In Großbritannien fängt eine ernsthafte Debatte an

Postwachstumsgesellschaft
Konzepte für die Zukunft
Herausgegeben von
Irmi Seidl und Angelika Zahrnt
Metropolis-Verlag
Marburg 2010
„In Großbritannien fängt eine
ernsthafte Debatte an“
Interview mit Tim Jackson, Großbritannien1
Herr Jackson, gibt es in Großbritannien eine kritische Debatte zum
Wirtschaftswachstum?
Tim Jackson: Es gibt immer eine Debatte über Wirtschaftswachstum –
vor allem in der Folge einer Rezession! Aber in den letzten zehn Jahren
wurde viel mehr hinterfragt, welche Art von Wachstum wir haben
wollen. Die Labour-Regierung unter Gordon Brown setzte rhetorisch auf
„nachhaltiges Wachstum“. Es bleibt abzuwarten, wie sich die liberalkonservative Regierung von David Cameron dazu positioniert. Doch
dieser Begriff wurde niemals klar definiert und die Idee, das Wachstumsmodell selbst zu hinterfragen, traf bislang auf großen Widerstand.
Mit der Rezession, der Veröffentlichung meines Buches Prosperity without Growth2 und einigen weiteren Beiträgen wurde die Debatte merklich
breiter und differenzierter. Jetzt ist es möglich, eine ernsthafte politische
Diskussion über das Thema Wachstum zu führen.
Wer ist beteiligt und was sind zentrale Argumente?
Reaktionen auf Prosperity without Growth kamen aus vielen Richtungen:
von Gruppen der Zivilgesellschaft wie Umweltverbänden, sozialen Hilfsorganisationen und religiösen Gruppen, aus der öffentlichen Verwaltung,
Politik, Wirtschaft und sogar aus dem Finanzsektor. Inzwischen ist es
1
Die Fragen stellten Irmi Seidl und Angelika Zahrnt. Aus dem Englischen von
Dominik Zahrnt.
2
London 2009. Mehr Informationen zum Buch unter www.earthscan.co.uk/pwg.
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Interview mit Tim Jackson
mehr oder weniger anerkannt, dass die bisherige Art des Wirtschaftswachstums nicht nachhaltig und das Bruttoinlandsprodukt kein guter
Maßstab für Lebensqualität ist. Die wesentlichen Auseinandersetzungen
betreffen die Frage, inwieweit es möglich ist, die wirtschaftliche Aktivität von Umweltbelastungen zu entkoppeln. Die Technikgläubigen insistieren darauf, dass mit Effizienzgewinnen – etwa dank kohlenstoffarmer
Techniken – ökologische Ziele erreicht werden, während die Wirtschaft
weiter wächst. Viele Einwände gegen eine Postwachstumswirtschaft
haben ihren Grund in einer strukturellen Abhängigkeit vom Wachstum;
Beispiele sind die Rückzahlung öffentlicher Schulden, die Aufrechterhaltung von öffentlichen Leistungen und die Sicherung der Renten.
Wie ist die Resonanz in Öffentlichkeit und Politik?
Die politischen Reaktionen auf die Wachstumsdebatte haben sich verändert. Bis vor Kurzem weigerten sich politische Entscheidungsträger
und Politiker völlig, die wachstumsbasierte Wirtschaft infrage zu stellen.
Es gibt immer noch große Bedenken hinsichtlich der Auswirkungen einer
Wirtschaft, die insgesamt nicht mehr wächst. Zudem stößt man bei Einzelnen immer noch auf eine reflexartige Ablehnung der Debatte. Doch
eine breite, informierte Öffentlichkeit ist über das Versagen der Politiker,
offensichtliche Probleme anzugehen, irritiert und verstört und zeigt deshalb größere Bereitschaft, die Debatte zu führen. Dass die Einkommen
nicht weiter wachsen könnten, löst indes allgemein Ängste aus.
Gibt es in Großbritannien Vorstellungen, wie eine Postwachstumsgesellschaft aussehen sollte?
Mein Buch zeigt einige Visionen für Veränderungen auf: eine weniger
konsumorientierte Gesellschaft, in der die Betonung auf den Entfaltungsmöglichkeiten der Menschen liegt – vor allem darin, am gesellschaftlichen Leben auf eine sinnvollere, weniger materialistische Weise teilzunehmen; eine Stärkung nachhaltiger Investitionen sowie der Erhalt und
der Schutz ökologischer Werte; Unternehmen, die sich weniger auf die
Massenproduktion von schnell verschleißenden Verbrauchsgütern und
mehr auf lokale, dienstleistungsorientierte Aktivitäten konzentrieren; Unternehmensformen, welche die Interessen der Gesellschaft in ihre Strate-
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gie mit einbeziehen und schließlich eine größere Aufmerksamkeit für den
öffentlichen Raum und vor allem für Grünflächen.
Sind diese Ideen und Lösungsansätze auf andere Länder übertragbar?
Ja, zweifellos.
Welche Gegebenheiten machen eine Abkehr vom ständigen Wachstumswachstum in Ihrem Land besonders schwierig?
Die hohe öffentliche Verschuldung, steigende Kosten für Gesundheit und
Sozialversicherung, die Abhängigkeit von Importen, das Vertrauen der
Wirtschaft in die Aktivitäten des Finanzsektors und schließlich das Vertrauen, dass Produktivitätsgewinne Arbeitsplätze schaffen.
Was könnte eine Abkehr von der Wachstumsorientierung befördern?
Eine Reihe von Dingen muss geschehen: Politische Maßnahmen für eine
bessere Verteilungsgerechtigkeit müssen ergriffen, ökologisch vertretbare Dienstleistungen gefördert und die Stabilität lokaler Gemeinschaften
gestärkt werden. Die exzessiven Freiheiten und perversen Anreize der
Kapitalmärkte müssen eingeschränkt und bessere Finanzierungsinstrumente für lokale Aktivitäten geschaffen werden. Es braucht flexiblere
Arbeitszeiten und Möglichkeiten, Auszeiten in verschiedenen Phasen des
Berufslebens wahrzunehmen. Die Bewertung von sozialem und ökologischem Kapital muss verbessert und die volkswirtschaftliche Gesamtrechnung reformiert werden, die Preispolitik muss fehlleitende Anreize
reduzieren und die Ressourcenproduktivität stimulieren, die öffentliche
Verschuldung muss umstrukturiert und eine höhere Sparquote der Bevölkerung angestrebt werden.
Welche politischen Aufgaben sind in Großbritannien vordringlich, um
von der starken Wachstumsorientierung wegzukommen?
Zuerst braucht es einen öffentlichen Raum, in dem umfassende und anspruchsvolle Debatten über eine Postwachstumsgesellschaft geführt werden können. Diese Debatten müssen Fragen der Ressourcenbegrenztheit,
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Interview mit Tim Jackson
der Struktur der Wirtschaft und der gesellschaftlichen Logik des Konsumverhaltens umfassen. Es ist insbesondere notwendig, Kompetenzen
für eine ökologische Perspektive auf die Makroökonomie aufzubauen
und Institutionen im Finanzbereich, in Verwaltung und Regierung zu
reformieren.
Zu welchen Themen einer Postwachstumsgesellschaft besteht dringender
Forschungsbedarf?
Unabdingbar sind die Entwicklung einer ökologischen PostwachstumsMakroökonomie sowie die Einführung klarer Ressourcen- und Umweltgrenzen für das ökonomische Handeln.
Tim Jackson ist Professor für Nachhaltige Entwicklung an der University of Surrey. Seine Forschungsschwerpunkte sind: Nachhaltigkeit des Lebensstils, des Konsums, der Produktion und des ökonomischen Wohlergehens; kohlenstoffarme Energiesysteme; Religion und Nachhaltigkeit.
Seit 2004 ist er Economics Commissioner in der Sustainable Development Commission, die die britische Regierung berät. Sein jüngstes Buch
Prosperity without Growth. Economics for a Finite Planet erschien 2009
bei Earthscan. [email protected].