Stuttgarter Zeitung, 14.11.15

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SAMSTAG
14. November 2015
KULTUR
31
Die kalte Hand des NSU
Sternstunde engagierter Literatur: Wolfgang Schorlau stellt im Stuttgarter Hospitalhof seinen neuen Dengler-Krimi vor. Über die
Verwicklung des Staats in den Rechtsextremismus könnte man den Blues bekommen. Trost schafft am Ende nur die Musik. Von Stefan Kister
Lesung
o ein Gedrängel kennt man sonst
eher von Rockkonzerten, seltener
von Lesungen. Und ein wenig fängt
das Ganze ja auch an wie ein Rockkonzert,
wenn sich der Gitarrist Werner Dannemann in seine eigenwillige Version des
Dylan-Songs „All Along the Watchtower“
hineinsteigert, worin es ebenfalls um den
Überblick geht, den sich die Mächtigen
verschaffen. Wie in Wolfgang Schorlaus
neuem Dengler-Krimi. 850 Zuhörer füllen
den Hospitalhof, wohin das Literaturhaus
Stuttgart die Buch-Premiere von der
„Schützenden Hand“ ausgelagert hat. In
seinem achten Einsatz packt der Privatdetektiv den vielleicht brisantesten Fall
der jüngeren deutschen Rechtsgeschichte
an: jene Mordserie an Migranten, deren
Dimension erst mit dem Tod der beiden
Rechtsextremisten Uwe Mundlos und
Uwe Böhnhardt von der Terrorgruppe
„Nationalsozialistischer
Untergrund“
offenbar wurde. Seitdem sind immer wieder neue haarsträubende Verstrickungen,
Vertuschungen und Ungereimtheiten ans
Licht gekommen. In welchem Verhältnis
dazu der Watchtower der Staatsmacht
steht, wirft Fragen auf, die ein erster
Untersuchungsausschuss nicht klären
konnte, und die seit zwei Jahren im
Schweigen der mutmaßlichen Komplizin
Beate Zschäpe im Münchner NSU-Prozess
folgenlos verhallen.
Doch nun kommt Bewegung in die
Sache. Dengler ermittelt. Prompt kündigt
die Angeklagte eine umfassende Erklärung
an, und ein neuer Untersuchungsausschuss
wird eingesetzt. Da will man natürlich da- Was Wolfgang Schorlau (re.) und Werner Dannemann spielen, hätte dem Detektiv Dengler im Roman sicher gefallen.
Foto: Kabel
bei sein, wenn Denglers Mastermind, der
Autor Wolfgang Schorlau, aus dem Ein- benslustiger Ehefrauen sein Geld verdie- der ungeheure Verdacht erhärtet sich im- hen wir kurz vor dem lange erwarteten
gemachten plaudert. In der ersten Reihe nen muss, an diesen Fall? Schorlau erzählt, mer mehr: dass die schützendes Hand des Durchbruch in diesem Verfahren.“
fummelt sein Verleger Helge Malchow an wie er auf einer Gedenkfeier für die Opfer Staates selbst am Abzug war. „Kein KrimiAber wie kam Schorlau an seine Inforseinem Handy herum. „Vermutlich werden des Nagelbombenattentats eingeladen war, autor würde es wagen, so hanebüchene Sa- mationen? „Hier sind ja keine Dienste im
wir ohnehin abgehört“, murmelt er. Selten das der NSU in der Kölner Keupstraße chen zu schreiben, wie sie an diesem Tatort Raum“, antwortet er verschmitzt, „dann
operiert ein fiktionaler Krimi
begangen hat. Er habe Leute passiert sind“, sagt Schorlau. Dass gegen kann ich es ja sagen“. Erstmals habe er mit
so sehr an einer offenen Wun- Hier fehlt ein
kennengelernt, die unglaubli- das Einmaleins der Spurensicherung ekla- einem professionellen Rechercheur zusamde der Wirklichkeit, auch wenig Hirnmasse,
che Geschichten erzählten, tant verstoßen wurde, leuchtet auch dem mengearbeitet. Dadurch wurde vieles mögwenn Schorlaus Detektiv mit dort ist eine
Dinge, die in schärfstem kriminalistischen Laien ein, der seine Aus- lich. Außerdem sei er von vielen „tollen
dergleichen Eingriffen ja
Gegensätze zur offiziellen bildung sonntagabends vor dem Fern- Polizisten“ unterstützt worden. Auch die
schon Erfahrung hat. Hier Patronenhülse
Version der Ereignisse stan- seh-„Tatort“ genossen hat. „Entspricht das Stuttgarter Zeitung ist im Spiel. Als Reakaber geht es, wie auf dem zu viel: nichts
den. „Da habe ich mir gedacht, wirklich der Wahrheit?“, fragt entwaffnet tion auf ein Interview seien einige Leute auf
Buch-Einband zu lesen ist, um passt zusammen.
das könnte etwas sein, was der Moderator Wolfgang Niess. „Bedauerli- ihn zugekommen, die ihm neue Quellen erdie „Anatomie eines StaatsDengler sicher interessieren cherweise ja, all das hat sich in der Wirk- schließen konnten. „Dass sich Staatsorgane
verbrechens“. So ist dieser
schuldig machen, mag in Teilen zu ihren
wird.“ So war es dann auch. lichkeit so zugetragen.“
Abend so spannend wie ein Prozess, und Und plötzlich findet sich die kleine DetekVon der angekündigten Erklärung Beate Aufgaben gehören“, sagt Schorlau am
der Hospitalhof wird zum Gerichtshof.
tei im Bohnenviertel im Sog dieses skanda- Zschäpes erwartet sich Schorlau einiges. Schluss. „Aber die Beförderung der NeonaDie Fragen stellt der SWR-Redakteur lösen Falls um die üblen Machenschaften „Ich bin wahnsinnig neugierig, sie kann er- ziszene ist ein Verbrechen.“ Szenenapplaus.
Wolfgang Niess, für Dengler antwortet sein von Geheimdiensten und Staatsorganen.
Eigentlich könnte man nach diesen
klären, wer das Feuer in dem Camper gelegt
Autor, was in Ordnung geht. Denn erstens
In diesen Sog gerät auch das Publikum. hat, in dem Mundlos und Böhnhardt gefun- Einsichten den Blues kriegen. Das ist auch
offenbart sich bei dieser Gelegenheit das Schritt für Schritt legt Schorlau die fatalen den wurden, und sie wird auch einiges zu der Fall. Zu einem alten Südstaaten-Blues
innige Verhältnis zwischen Schöpfer und Widersprüche in der offiziellen Wahrheits- sagen haben über die Verbindungen der greift Schorlau selbst zur Mundharmonika.
Geschöpf, und zweitens sind alle wesent- erzählung um den angeblichen Selbstmord rechten Szene zu den Geheimdiensten.“ Dengler hätte das sicher gefallen. Mit
lichen Sachverhalte von der Wirklichkeit der beiden Terroristen in allen grässlichen Auch andere seien gerade dabei, ihr diesem Trost klingt der Abend aus, der den
gedeckt und mit Fußnoten sauber belegt. Details offen. Hier fehlen ein paar Kilo Ge- Schweigen zu brechen. Optimistisch zeigt dunklen Horizont dieses unfassbaren VerAber wie kommt ein armer Schlucker wie hirnmasse, dafür liegt dort eine Patronen- er sich in Bezug auf den neuen Unter- brechens mit einer Sternstunde engagierDengler, der sich mit der Observation le- hülse zu viel. Nichts passt zusammen, und suchungsausschuss. „Möglicherweise ste- ter Literatur überwölbt.
S
Ein „Ort mit internationaler Strahlkraft“
Film, Kunst, Theater: das Land plant, das Kunstgebäude
in Zukunft interdisziplinär nutzen zu lassen. Von Amber Sayah
Stuttgart
m nächsten Jahr zieht der baden-württembergische Landtag aus dem Kunstgebäude am Schlossplatz wieder aus.
worin er während der Sanierung des
Landtagsgebäudes eine vorübergehende
Bleibe gefunden hat. Was mit dem von
Theodor Fischer zu Beginn des 20. Jahrhunderts entworfenen und nach dem Zweiten Weltkrieg von Paul Bonatz wieder aufgebauten Haus passieren soll, wenn die
Politik an ihren Stammsitz im Oberen
Schlossgarten zurückkehrt, erläuterten
Finanzminister Nils Schmid (SPD) und
Kunststaatssekretär Jürgen Walter (Grüne) am Freitag in einer Medienkonferenz
im Neuen Schloss.
Klar ist demnach, dass das Kunstgebäude nach der Interimsnutzung durch das
Landesparlament wieder für eine kulturelle Nutzung zur Verfügung stehen soll und
nicht – wie zwischendurch gerüchteweise
verlautete – von der Politik auf Dauer kassiert wird. Klar ist ferner, dass es keine
Fortsetzung der Großen Landesausstellungen mehr geben wird, die bis 2012 mal Eiszeitkunst, mal Römer, dann wieder Kelten
oder Fußball im Kunstgebäude einquartierten. Das Konzept sei überholt, heißt es.
Weniger klar ist, was man sich unter
dem „alternativen Nutzungskonzept“ vorzustellen hat, wonach sich der Bau zu
einem „Ort aller zeitgenössischen Künste
I
mit internationaler Strahlkraft“ mausern
soll. Interdisziplinär soll es nach dem Willen der Politik fortan im Kunstgebäude zugehen. Mit einem Neben- und Miteinander
von Film, Kunst, Theater und Festivals will
man nach Walters Worten „was ganz Neues
auf die Beine stellen“. Unerwünscht ist dagegen eine „monothematische Nutzung“.
Alle Bestrebungen, unter der hirschbekrönten Kuppel dem Kommunalen Kino
Obdach zu gewähren oder der Architektenund Designszene eine Plattform zu bieten,
wurden deswegen abgeschmettert. Stattdessen ist man zu Großem und „Einmaligem“ entschlossen, das sich aber – wenn
überhaupt – erst sehr vage abzeichnet.
Vorerst hat ein „moderierter, mehrstufiger Beteiligungsprozess mit Kulturschaffenden“ aus Stuttgart stattgefunden, aus
dem eine Arbeitsgruppe, bestehend aus den
Direktionen des Württembergischen
Kunstvereins, des Staatsschauspiels und
des Rampe-Theaters, mit einem Konzeptpapier hervorgegangen ist. Sie schlägt nun
vor, basierend auf der interdisziplinären
Zusammenarbeit zahlreicher Institutionen
mehrjährige Programmschwerpunkte zu
„gesellschaftsrelevanten und aktuellen
Themen“ zu veranstalten. Als Beispiele für
solche inhaltlichen Schwerpunkte werden
das „Bauhaus-Jubiläum, Interkultur oder
Urbanismus“ genannt.
Das Kunstgebäude (links) am Schlossplatz
wird neu genutzt.
Foto: Vario Images
Ein Intendanten-Modell lehnt die Gruppe jedoch ab. Sie favorisiert stattdessen eine
„Programmkonferenz“ von „internationalen Experten“ aus verschiedenen Sparten,
die themenbezogene Programme erarbeitet. Die Verfasser des Konzeptpapiers sind
überzeugt, dass es sich bei der Programmkonferenz um eine „hochinteressante, zukunftshaltige Konstellation“ handelt, die
„zur Internationalisierung der Kulturszene
im Land“ beitragen werde. „Der große
Charme des Konzepts liegt in der Einbeziehung der lokalen Ressourcen und der mutigen Hybridität, ohne Gefahr zu laufen beliebig zu werden“, schreibt die Gruppe selbstbewusst in einem Papier zur Zukunft des
Kunstgebäudes. Armin Petras verwies in
dem Pressegespräch auf existierende Beispiele spartenübergreifender Praxis wie die
Berliner Volksbühne, die künftig von dem
Ausstellungskurator und bisherigen Leiter
des Münchner Hauses der Kunst und der
Londoner Tate Modern Chris Dercon geführt wird. „Wir wollen bestehende Konzepte aber radikalisieren“, sagte der Stuttgarter Theaterintendant.
Einen Manager und einen Etat braucht
das Kunstgebäude gleichwohl. Der Finanzminister lässt darum eine Machbarkeitsstudie erarbeiten, in der nicht nur die
Investitions- und Folgekosten der inhaltlichen Neuausrichtung, sondern auch der
finanzielle Aufwand für die bauliche Ertüchtigung des Hauses berechnet werden
sollen. Nils Schmid möchte das Ergebnis
der Studie in der ersten Hälfte 2016 vorlegen. Starten könnten die neuen Aktivitäten
dann frühestens 2017, denn nach dem Auszug des Landtags müssen die Räume für die
Zwecke der nachfolgenden Nutzer erst umgerüstet werden. Dabei wird auch der Denkmalschutz ein gewichtiges Wort mitzureden haben. Schmid und Walter sind aber
bereit, Geld für die neue Kultureinrichtung
des Landes in die Hand zu nehmen, denn zu
Lasten bestehender Institutionen soll der
neue Künstetempel nicht gehen.
Das
erste Mal
Das Gift
unserer Tage
Hass Bücher, Worte und Parolen können
zerstörerische Wirkung haben.
Gegenwärtig erlebt man das etwa bei
Pegida-Demos. Von Anna Katharina Hahn
it etwa zwölf Jahren entdeckte
ich in der Bibliothek meines Regisseur-Großvaters Georg Hahn
den irischen Autor Oscar Wilde: Dandy und
Daddy von zwei Söhnen, verheiratet, extrem erfolgreich. Er starb am 30. November
1900 mit 46 Jahren in Paris, gesellschaftlich und gesundheitlich ruiniert von einem
viktorianischen Schauprozess um seine offen gelebte Homosexualität, dem Gefängnis und der Zwangsarbeit.
Wildes opulente Kunstmärchen entzückten mich besonders. Ich verbrach zahllose Seiten in seinem Stil oder was ich damals dafür hielt. In Oscar Wildes einzigem
Roman, dem „Bildnis des Dorian Gray“, las
ich zum ersten Mal, dass ein Mensch durch
ein Buch vergiftet werden kann. Dorian,
dem göttlich schönen Jüngling, geschieht
dies durch das „Yellow Book“, eine Bibel der
Dekadenz, in der zum rücksichtslosen Lebensgenuss aufgefordert wird. Der junge
Mann richtet sich nach dieser Philosophie,
wird zum mehrfachen Mörder, stürzt
Freunde ins Unglück, lebt wie das Laster
selbst, während ein Ölbild mit seinem Porträt alle Spuren seiner Verbrechen auf sich
nimmt bis zum bitteren, hochmoralischen
Ende. Obwohl ich eine fanatische Leserin
war, hielt ich es für ein Märchen, dass Bücher Menschen verändern können.
Besonders in letzter Zeit bemerke ich,
welch hohe Halbwertzeit und ungeheure
Wirksamkeit das Gift der nationalsozialistischen Ideologie haben muss. Die letzten
Täter des Dritten Reichs sind uralt oder
verstorben. Schriftsteller von Hitlers
„Gottbegnadeten-Liste“ werden kaum
noch gelesen oder gar erforscht. Wer kennt
heute die Namen Erwin Guido Kolbenheyer, Hans Friedrich Blunck, Ina Seidel oder
Agnes Miegel? Ihre Worte und ihre Denkweise leben allerdings weiter: auf den Plakaten der Pegida-Demonstranten, in den
Hass-Mails der Internetforen, in den
Schmierereien auf Flüchtlingsheimen und
Synagogen. Wenn Beate Zschäpe von der
NSU, eine der intelligentesten und grausamsten Terroristinnen der deutschen Geschichte, sich jemals entschließt zu sprechen, wird jeder ihrer Sätze vor Gift triefen.
Das Gift wirkt fort. Schulhofschimpfwörter wie „Du Spast!“, „Du Jude!“ oder
„Du bist voll behindert!“ wurzeln in seiner
braunen Brühe, genauso wie das unter vielen Intellektuellen schon länger als schick
geltende Flirten mit dem Staatsrechtler
Carl Schmitt, Kronjurist des Dritten Reiches, Demokratieverächter und geistiger
Wegbereiter des Nationalsozialismus.
Auch die ständige Verunglimpfung von
Journalisten und demokratisch gewählten
Politikern als Vertreter von „Lügenpresse“
und „Quatschbude“ ist zutiefst empörend.
Sprache, wie sie auf der Straße, in der Schule, im Bus und in der Kneipe im Munde geführt wird, zeigt deutlicher als jede Umfrage, wes Geistes Kinder wir sind. Mehr denn
je ist es nötig, das Gift zu erkennen, es auszuspucken und jeden, der es kosten möchte, energisch davon abzuhalten.
M
Bundestag
Millionen für Kultur
Kulturelle Projekte in Deutschland können
im kommenden Jahr mit 115 Millionen
Euro mehr rechnen als bisher geplant. Der
Haushaltsausschuss des Bundestags stockte in seiner sogenannten Bereinigungssitzung den Etat von Kulturstaatsministerin
Monika Grütters (CDU) auf insgesamt
rund 1,4 Milliarden Euro auf – ein Plus von
vier Prozent gegenüber 2015. Für die Folgejahre wurden weitere 620 Millionen Euro
eingeplant. Grütters nannte den Nachschlag ein „großartiges Zeichen für die Kultur in Deutschland“.
dpa
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