Dinge mit Wuch erungen Für die „Kern“-Ausgabe haben wir mit dem ungarischen Lyriker Márió Z. Nemes gesprochen. Der Schriftsteller, Übersetzer und Kritiker gilt als wichtiger Vertreter der jungen Dichtergeneration Ungarns. Seine engen Kontakte zur deutschen Literatur- und Kulturszene haben uns zu ihm geführt und wir konnten ihn während eines BerlinAufenthaltes (auf Deutsch!) nach seinen Gedanken zu unserem Thema fragen. Interview: Mena Koller Márió, was assoziierst du mit der Idee vom Kern? Ich denke, es ist eine kulturell geprägte Idee. Man spricht ja über den Kern einer Kultur oder den Kern einer Idee oder Kern einer Ideo- Kerne muss logie. Vielleicht können man hypowir ohne einen Kern nicht thetisch auskommen, vielleicht ist betrachten es für unser Denken nötig, irgendetwas Stabiles zu nutzen. Aber ich denke, dass es wichtig ist, dass man es nicht konkret versteht, sondern immer hypothetisch. Der Kern steht meist für das Wesentliche, aber „das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar“, schrieb Saint-Éxupery. Was denkst du über die Beziehung von Kern und Leerstelle? Nun, Anwesenheit und AbweNun, mit Kern assoziiere ich eigentlich senheit betrachte ich als einen Prozess. negative Dinge, zum Beispiel Essentialität Also eine ständige Oszillation zwischen oder Fundamentalisierung oder Anwesenheit und Abwesenheit. etwas zu Statisches. Wenn ich „Kern“ ist mir Das meine ich eigentlich auch über „Kern“ nachdenke, möchte damit, dass man den Kern immer zu homogen ich lieber „Kerne“ sagen. Für auch hypothetisch betrachten mich ist Pluralität von Fundamuss, also als Abwesenheit. menten wichtiger, also Heterogenität. Kann Lyrik durch die Reduktion auf „Kern“ ist für mich irgendwie zu homodas Wesentliche gezielt nach dieser Angen. Ich mag die Dinge, die mehr mit oder Abwesenheit suchen? Wucherung, mit Mutationen und Vielfalt zu tun haben. Vielleicht würde ich es so formulieren: Denkst du, dass „Kern“ eine universelle Idee ist oder eine kulturell geprägte? 32 Man weißt nicht immer, worauf man reduziert. Man kennt den Kern nicht. Man reduziert, aber das ist immer ein Prozess, eine Suche, nach dem, worauf man sich reduziert. Das fluktuiert. Dazu braucht man auch eine ständige Neugier. Für dein Internet-Projekt versumonline übersetzt du mit Kollegen ausländische Lyrik für eine ungarische Leserschaft. Das Thema der Übersetzung ist auch mit dem Thema des Kerns verbunden: Man versucht, des Wesentliche eines Gedichts von einer Sprache in die andere zu übertragen. Was bedeutet das für euch? Márió Z. Nemes über die Pluralität von Kernen, Übersetzungen und Identitäten Márió Z. Nemes Geboren 1982 in Ajka, Ungarn. Mitglied der Vereinigung junger Schriftsteller Attila József (József Attila Kör, JAK) sowie dem ungarischen PEN. Zusammen mit zehn weiteren jungen Dichtern hat Nemes 2005 den Weblog Telep Beim ÜberIch glaube eigentlich nicht („Siedlungen“) gegründet und setzen muss so rigide an die Identität des betreut, der bald zu einem wichtigen man neue Textes, ich denke, dass man Forum der zeitgenössischen Poesie beim Übersetzen den Text Kerne finden in Ungarn avancierte. Im Netz ist immer neu kodieren Nemes derzeit als Redakteur des muss, kulturell, man muss einen kulturtheoretischen Fanzines Technologie neuen Kern finden für das und das Unheimliche aktiv. Im Jahr 2014 Gedicht, der ebenso kulturell erhielt er das Stipendium der Akademie geprägt ist. Von dem traditioSchloss Solitude. Zur Leipziger Buchmesse nellen Modell der Rekons2016 wird bei der Akademie Solitude auch truierung distanziere ich eine Zusammenstellung seiner Gedichte mich. auf Deutsch erscheinen, übersetzt von Monika Rinck, Orsolya Kalász und Matthias Du sprichst Deutsch und Kniep. Nemes lebt in Budapest. Ungarisch fließend − gibt es für dich so etwas wie ein „Wesen“ dieser Veröffentlichungen: beiden Sprachen? 2006 − Alkalmi magyarázatok a húsról Wie ich gesagt habe, bin ich sehr skep(„Improvisierte Bemerkungen über das tisch, was die Wesenhaftigkeit angeht. Fleisch“) Aber ich denke, die größte Differenz ist, 2010 − Bauxit („Bauxite“) dass ich mich anders konstruiere, wenn 2014 − A hercegprímás elsírja magát ich deutsch oder ungarisch spreche. Ich („Der Erzbischof weint“) habe eine andere Identität in der jeweils anderen Sprache. Sie können auch Anawww.lyrikline.org/de/gedichte/ logien aufweisen, aber manchmal ist es falra-fest-11165 wie ein Doppelgängereffekt. Das ist für www.technologieunddasunheimliche.com mich auch immer wieder unheimlich, dass ich auf Deutsch ein bisschen anders bin als auf Ungarisch. 33 Simone Scharbert Das Online-Projekt versumonline wird von Márió Z. Nemes und seinen Kollegen Dénes Krusovszky, Bálint Urbán, Gerevich András und Marcell Szabó mit dem Anliegen betrieben, der kulturellen Abschottung der zeitgenössischen ungarischen Literaturszene etwas entgegenzusetzen. Für die Kern-Ausgabe hat Zoltán Lesi das Gedicht STILLE, AUSZIEHBAR von Simone Scharbert ins Ungarische übersetzt. STILLE, AUSZIEHBAR das stundenfurnier über tische gebreitet an wände genagelt die ausziehbare stille ins grobe gewebt unsere haut zuckt eichengebräunt durch polaroidrahmen über tapeten unsere lippen gestrichen im kern abgekaute wörter oder doch nur die fruchtschale weil jemand das sagt schon immer Simone Scharbert ist 1974 im bairischen Aichach geboren, promovierte über die Osterweiterung der EU und hat ein Faible für osteuropäische Literatur. Sie lebt und arbeitet in der Nähe von Köln. Letzte Veröffentlichungen u. a. in entwürfe, Triëdere und Krautgarten. 34 CSEND, KIHÚZHATÓ asztalokon az időfurnér falnak szögelt kihúzható csend durvára szőtt bőrünk megrándul tölgyszínűre barnult a polaroidkeretektől a tapétákat ajkunk végigsimítja a magban megvásárolt szavakat vagy mégis csak a gyümölcskosár mert valaki mindig felemlegeti Zoltán Lesi, geboren 1982 in Ungarn, lebt und schreibt in Wien, Budapest und unterwegs. Er ist Redakteur einer gemeinsamen Buchserie der Jungen Schriftstellergesellschaft und des Jelenktor Verlags sowie Organisator eines Literaturaustausches zwischen Wien und Budapest. Erschienen sind die beiden Gedichtbände Daphnis ketskéi („Daphnis’ Ziege“), 2009, und Merül („Tauchen“), 2014. www.versumonline.hu 35
© Copyright 2024 ExpyDoc