Interview mit Flüchtlingshelferin „Man hat zu viel zu lange laufen

Interview mit Flüchtlingshelferin „Man hat
zu viel zu lange laufen lassen“
Von Jürgen Bock 27. Januar 2016 - 12:00 Uhr
Im Sommer 2015 schwoll der
Flüchtlingsstrom massiv an – hier warten
Hunderte auf eine Notunterkunft in der
Ragini Wahl ist seit fast drei Jahrzehnten
in vielerlei Funktionen in der
Flüchtlingshilfe tätig. Sie erklärt, was aus
ihrer Sicht falsch läuft in Deutschland und
Europa.
Stuttgart/Nürtingen. –
Frau Wahl, im Raum Nürtingen und im
ganzen Land sind Sie seit langem für
SchleyerhalleFoto: Lichtgut/Max Kovalenko
Flüchtlinge tätig. Wie lange engagieren Sie
sich schon?
Seit 28 Jahren. Und in dieser Zeit hat sich vieles verändert.
Was genau?
Bei den Flüchtlingen stehen andere Herkunftsländer im Mittelpunkt. Früher ging es um Sri
Lanka oder den Libanon. Heute scheint es sehr viel mehr Krisenländer zu geben. Auch das
Kriegsgeschehen hat sich geändert. Damals war klar: Land x kämpft gegen Land y, das ist
irgendwann auch mal zu Ende. Heute verlaufen die Konflikte viel breiter und haben zig
Beteiligte. Man weiß oft gar nicht mehr, wer gegen wen kämpft. Zudem sind die Abläufe
völlig andere, sowohl im Asylverfahren als auch auf der Flucht. Handys haben da vieles
verändert.
Sind auch die Helfer anders?
Die Ehrenamtlichen kamen früher zum Großteil aus der Friedensbewegung und hatten
politisch einen hohen Anspruch. Sie wollten politische Verbesserungen für Flüchtlinge. Es
gab viel mehr Aufbruchstimmung. Von Willkommenskultur hat kein Mensch geredet, sie
wurde gelebt. Aber solche Flüchtlingszahlen wie heute konnte man sich damals auch nicht
vorstellen.
Der enorme Zustrom nach Deutschland reißt nicht ab. Es wird heftig diskutiert, warum
das so ist und was man tun könnte. Was ist falsch gemacht worden?
Die Politik hat viel zu spät reagiert. Man hat die präventive Arbeit versäumt und die sich seit
Jahren abzeichnende Entwicklung verdrängt. Die Riesenzahlen fangen in der Türkei, in
Marokko oder Tunesien an. Da hat man politisch zu vieles zu lange laufen lassen. Genau
deshalb müssen wir jetzt Turnhallen belegen. Auch die Bevölkerung ist lange nicht redlich
informiert oder mitgenommen worden. Und man hat aus alten Fehlern nicht gelernt: Mit den
vielen Großunterkünften bekommt man all die Probleme zurück, die es in den 90ern schon
gab. Das ist die schlechteste Form der Unterbringung.
Hat nur Deutschland Fehler gemacht?
Nein, das ist ein gemeinsames europäisches Versagen. Es handelt sich um eine
Kettenreaktion. In Griechenland oder Italien lief es schon drei, vier Jahre lang schlecht. Doch
erst als die Schiffe und die Toten im Mittelmeer kein Ende mehr nahmen, kamen Debatten
darüber auf, ob man wohl etwas ändern müsste.
Was müsste man denn ändern?
Zu meinem eigenen Erschrecken vermag ich nicht zu sagen, was die große Lösung wäre.
Dazu sind Deutschland und Europa in einer viel zu großen Schieflage, die durch ständiges
Schönreden nicht besser wird. Klar ist aber, dass die Bekämpfung der Fluchtursachen der
Schlüssel ist. Das ist nichts Neues, aber man hat dieses Ziel mit zu wenig Nachhaltigkeit
verfolgt. Wenn man im Irak oder in Afghanistan Krieg führt, sollte man auch wissen, wo man
für die Zukunft hin will. Wichtig wäre außerdem, dass sich die Politik bei einem solch
brennenden Thema auf eine größtmögliche Schnittmenge abseits von parteipolitischen
Interessen verständigt.
Manche fordern, die Grenzen zu schließen. Ist das realistisch?
Die Frage kommt zu spät. Denn eigentlich sollte es eine Selbstverständlichkeit sein, dass ein
Staat eine Grenze hat und die auch sichert. Dass er wissen will, wer da kommt. Sonst wird er
instabil. Doch bei solchen Zugangszahlen ist das mangels ausreichenden Personals nicht mehr
möglich. Die hohen Flüchtlingszahlen haben aber einen Ausgangspunkt. Man müsste derzeit
vor allem dafür sorgen, dass nicht mehr so viele Menschen aus der Türkei kommen. Daran
sind nicht nur die Schlepper schuld. Sie haben Netzwerke. Die können nur funktionieren,
wenn ein Staat das zumindest in Teilen gutheißt. Da müsste die Politik gegenüber den
Herkunftsländern anders auftreten, Druck machen und mit Sanktionen drohen. Flüchtlinge
werden mittlerweile als politisches Kapital eingesetzt.
Was müsste in Deutschland besser laufen?
Wir brauchen dringend mehr hauptamtliche Helfer, mehr Sozialarbeiter in den Unterkünften.
Die Ehrenamtlichen melden sich unermüdlich überall, aber die Leute sind oftmals überfordert.
Eigentlich sollten sie nur ergänzend arbeiten, aber der Staat hat sich aus vielen Bereichen
zurückgezogen, die er selbst übernehmen sollte. Es hat vielerorts lange gedauert, bis man die
Ehrenamtlichen überhaupt vonseiten der Behörden entdeckt hat. Jetzt ist man auf sie
angewiesen, macht sie aber zu billigen Sozialarbeitern. Wenigstens hat man inzwischen
bemerkt, dass man die Leute besser schulen muss. Auch das sollte noch nachhaltiger und
verbindlicher passieren.
Und abschätzig als Gutmensch bezeichnet wird man neuerdings auch noch.
Wer Flüchtlingen hilft, darf so ehrlich sein, sich einzugestehen, dass er das meist nicht ganz
selbstlos tut. Irgendetwas interessiert einen an dem Thema, das einen persönlich weiterbringt.
Bei mir sind es der Einblick in Abläufe, Gespräche mit Betroffenen, Behörden und politische
Prozesse. Die Mehrheit der Ehrenamtlichen tut sich schwer, klar zu thematisieren, was sich
ihnen an Problemen zeigt. Da ist der Flüchtling immer der Neue, der Fremde, und man selbst
will der Gute sein. Man bringt ja auch seine Freizeit ein und sieht Erfolge. Überhaupt stellt
man beim Thema Flüchtlinge fest, dass vieles derzeit eher Wunschdenken ist.
Was denn?
Zum Beispiel die Hoffnung, dass so viele Fachkräfte kommen. Das halte ich für eine
Wunschdebatte. Manchmal frage ich mich, wo eigentlich all die Universitäten sein sollen, von
denen so viele studierte Syrer kommen. Außerdem sind viele Bildungssysteme gar nicht mit
unserem vergleichbar. Letztlich landen die meisten Asylsuchenden im Niedriglohnsektor oder
zu lange in der Sozialhilfe.
Seit Silvester hat sich die Diskussion noch einmal verändert. Wie kann es zu solchen
Übergriffen gegen Frauen kommen wie in Köln oder Stuttgart?
Man kann grundsätzlich nicht sagen, die eine Nationalität ist so, die andere so. Man muss
jeden Einzelnen nach seinem Charakter und Sozialverhalten einschätzen. Allerdings gibt es
zwei weitere Ebenen. Speziell in den nordafrikanischen Ländern staut sich viel an bei jungen
Männern. Sie finden keine Arbeit, keine Frau, kein soziales Umfeld. Dazu kommen die
Moscheen. Viele Moscheen, sowohl in den Herkunftsländern als auch bei uns, haben
heutzutage auch ein politisches Profil. Da entsteht ein bestimmtes Weltbild. Was in Köln
passiert ist, war ein absoluter Exzess, der zwar erklärbar, aber durch nichts zu entschuldigen
ist. Diese Entwicklungen gab es allerdings schon vorher. Man hat nur auch da politisch vieles
laufen lassen.
Wie kann man gegenwirken?
Man muss sich klarmachen, aus welchem Umfeld die Flüchtlinge kommen. Nämlich aus
Ländern, in denen der staatliche Rahmen zusammengebrochen ist, in denen Gewalt alltäglich
ist. Dinge wie Recht oder das Rollenverständnis zwischen Mann und Frau müssen deshalb bei
der Ankunft in Deutschland sofort klar angesprochen werden, am besten schon in der
Erstaufnahme. Die Leute brauchen Orientierung. Außerdem gibt es auch in dieser Hinsicht
deutlich zu wenig Hauptamtliche. Gute Sozialarbeit erkennt Konfliktpotenzial, bevor es
hochkocht. In den Unterkünften zum Beispiel muss man auch weiblichen Flüchtlingen
vermitteln, dass es nicht nur ihr Recht, sondern auch ihre Mitverantwortung ist, über sexuelle
Übergriffe zu reden. Stattdessen verlagert der Staat das Problem auf die Sicherheitsdienste.
Und wenn es doch zu Straftaten kommt?
Dann brauchen wir eine Justiz, die nicht nur Bagatellstrafen verhängt. In diesen Milieus wird
unser Staat als lächerlich empfunden. Es ist dringend notwendig, härter durchzugreifen. Das
fordern auch viele Flüchtlinge. Stattdessen haben wir oft ein unreflektiertes
Toleranzverständnis. Wir müssen uns klarmachen: Das wird nicht greifen. Viele Flüchtlinge
haben in ihrer Heimat erlebt, dass es für alles Sanktionen gibt, von der eigenen Familie bis hin
zum Staat. Da müssen Autorität und klare Ansagen her. Wenn man Leute, die mit
Eisenstangen auf andere einschlagen, zur Strafe nur in eine andere Unterkunft verlegt, macht
man den Missstand zur Normalität.
Zuletzt klagen auch christliche Flüchtlinge immer öfter über Diskriminierung. Stellen
Sie das ebenfalls fest?
Das Thema kommt immer häufiger auf. Es gibt Probleme zwischen Sunniten und Schiiten,
zwischen anderen Glaubensgruppen sowie Antisemitismus. Die Christen aber trifft es
weltweit am härtesten. Sie kommen mit dem Bild nach Deutschland, dass sie hier sicher sind.
Und dann stellen sie fest, dass es hier in den Unterkünften dasselbe Gedankengut gibt. Auch
bei dieser schleichenden Entwicklung könnte mehr Sozialarbeit helfen, die solche Probleme
zeitig erkennt. Stattdessen fehlen diese Ansprechpartner – und weil bei den
Sicherheitsdiensten viele Mitarbeiter selbst Muslime sind, kommt es da immer wieder zu
Kumpaneien. So fallen diese Ansprechpartner für die Christen manchmal auch aus.
Warum spricht das kaum einer offen aus?
Da müssen sich die Asylverbände und die christlichen Kirchen an die eigene Nase fassen: Sie
wollen dieses Problem oft nicht sehen. Es wird schlicht nicht angesprochen, um den Dialog
mit den Vertretern der unterschiedlichen muslimischen Verbände nicht zu belasten. Man will
die heile Welt nicht gefährden. Kaum ein Pfarrer wird sagen: Wir haben hier religiöses
Mobbing. Man will das Kapitel nicht aufschlagen, anstatt zu sagen: Wir stehen zu den
Muslimen – aber nicht zu denen, die sich hier danebenbenehmen.
Bei all den Problemen: Warum engagieren Sie sich noch in der Flüchtlingsarbeit?
Politisch ist die Situation irritierend. Es ist derzeit schwer, sich Gehör zu verschaffen. Freude
machen mir noch immer der Aufbau von Netzwerken unter Ehrenamtlichen und die
persönliche Begleitung von Flüchtlingen mit dem Wissen, das ich anbieten kann.