O., S. 45. 19 Vgl. Henning Riecke: Fragile Fortschritte. Afghanistans Sicherheitskräfte brauchen weiterhin internationale Unterstützung, in Internationale Politik, Juli/August 2014, S. 89-95. 9 Rahmenbedingung der afghanischen Sicherheitspolitik, dass sich das Land angesichts der kümmerlichen Einkünfte kein Militär leisten kann. Selbst für einen kleineren Friedensumfang wurde auf der Chicagoer NATO-Konferenz ein Posten von 4,1 Mrd. Dollar pro Jahr geschätzt, von dem die Afghanen einen Anteil von 500 Mio. Dollar übernehmen sollen. Die ANSF, jetzt ein Kapital im Kampf gegen die Aufständischen, steht also auf tönernen Füßen. Internationale Unterstützung ist gefragt, nicht nur beim Geld. Bleibende Verantwortung Die Nachfolgemission der ISAF ist die Resolute Support Mission (RSM), eine Mission für Training, Beratung und Unterstützung ebenfalls unter NATO-Kommando. Etwa 12.000 Streitkräfte sind im Einsatz. Neben den NATO-Mitgliedern sind noch 14 andere Staaten operational beteiligt. Mit einem Großteil der Aktivitäten in der Hauptstadt Kabul sollen trotzdem temporär in vier regionalen Großstädten Einheiten der RSM stationiert sein (Nabe-Speiche-Ansatz). Die Amerikaner tragen mit 8.000 Soldaten die Hauptlast an der Mission, 1.800 weitere bleiben zum Anti-Terror-Kampf im Land. Ursprünglich sollte diese Truppe nach einem Jahr halbiert werden und nur noch in und um Kabul stehen. Nach 2016 – zum Ende von Obamas Amtszeit – planten die USA dann nur noch eine Schutztruppe für die Botschaft. Die Amerikaner haben den Plan für einen raschen Abbau und ein schrumpfendes Einsatzprofil mittlerweile einer Prüfung unterworfen.20 Ihre Begeisterung für den Afghanistan Einsatz ist aber gering. Es wird erkennbar, dass der Abzugsplan dem Kalender der amerikanischen Präsidentschaftswahlen folgen soll. Deutschland hat schon früh eine Beteiligung in Aussicht gestellt und ist mit 850 Soldaten dabei. Die RSM soll keine eigenen Kampfaufträge mehr übernehmen, doch ist offen, was Assistance, Unterstützung, in diesem Zusammenhang bedeuten wird. Zwar können die afghanischen nationalen Sicherheitskräfte selbstständig operieren, doch gibt es Schwächen, die bislang durch ausländische, meist amerikanische Unterstützung ausgeglichen werden. Dies kann die RSM kaum übernehmen. In der Transformationsphase kann die RSM aber auch eine Chance verspielen. Magere Ausstattung erlaubt es vielleicht nicht, Beratung und Unterstützung über Kabul hinaus auch in die Fläche zu tragen. Die internationale Militärpräsenz kann Kritik auf sich ziehen, wenn sie vereinzelt Operation unterstützt, aber die afghanischen Sicherheitskräfte bei vielen Gelegenheiten im Kampf allein lässt. Der kurze Planungszeitraum kann auch dazu führen, dass halbherzige Unterstützer der neuen Mission die nächste Gelegenheit zum Absprung wahrnehmen. Die RSM wird in einer Phase, in der viele Akteure die potenziellen Sieger im Bürgerkrieg auszumachen 20 Vgl: Kenneth Katzman: Afghanistan: Post-Taliban Governance, Security, and U.S. Policy, Congressional Research Service, Report (RL30588), Washington DC, 24.02.2015, S. 25 (https://www.fas.org/sgp/crs/row/RL30588.pdf). 10 versuchen, es schwer haben, die psychologische Wirkung einer loyalen Schutzmacht für die ANSF zu erzielen. Es ist sinnvoll, sich Gedanken darüber zu machen, welche Fehlentwicklungen in der Übergangsphase auf einen drohenden Kollaps hinweisen und deshalb sofort eine höhere internationale Aufmerksamkeit verdienen. • So wie eine internationale Vermittlung durch den amerikanischen Außenminister John Kerry – auch unter Beteiligung seines deutschen Amtskollegen – sinnvoll war, ist bei einem Zerfall der Regierungskoalition sofort internationale Aufmerksamkeit gefragt. Die Parlamentswahlen 2015 und die verfassungsändernde Loya Jirga 2016 oder später sind Entscheidungsmomente für die Konsensfähigkeit der afghanischen Machteliten. • Vorrangige Bedeutung hat auch die Fähigkeit der afghanischen Regierung, staatliche Einnahmen zu generieren. Reformen, die die Staatseinnahmen steigen lassen, die Wirtschaft beleben und Investitionen, zum Beispiel in den Rohstoffsektor, anregen, erfordern politische Unterstützung. Rezession oder Reformstau zum jetzigen Zeitpunkt wären eine existenzielle Bedrohung für Afghanistan in seiner jetzigen Form. • Versöhnungspolitik ist die Grundlage für die dauerhafte Beilegung des Bürgerkrieges oder zumindest für eine Erhöhung des Sicherheitsniveaus auch außerhalb der urbanen Zentren. Die internationalen Unterstützer Afghanistans müssen beobachten, welche Fortschritte die Versöhnung macht und welche Dispute sich unter den Aufständischen auftun, um Afghanistan dabei zu helfen, den kooperationswilligen Taliban entgegenzukommen. Setzen sich bei diesen aber die Hardliner durch, die testen wollen, ob nach dem Ende der ISAF nicht doch Landgewinne zu machen sind, darf der Westen die ANSF nicht ohne Unterstützung lassen. • In Afghanistan gibt es ein verbreitetes Feindbild, dass die Nachbarn wie Pakistan oder Iran an afghanischen Problemen schuld sind. Diese verfolgen in Ihrer Afghanistanpolitik natürlich Eigeninteressen. Ghanis Offerte an Pakistan zeigt eine wünschenswerte Offenheit zur Kooperation. Doch kann dies auch neue Konflikte mit Indien und Iran heraufbeschwören, die sich auch am Aufbau beteiligen müssen. Dauerhafte bilaterale Kooperationsbeziehungen Afghanistans mit seinen Nachbarstaaten wären eine Voraussetzung dafür, dass diese sich endlich untereinander auf ein gemeinsames strategisches Vorgehen mit Blick auf das Land am Hindukusch verständigen könnten, beispielsweise im Heart of Asia- Konsultationsprozess. All dies sind Prozesse, in denen höchstens graduell Erfolge zu erzielen sind, und denen wahrscheinlich über Jahre hinweg zahlreiche Rückschläge und Fehlentwicklungen in Afghanistan gegenüberstehen werden. Von der Vorstellung, dass sich am Hindukusch ein demokratisch organisiertes Land nach westlicher Vorstellung und mit westlichen 11 Menschenrechtsstandards entwickeln wird, haben alle Beteiligten mittlerweile Abstand genommen. Zurückhaltung und bescheidene Erwartungen sind sinnvoll, dürfen aber nicht die internationale Hilfsbereitschaft dort abwürgen, wo sie etwas ausrichten kann. Autor Dr. Henning Riecke, Jahrgang 1966, Politikwissenschaftler, ist als Programmleiter USA/Transatlantische Beziehungen in der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) und im Leitungsteam des Forschungsinstituts in Berlin tätig. Er ist für Veröffentlichungen und für die Organisation dreier regelmäßiger Studiengruppen zu Strategischen Fragen, Europapolitik und Globalen Zukunftsfragen verantwortlich. Seine Schwerpunkte liegen bei der Europäischen und Transatlantischen Sicherheitskooperation, der Deutschen Außen- und Verteidigungspolitik sowie der NonProliferation und Rüstungskontrolle. Der Autor bedankt sich bei Maryam Baryalay für Recherchen in und Übersetzungen von afghanischen Quellen. Literatur Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der Abgeordneten Wolfgang Gehrcke, Jan Korte, Jan van Aken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion Die Linke: Krieg in Afghanistan. Eine Bilanz, BT-Drs. 18/4168 vom 27.02.2015, (http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/18/041/1804168.pdf). Anthony H. Cordesman with Aaron Lin: Afghanistan at Transition. Lessons of the Longest War Center for Science and International Affairs, März 2015, (http://csis.org/files/publication/150319_Afghan_Transition.pdf). Department of Defense: Progress for Security and Stability in Afghanistan, Oktober 2014, (http://www.defense.gov/pubs/Oct2014_Report_Final.pdf). Fortschrittsbericht Afghanistan 2014 einschließlich einer Zwischenbilanz des Afghanistan-Engagements verfasst vom Sonderbeauftragten der Bundesregierung für Afghanistan und Pakistan, Dr. Michael Koch, Auswärtiges Amt, Berlin, November 2014 (http://docs.dpaq.de/8336-141119-fortschrittsbericht_afg_2014.pdf). 12 Islamic Republic of Afghanistan: Realizing Self Reliance Commitments To Reforms And Renewed Partnership, London Conference on Afghanistan, Kabul, December 2014 (http://www.afghanistan-un.org/wp-content/uploads/2014/12/REALIZING-FINAL-SELFRELIANCE-25-November-2014.pdf). United Nations Assistance Mission in Afghanistan / United Nations Office of the High Commissioner for Human Rights, Afghanistan. Annual Report 2014 Protection Of Civilians In Armed Conflict, Kabul, Februar 2015 (http://www.unama.unmissions.org/Portals/UNAMA/human%20rights/2015/2014Annual-Report-on-Protection-of-Civilians-Final.pdf). Links www.dgap.com Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik www.csis.org Center for Strategic and International Studies www.unama.unmissions.org United Nations Assistance Mission in Afghanistan www.unodc.org/afghanistan/ United Nations Office on Drugs and Crime 13
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