WISSENSCHAFT
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PSYCHISCHE STÖRUNGEN
DIE VERMEINTLICHE ZUNAHME
AUF DEM PRÜFSTAND
Von Julia Bretschneider, Susanne Müllender und Frank Jacobi, Psychologische Hochschule Berlin
Psychische Störungen verursachen enorme Kosten in Deutschland und spielen eine immer
größere Rolle im Versorgungsgeschehen: Diagnoseraten, Frühberentungen und Krankschreibungen haben in den letzten Jahren deutlich zugenommen. Zugleich gibt es laut den Daten
der Kostenträger große regionale Unterschiede bei dieser Diagnosegruppe. Doch haben sie
tatsächlich zugenommen oder wurden sie früher im Praxisalltag nur häufiger übersehen? Die
richtige Antwort darauf entscheidet in jedem Fall über die Gerechtigkeit der Verteilung von
Ressourcen im Versorgungsgeschehen.
© Henrik Sorensen / Stone / Getty Images
Psychische Störungen erhalten vermehrt mediale Aufmerksamkeit in Deutschland. Auch ihre Bedeutung im Versorgungsgeschehen ist in den letzten Jahren gestiegen, wie
unter anderem die enorme Zunahme an Frühberentungen
aufgrund psychischer Störungen zeigt. Ebenso dokumentiert der BKK Gesundheitsreport 2014, dass ambulant
diagnostizierte psychische Störungen sowie daraus resultierende Krankschreibungen deutlich häufiger geworden
sind. Es zeigten sich jedoch große regionale Schwankungen, beispielsweise war die Depressionsrate im Osten
Deutschlands wesentlich niedriger als im Westen. In Berlin
wurden psychische Störungen insgesamt am häufigsten
diagnostiziert.
Vor dem Hintergrund der individuellen Beeinträchtigung
durch psychische Störungen und ihrer hohen gesellschaftlichen Kosten ist daher die Frage, ob psychische Störungen
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Betriebskrankenkassen 04 | 2015
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tatsächlich zugenommen haben aktuell von großer ökonomischer und gesundheitspolitischer Relevanz. Spiegeln
die Abrechnungsdaten von Krankenkassen tatsächlich eine
zunehmende psychische Morbidität in Deutschland wider?
Ebenso stellt sich die Frage nach der regionalen Verteilung
psychischer Störungen – insbesondere, da es große regionale Unterschiede in der Versorgung gibt. Beispielsweise
variiert nach Angaben des Zentralinstituts der Kassenärztlichen Vereinigung die Anzahl an Psychotherapeuten pro
100.000 Einwohner zwischen 1,7 und 129 zwischen den
Landkreisen (www.versorgungsatlas.de). Zur Beantwortung dieser Fragen bedarf es epidemiologischer Daten,
welche psychische Störungen im Gegensatz zu Abrechnungsdaten standardisiert, bevölkerungsrepräsentativ und
unabhängig vom Hilfesuchverhalten Betroffener erfassen.
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Keine generelle Zunahme psychischer Störungen
in Deutschland seit Ende der 90er Jahre
BGS98 (1998)
Irgendeine psychische Störung
BKK: F00 – F99 (Psychische Störungen; 20 – 65-jährige)
BKK: AU-Fälle aufgrund F00 – F99 (alle Alter)
35
35
30
30
25
25
20
20
Prozent
Prozent
DEGS1-MH (2012)
15
15
10
10
5
5
0
0
irgendeine Störung
Angststörung
affektive Störung
BGS98/DEGS1-MH:
irgendeine psychische Störung (18–65-jährige)
1998
2005
2009
2012
2013
Abb.1: Häufigkeit psychischer Störungen (innerhalb eines Jahres): Vergleich der Studien DEGS1-MH und BGS98
Abb. 2: Häufigkeiten psychischer Störungen innerhalb eines Jahres: Vergleich der administrativen Daten der BKK (F-Diagnosen und
Arbeitsunfähigkeits-Fälle aufgrund von F-Diagnosen) und repräsentativen epidemiologischen Daten des Bundesgesundheitssurvey 1998 (BGS98)
und der Studie zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland (DEGS1-MH)
HABEN PSYCHISCHE STÖRUNGEN TATSÄCHLICH ZUGENOMMEN?
Belastungen das Hilfesystem aufsuchen. Eine Diagnose
wird dann möglicherweise auch bei leicht beeinträchtigten
Personen gestellt, um auch Hilfe anbieten zu können. Zudem könnte die fortschreitende Digitalisierung eine Rolle
spielen: In der modernen Welt werden Krankheitsdaten
zunehmend per Computer erfasst. Sie verbleiben anschließend in den Krankenakten von Ärzten und Kliniken sowie
in den Leistungslisten von Krankenkassen oder Rentenversicherern, ohne dass die Betroffenen auch wieder „gesund geschrieben“ werden, obwohl die Diagnosekriterien
eigentlich gar nicht mehr erfüllt sind. Wer also einmal die
Diagnose einer Angsterkrankung, Depression oder Persönlichkeitsstörung erhalten hat, den wird diese Diagnose „verfolgen“ – somit werden Personen mit aktuellen
psychischen Erkrankungen möglicherweise systematisch
überschätzt.
Trotz der hohen Diagnoseraten scheint die Versorgung
psychischer Störungen in Deutschland demnach verbesserungswürdig. Wir haben es anscheinend mit einem Mix aus
Überdiagnostizieren und gleichzeitigem Nicht-Erkennen zu
tun – zudem geben die Daten keine Informationen über
die Angemessenheit und die Qualität der Versorgung der
Epidemiologische Untersuchungen der Veränderung von
Häufigkeiten psychischer Störungen sind methodisch
enorm aufwändig und kostenintensiv. Aufgrund dessen
gibt es für Deutschland nur wenige geeignete Daten, um
die Frage nach einer Zunahme psychischer Störungen zuverlässig beantworten zu können.
Diese liefern nur die 2012 abgeschlossene Studie DEGS1
des Robert-Koch-Instituts zur Gesundheit Erwachsener und
ihre Erweiterung um den Zusatzsurvey zur psychischen Gesundheit (DEGS1-MH). Sie ermöglichen einen Vergleich mit
den Daten aus dem Bundesgesundheitssurvey von 1998
(BGS98). Demnach sind die Häufigkeiten psychischer Störungen innerhalb eines Jahres (siehe Abb. 1) unter den 18bis 65-Jährigen ähnlich hoch (31,1 % vs. 30,1 %). Für die
affektiven Störungen (Depressionen und andere Störungen
aus dem depressiven Störungsspektrum wie Dysthymie
oder Bipolare Störungen) sowie für Angststörungen gilt
dasselbe – für Deutschland kann demzufolge auf Bevölkerungsebene und für die zahlenmäßig wichtigsten Diagnosegruppen keine generelle Zunahme psychischer Störungen
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seit Ende der 1990er Jahre verzeichnet werden.
Abbildung 2 zeigt, dass die Häufigkeit psychischer Störungen laut den Abrechnungsdaten der BKK von 21,4 % im
Jahr 2009 auf 30,5 % im Jahr 2013 deutlich angestiegen ist
und sich den epidemiologischen Häufigkeiten über die Zeit
angenähert hat. Krankschreibungen aufgrund psychischer
Störungen betreffen nur einen relativ kleinen Anteil der Fälle, sind aber ebenfalls gestiegen.
Die Zunahme psychischer Diagnosen in Abrechnungsdaten
scheint somit nicht auf eine echte Zunahme psychischer
Störungen zurückführbar. Wie lässt sie sich dann erklären?
Bei der Zunahme der Diagnosen laut BKK kann eine Annäherung an die wahre Häufigkeit eine Rolle spielen, etwa
durch eine stärkere Inanspruchnahme des Hilfesystems
durch Betroffene – z. B. infolge einer geringeren Stigmatisierung psychisch Kranke, oder aufgrund besser ausgebauter Versorgungsangebote. Diese Entwicklung könnte ab
einem gewissen Punkt jedoch auch dazu führen, dass sich
Menschen zu schnell als behandlungsbedürftig erleben
und auch bei „normalen“, vorübergehenden psychischen
Betriebskrankenkassen 04 | 2015
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Patienten. Beispielsweise wird aktuell von einem Versorgungsmissstand insbesondere bei schwer psychisch Kranken in Deutschland ausgegangen.
GIBT ES REGIONALE UNTERSCHIEDE IN DER HÄUFIGKEIT PSYCHISCHER STÖRUNGEN?
In den Abrechnungsdaten werden immer wieder große
regionale Unterschiede im Vorkommen und der Behandlung psychischer Störungen deutlich. So werden Depressionen bspw. insbesondere in Süddeutschland (Bayern und
Baden-Württemberg) häufiger diagnostiziert als im Norden
oder Osten Deutschlands und in Großstädten (z. B. Berlin,
Hamburg, München) häufiger als in ländlichen Gegenden.
Ob diese Unterschiede am tatsächlichen, regionalen Bedarf
Betroffener orientiert sind oder möglicherweise eine Über, Unter- oder Fehlversorgung anzeigen, ist jedoch fraglich.
Möglicherweise gibt es regional unterschiedliche Diagnosegewohnheiten. Es könnte auch sein, dass solche Unterschiede lediglich unterschiedliche Behandler-Dichten abbilden (z. B. indem in Gegenden mit nur wenig Psychiatern
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» In Deutschland ist auf Bevölkerungsebene und für
die zahlenmäßig wichtigsten Diagnosegruppen keine
generelle Zunahme psychischer Störungen seit Ende
der 1990er Jahre erkennbar. «
und Psychotherapeuten allein deswegen weniger Diagnosen gestellt werden). Grundsätzlich sind regionale Variationen psychischer Störungen denkbar: Die Entstehung und
Aufrechterhaltung psychischer Störungen ist im Allgemeinen durch das komplexe Zusammenspiel verschiedener
Risikofaktoren bedingt, so dass im Zusammenhang mit der
soziodemografischen Bevölkerungsstruktur auch regionale
Unterschiede in der Verteilung solcher Faktoren und folglich entsprechende Häufigkeitsunterschiede möglich sind.
Die Analyse regionaler Unterschiede ist jedoch ein relativ
neues Feld in der Versorgungsforschung, Auswertungen
der epidemiologischen Daten des DEGS1-MH zur tatsächlichen Verteilung psychischer Störungen liegen daher nur
für einen Ost-West-Vergleich und nach dem Grad der Urbanisierung (Einwohnerzahl) vor. Zwischen den neuen und
den alten Bundesländern gibt es dabei keine nennenswerten Unterschiede. Die Rate an Personen mit psychischen
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FAZIT
Anhand der vorgestellten Ergebnisse des BGS98 und des
DEGS1-MH gibt es keinen Grund zur Annahme, Deutschland werde immer kränker. Die Zunahme psychischer Störungen in den Daten von Kostenträgern scheint demnach
etwas anderes abzubilden: Früher wurden psychische
Störungen scheinbar häufiger übersehen. In den letzten
Jahren scheint es somit eine Annäherung an die wahre
Häufigkeit zu geben. Jedoch werden sie nun eventuell sogar teilweise überdiagnostiziert. Unter Umständen werden
diagnostische „Etikettierungen“ erzwungen, indem bei
den Sozialversicherungen die Leistungsabrechnung in der
Regel an die Vergabe von Diagnosen gebunden ist. Die Zunahme diagnostizierter psychischer Störungen im Versorgungsgeschehen kann somit nicht einfach mit einer besseren Versorgung an sich gleichgesetzt werden. Darüber
hinaus ist grundsätzlich zu beachten, dass sich aus dem
Störungen in Großstädten mit mehr als 500.000 Einwohnern ist mit 32 % etwas höher ist als zum Beispiel in Gemeinden mit weniger als 20.000 Einwohnern – hier liegt
die Rate bei etwa 27 %. Spezifische Stressfaktoren erhöhen möglicherweise das Risiko für psychische Störungen
in der städtischen Umgebung, wobei insbesondere die
Verarbeitung von sozialem Stress bedeutsam scheint - wie
z. B. infolge sozialer Benachteiligung, mangelnder sozialer
Unterstützung oder vermehrter „Anomie“ (Orientierungslosigkeit, Verhaltensunsicherheit und gesellschaftlicher
Desintegration) in Großstädten.
Vorliegen einer psychischen Störung nicht automatisch Behandlungsbedarf ergibt. Wie bei körperlichen Erkrankungen
auch, gibt es eine große Variation hinsichtlich Schweregrad
und Beeinträchtigung aufgrund psychischer Störungen. Inwiefern eine Behandlung indiziert ist, hängt nicht nur vom
Vorhandensein einer psychischen Störung ab, sondern
auch vom Vorhandensein effektiver Behandlungsmaßnahmen sowie von der subjektiven Behandlungsbedürftigkeit.
Zudem stellt sich die Frage nach der Gerechtigkeit der
Verteilung von Ressourcen im Versorgungsgeschehen, da
nicht nur die Häufigkeiten psychischer Störungen in den
Abrechnungsdaten, sondern auch Versorgungsangebote
regional variieren. Dies scheint jedoch kaum mit Variationen tatsächlicher Häufigkeiten einherzugehen – allerdings
stehen derartige kleinräumige Untersuchungen noch aus.
BKK GESUNDHEITSATLAS 2015
Blickpunkt Psyche
Depressionen und Burn-out auf dem Vormarsch?
Im Gesundheitsatlas 2015 untersuchen Experten aus Wissenschaft, Politik und
Praxis, warum psychische Erkrankungen in einigen Regionen signifikant häufiger vorkommen und welche Probleme es mit regionalen Disparitäten gibt. Welche Lösungen sind hierfür zu entwickeln oder bereits vorhanden?
Mehr unter: www.bkk-dv.de/publikationen
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