GOTTESDIENST IM BERNER MÜNSTER 21. Februar 2016, Reminiscere Gedenke meiner! Vergessen – erinnern – wiederholen Pfr. Jürg Welter Liebe Gemeinde, Reminiscere, gedenke, erinnere dich, so beginnt Vers 6 aus Psalm 25. und so heisst und bittet der heutige Sonntag. Gedenke, Herr, deiner Barmherzigkeit. Wir rufen Gott, dass er sich unser erinnere, dass er gedenke seiner Worte, seiner Liebe und seiner Gnade. Indem wir Gott bitten halb demütig, halb selbst- , heils- und gottesgewiss... legen wir ihn zugleich auf problematische Weise fest. Wer so um Erinnerung betet, fürchtet heimlich das Vergessenwerden. Wir kennen es aus Kindertagen: Schmachvoll und verletzend kann es sein. Man holte uns nicht ab. Man lud uns nicht ein. Man liess uns stehen. Versprochenes blieb aus... Von solchen Erfahrungen und Ängsten her betet der Psalmist. Was wäre, wenn uns Gott vergässe und uns im Supermarkt des Lebens einfach stehen liesse? Der Psalm singt gegen diese Furcht an: „Reminiscere – gedenke, Gott der Schmach deines Knechtes.“ Dahinter lauert die tabuisierte Angst vor der Demenz Gottes. Was wäre, wenn er eines Tages uns erstaunt fragte: „Wer bist du? Ich kenne dich nicht.“ Was wäre, wenn er durch unsere Kirche ginge, sich umblickte und sagte: „Ich möchte nach Hause.“ Wenn er vor dem Abendmahlstisch stünde und fragte: „Was soll das Brot? Warum geht der Kelch an mir vorüber? Was geschah in jener Nacht? Wozu tut ihr das?“ Liebe Gemeinde, wenn wir Gott bitten, uns nicht zu vergessen, müssen wir unser eigenes Erinnern und Vergessen bedenken. Woran erinnern wir uns? Die einfachste Antwort lautet: Wir erinnern uns immer an Vergangenes. Weil wir viel mehr Vergangenheit haben, als wir erinnern können, vergessen wir auch notgedrungen Vieles und lassen es ins Dunkel verschwinden. Vergangenes und Vergessenes bilden den Exerzierplatz des Erinnerns. Gegen das Vergessen kann man z.B. Tagebuch schreiben. Aber es ist ein zwiespältiges Unterfangen. Das Schreiben stützt nicht allein das spätere Erinnern, sondern es versteckt hinter den Aufzeichnungen von Alltagsbanalitäten das, was wir schamvoll verbergen. Wenn ich in meinem 15 Bundesordner umfassenden Tagebuch nachlese, wundere ich mich. Vieles, was da festgehalten ist, habe ich vergessen. Ich lese die fremde Geschichte eines Fremden. So steht man vor einem Geheimnis und merkt: Auf Erinnerung ist kein Verlass. Das Erinnerte ist immer ein Konstrukt. Der Historiker Johannes Fried spricht vom „Schleier der Erinnerung“. Zugleich ist politische „Erinnerungskultur“ gefragt. Im Neuen Testament gibt es eine Geschichte, die oberflächlich gelesen nichts mit Erinnern und Vergessen zu tun hat . Sie will auf den ersten Blick auch nicht recht in die Passionszeit passen, dennoch entfaltet sie auf engstem Raum drei Formen und drei zeitliche Ausrichtungen des Erinnerns. Johannes erzählt in Kapitel 20 den Ostermorgen der Maria Magdalena: „Maria aber stand draussen vor dem Grab und weinte. Während sie nun weinte, beugte sie sich in das Grab hinein. Und sie sieht zwei Engel sitzen in weissen Gewändern, einen zu Häupten und einen zu Füssen, dort, wo der Leib Jesu gelegen hatte. Und sie sagen zu ihr: Frau, was weinst du? Sie sagt zu ihnen: Sie haben meinen Herrn weggenommen, und ich weiss nicht, wo sie ihn hingelegt haben. Das sagte sie und wandte sich um, und sie sieht Jesus dastehen, weiss aber nicht, dass es Jesus ist.“ Liebe Gemeinde, Maria steht also vor dem Grab. In grch. Sprache steht sie vor dem Mnämeion. Das Wort bezeichnet alles, wodurch man an etwas erinnert wird. Es kann ein Denkmal, ein Erinnerungszeichen sein. Im Wort für Grab und Gruft versteckt sich der Begriff „Mnämä“: Gedächtnis, Erinnerungsvermögen, Andenken. Das Verb „mnämoneuoo“ heisst „sich erinnern“. Dieses ganze Wortfeld schwingt in den ersten beiden Sätzen dieser Geschichte mit. Weinen und Erinnern sind eng miteinander verknüpft. Die Erinnerung weint. Das Weinen erinnert sich. In übertragenem Sinn beugt sich Maria weinend in ihre Erinnerung hinein. Das Leben und Sterben Jesu hat sie an diese Gedenkstätte getrieben. Sie will einen Toten besuchen und ihm sich erinnernd nahe kommen. Aber gerade diese Absicht verhüllt ihr Sehen und Verstehen. Sie schaut ins Grab, dreht sich um, steht vor Jesus und sieht ihn, aber erkennt ihn nicht. Diese erste Form des Erinnerns bindet den Menschen an Vergangenes. Sie lässt ihn erstarren, verengt seine Wahrnehmung und schliesst ihn ein. Das Nicht-vergessen-können überwuchert zuweilen jede Gegenwart und macht sie zur Qual. Maria steht deshalb noch in einem anderen Sinne vor einem leeren Grab. Sie blickt ins Leere - in eine sinnentleerte Gedächtnishöhle – in ein quälendes Mnämeion. Maria bleibt in die traumatische Erfahrung der Kreuzigung eingeschlossen. Die Vergangenheit frisst die Gegenwart auf. Liebe Gemeinde, es gibt in jedem Leben Ereignisse, die sich nicht vergessen lassen. Diese erste Weise des Erinnerns kann zum Fluch werden. Dante beschreibt sie in seiner Göttlichen Komödie als das eigentliche Wesen der Hölle und der Höllenstrafen: Nicht vergessen können. Sich erinnern müssen. Die eigene Geschichte sich immer wieder erzählen und niemand hört zu. Endlos wird so die Qual. Niemand findet Ruhe im Laufrad des Erinnerns. So ist Maria in das Ehemals, in die Vergangenheit verbannt. Sie beugt sich in dieses Erinnerungszeichen hinein, verkrümmt sich in den Schmerz ums Gewesene und wird blind für die Gegenwart. Sie müsste sich von diesem Grab lösen und sich nicht der Vergangenheit sondern der Gegenwart erinnern. Doch wie soll ihr das gelingen? Johannes erzählt diese Möglichkeit im folgenden Kürzest- Dialog: Jesus sagt zu Maria: Frau, was weinst du? Wen suchst du? Da sie meint, es sei der Gärtner, sagt sie zu ihm: Herr, wenn du ihn weggetragen hast, sag mir, wo du ihn hingelegt hast, und ich will ihn holen. Jesus sagt zu ihr: Maria! Da wendet sie sich um und sagt auf Hebräisch zu ihm: Rabbuni! Das heisst ‹Meister›. Wie Jesus merkt, dass seine Frage nach dem Grund des Weinens Marias Blendung nicht löst, sagt er bloss: Maria! Und sie antwortet: Rabbuni! Beim Namen gerufen werden befreit. Jesu Stimme, die den Namen nennt, löst durch ihren Klang ein Sich-Erinnern aus, das nicht in die Vergangenheit sondern in die Gegenwart führt. Mit dieser Stimme erlischt die Blendung. Maria Magdalena erkennt Jesus. Alles Gewesene, das sie mit dieser Stimme teilte, ist mit einem Schlag wieder da. Bemerkenswert ist, dass nicht das Sehen sondern das Hören das Erkennen ermöglicht. Erinnern wird so zu einem Wieder-Holen im positiven Sinn. In seinem Erinnerungsbuch „Herkunft“ schreibt Botho Strauss 2014 hellsichtig, als wäre es ein Kommentar zum 20. Kapitel des Johannes: Wer seine Erinnerungen erzählt, befindet sich nicht im Zustand der Erinnerung“. Akute Erinnerung kennt kein „Weißt du noch? Sondern nur Damals-Unmittelbarkeit, Damals-Überwältigung.(62) Liebe Gemeinde, akute Erinnerung am Ostermorgen heisst: Maria muss nicht mehr einen Toten suchen. Im Augenblick, da die beiden Stimmen sich gegenseitig nennen, berührt die Erinnerung die Gegenwart und streift das Gewesene ab. Wunderbar bringt es Meister Eckhart in seinen Reden der Unterweisung auf den Begriff: Gott ist ein Gott der Gegenwart. Wie er dich findet, so nimmt und empfängt er dich, nicht als das, was du gewesen, sondern als das, was du jetzt bist. (Kapitel 12) Wem es geschieht, ist nicht mehr durch seine Vergangenheit definiert. Wem es geschieht... Damals-Unmittelbarkeit ist nicht etwas, das wir selber herstellen. Es gibt kein Rezept für ein solches Sich-Erinnern. Es hat letztlich mit dem Gedenken Gottes zu tun. Sein Gedenken entspricht dem „Maria!“, das Jesus spricht. Und „Rabbuni - mein Meister“! heisst die Antwort. Diese andere Art des Sich Erinnerns als Wiederholung muss nicht selber vergessen, sondern von der Gnade sich rufen lassen. Liebe Gemeinde, schliesslich erzählt Johannes von einer dritte Richtung des Erinnerns. Jesus sagt zu Maria: Rühr mich nicht an! Denn noch bin ich nicht hinaufgegangen zum Vater. Geh aber zu meinen Brüdern und sag ihnen: Ich gehe hinauf zu meinem Vater und zu eurem Vater, zu meinem Gott und zu eurem Gott. Jesus weicht in der Osterfrühe der blossen Vergegenwärtigung aus. Auf Marias erkennendem „Rabbuni“ antwortet er mit einer geheimnisvollen Abwehr: Rühr mich nicht an. Noli me tangere. Lass ab von mir. Ich gehe auf ein Zukünftiges hin. Du kannst mich nicht halten. Keine Gegenwart, sei sie noch so erfüllend, kann ewig dauern. Gegenwart ist kein Besitz. In der Zeit stehend zerfliesst sie. Die dritte Weise, des Sich-Erinnerns erinnert Künftiges. Sie wendet sich zum Noch-nicht. Der Mensch soll weder in der Vergangenheit noch in der Gegenwart stecken bleiben. Es gibt etwas über das Damals und über den Augenblick hinaus. Ich nenne es gerne paradox eine Erinnerung vorwärts. Sie ist mehr als eine Wiederholung. Rühr mich nicht an! Jesus muss gehen. Sein Ort ist nicht hier. Er geht zu seinem Vater und schafft so einen Abstand zwischen Gott und Mensch. Vor Gott stehen – bei Gott sein – es übersteigt die Möglichkeit des Erinnerns. Nur hie und da blitzt eine Erinnerung des Unerinnerbaren auf. In diesem schroffen „Rühr mich nicht an“ ist es zu erahnen. Gott selber wird durch dieses Zurückstossen als Geheimnis bewahrt. Es verweist auf Künftiges und schafft am Ende des Evangeliums Freiraum für wichtige spirituelle Fragen an die Leserin und den Leser. Wohin zieht und zielt mein Erinnern? Schliesst mich das Vergangene ein? Bin ich vornübergebeugt in ein leeres, kreisläufiges Erinnern verdammt? Suche ich immer noch das Tote? Öffnet mir Erinnerung eine neue Sicht meiner Gegenwart. Ermöglicht sie mir eine neue Damals-Unmittelbarkeit? Führt mich mein Erinnern über das vergötterte und allseits beschworene “Hier und Jetzt“ hinaus? Allen möglichen Antworten gilt dieses „Rühr mich nicht an“. Ich beginne zu verstehen: Es liegt nicht mehr an meinem Begreifen und Erinnern. Ich darf in die Wolke des Gedenkens eintauchen und Gott selber anrufen: Gedenke meiner – gedenke deiner Barmherzigkeit Gedenke doch, dass du wie Ton mich gebildet hast. Gedenke, dass mein Leben nur ein Hauch ist. amen
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