Dr. Ferdinand Ahuis - Hauptkirche St. Nikolai

Nusskamp 6
Dr. Ferdinand Ahuis
Hauptpastor em.
22339 Hamburg
Tel. 040/450 54 67
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den 11. August 2015
Predigt über Lk 19,41-48 am 9. August 2015 (10. Sonntag nach Trinitatis, IsraelSonntag) um 10 Uhr in der Hauptkirche St. Nikolai
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Liebe Gemeinde,
1.
„Die ander weise / zeiget der Herr an / da er hie weinet vnd erbarmet sich vber die
armen blinden Leute / schilt vnd drawet jnen nicht als den verstockten vnd verblenten / sondern verschmilzt in der Liebe / vnd erbarmet sich vber seine feinde / vnd aus
grossem hertzlichem Mitleiden vnd klagen zeigt er an / was jnen widerfaren werde /
wolt es gerne abwenden / aber es ist verloren.“
Dieser Text stammt aus einer Predigt von Martin Luther zum 10. Sonntag nach Trinitatis, den wir heute den Israelsonntag nennen. Luther stellt hier das Weinen und Erbarmen Jesu, sein Mitleiden und Klagen, seine Liebe zu den Bewohnerinnen und
Bewohnern Jerusalems in den Mittelpunkt. Das ist ein bemerkenswerter Text. Denn
er führt uns einen judenfreundlichen Luther vor Augen, so ganz anders als in seinen
judenfeindlichen Äußerungen. Was ist hier passiert? Hat sich hier der weinende Jesus
durchgesetzt gegen eine Pauschalkritik am Judentum, die schließlich von den Nationalsozialisten auf den Höhepunkt getrieben wurde mit der Vernichtung von sechs
Millionen Juden?
Luther führt die liebevolle Zuwendung Jesu zu den Menschen von Jerusalem als „die
ander Weise“ seines Umgangs mit den Juden an. Allerdings macht er auch mit den
Vorgängen im Tempel reinen Tisch, indem er die Tische umstößt und die Händler
vertreibt. Die „ander Weise“ ist die Solidarisierung Jesu mit seinem Volk in der Klage.
2.
Luthers Darstellung des weinenden Jesus bleibt in dieser Predigt ein Fremdkörper.
Luther führt den Gedanken kaum weiter aus, aber er führt ihn an. Damit steht er im
Widerspruch zu den Autoritäten der Kirchengeschichte, die sich einen weinenden
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Jesus und erst recht einen weinenden Gott nicht vorstellen konnten, ja, dies als Ketzerei bezeichneten.
Erinnerungen werden wach an eine Erziehung, nach der ein deutscher Junge nicht
weint. In meiner Zeit als Gemeindepastor in Vierlanden habe ich anlässlich von Goldenen Konfirmationen mehrfach in mir vorgelegten Poesiealben den gedichteten
Ratschlag gefunden: „Wenn dich Gott, verlässt, dein Hort, und du im Unglück willst
verzagen, so denk an Kaiser Friedrichs Wort: Lerne leiden, ohne zu klagen.“ Erinnerung an Friedrich III., den früh u.a. an Krebs Verstorbenen, der nur 99 Tage lang Kaiser war – zwischen Wilhelm I. und Wilhelm II.
Wie sehr erst recht Tränen in den Augen einer religiösen Leitfigur auf Unverständnis
stoßen können, hat die erste Ausgabe von Charlie Hebdo nach den schrecklichen Attentaten von Paris am 7. Januar dieses Jahres gezeigt: Muhammad war dargestellt
mit Tränen in den Augen und dem Ausspruch: „Tout est pardonné – all is forgiven –
alles ist vergeben“. Diese Darstellung Muhammads hat in der islamischen Welt bittere Proteste hervorgerufen und Unverständnis.
Bei dem Versuch, das zu verstehen, was die Karikaturisten von Charlie Hebdo da
hervorgebracht haben, kam mir der Gedanke: „Haben die Charlie Hebdo-Leute unbewusst Muhammad das Antlitz Christi verliehen, des weinenden Christus am
Kreuz, der fleht: „Vater, vergib ihnen; denn sie wissen nicht, was sie tun?“ Sollte sich
bei diesen sich als Atheisten gebenden westlichen Zeitungsmachern Christliches
doch so sehr festgesetzt haben, dass sie den weinenden Christus ans Tageslicht ihrer
Seele hoben und seine Züge auf Muhammad übertrugen?
3.
Auch für Muslime gilt die Regel: Ein Junge weint nicht. Ein Mann weint nicht. Dagegen steht das auch für Moslems prägende alttestamentliche Wissen um den weinenden Propheten, der angesichts der drohenden Katastrophe für seine Menschen vor
Gott eintritt. Elisa gehörte dazu und Amos, Jesaja, Jeremia und Hesekiel, alles Propheten Israels. Wenn Jesus für seine Menschen in Jerusalem klagt, dann tut er dies in
einer langen Kette klagender Propheten. Man kann es noch genauer sagen: Dann tut
er dies in der Gemeinschaft klagender Seher. Er sieht, er schaut etwas, was seine
Zeitgenossen nicht sehen, was ihnen verborgen ist. Er schaut ein Schicksal seiner
Zeitgenossen, vor welchem er sie bewahren möchte, aber er kann es nicht. Er sieht
das Ende Jerusalems kommen.
3
Kenner der Entstehungsgeschichte des Neuen Testaments haben eine sehr einfache
Erklärung zur Hand: Die Klage Jesu steht im Lukasevangelium. Lukas aber hat sein
Evangelium geschrieben, etwa zwanzig Jahre, nachdem der Tempel schon durch die
Römer zerstört. Die Klage Jesu wäre demnach ein vaticinium ex eventu, noch einmal
um etwa 40 Jahre vorverlegt in die Endphase des Lebens Jesu, eine Verheißung vor
dem Hintergrund des Eingetroffenseins des Angekündigten.
Ganz gewiss ist Lukas die Klage Jesu wichtig gewesen. Schon als Jesus aus Galiläa
aufbricht, klagt er:
Lk 13,34 Jerusalem, Jerusalem, die du die Propheten tötest und steinigst, die zu dir
gesandt sind! Wie oft habe ich deine Kinder versammeln wollen wie eine Henne ihre
Küken unter ihre Flügel, und ihr habt nicht gewollt!
35 Seht, euer Tempel soll euch verwüstet zurückgelassen werden. Aber wahrlich, ich
sage euch: Ihr werdet mich nicht mehr sehen, bis es geschieht, dass ihr sagen werdet:
Gelobt ist, der da kommt im Namen des Herrn!«
Jesus vergleicht sich mit einer Henne, unter deren Flügeln die Küken Unterschlupf
finden können. Mütterliche Züge werden an Jesus wahrnehmbar.
Jesus drängt sich nicht auf. Erst bei seinem Einzug in Jerusalem wird sein Verhältnis
zu der Stadt und seinen Menschen neu zum Thema. Kaum ist Jesus in Jerusalem eingezogen, kaum haben die Menschenmassen ihm zugejubelt, da erhebt er wieder die
Klage, die Klage unseres Predigttexts. Wenn man dann ganz genau bei Lukas weiterliest, reibt man sich die Augen: Lukas kürzt die ihm bekannte Darstellung der Tempelaustreibung durch Markus drastisch. Da stößt Jesus nicht mehr die Tische der
Geldwechsler und die Sitze der Taubenverkäufer um, sondern da heißt es ganz kurz:
„Und nachdem er in den Tempel gegangen war, fing er an, die Verkäufer auszutreiben.“ Und Jesus selbst wird im Tempel tätig: „Und er lehrte täglich im Tempel.“ Jesus distanziert sich nicht von seinem Jerusalemer Publikum, sondern wendet sich
ihm zu. Nur zu den Herrschenden, zu den Hohepriestern, den Schriftgelehrten, den
Ältesten geht Jesus und mit ihm Lukas auf Distanz.
Noch ein drittes Mal kommt es im Lukasevangelium zu einer Klage Jesu. Als Jesus
nach seiner Verurteilung durch Pilatus zur Kreuzigung abgeführt wird, kommt es zu
folgender Begegnung:
Lk 23,27 Es folgte ihm aber eine große Menge des Volkes und Frauen, die beklagten
und beweinten ihn.
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28 Jesus aber wandte sich zu ihnen um und sagte: „Ihr Töchter von Jerusalem, weint
nicht über mich, sondern weint über euch selbst und über eure Kinder.“
4.
Lukas hat diese Zuwendung zu den Bewohnerinnen und Bewohnern Jerusalems
nicht erfunden; aber sie ist ihm wichtig. Er greift zurück auf Paulus, der im Römerbrief, in der heutigen Epistel, die Klage erhebt: „Tiefe Trauer und unablässigen
Schmerz habe ich in meinem Herzen. Denn ich wünschte, selbst verflucht und von
Christus geschieden zu sein um meiner Geschwister willen, meiner Verwandten
nach dem Fleisch. Ihrer sind die Kindschaft und die Herrlichkeit und die Bündnisse
und die Gesetzgebung und der Gottesdienst und die Verheißungen, ihrer die Väter,
und aus ihnen stammt der Christus nach dem Fleisch. Der über allem waltende Gott
sei gepriesen in Ewigkeit.“
Dieser Impuls wird von Lukas noch verstärkt: Jesus selbst klagt. Er scheint nicht nur
Paulus, sondern auch eine aramäische Überlieferung, Überlieferung in der Muttersprache Jesu, gekannt zu haben, in der Jesus so dargestellt wurde. Klagend, weinend.
Wie alt diese Überlieferung ist, wissen wir nicht. In jedem Fall handelt es sich um
eine jüdische, um eine israelitische Tradition. Vielleicht geht sie auf Jesus selbst zurück. Er klagt wie der Seher Elisa im zweiten Buch der Könige. Der Seher schaut die
Katastrophe und was sie für die Bewohner der Städte bedeutet, gerade auch für die
Jugendlichen, die Kinder und die schwangeren Frauen. Der Seher schaut, längst bevor die Katastrophe gekommen ist; er schaut Zusammenhänge, die anderen verborgen sind. Er hat ein Gespür für die Zukunft und kann diese Zukunft nicht aufhalten.
Wie der 1907 in Warschau geborene jüdische Bibelwissenschaftler und Religionsphilosoph Abraham Josua Heschel. Als 20-Jähriger nahm er 1927 sein Studium an der
Hochschule der Wissenschaft des Judentums in Berlin auf; fünf Jahre später schloss
er an der Friedrich-Wilhelms-Universität, der späteren Humboldt-Universität, seine
Doktorarbeit ab. Thema: „Das prophetische Bewusstsein“. Sie konnte noch 1936 in
Krakau gedruckt werden. Im Denken und Fühlen der Propheten entfaltete sich seine
„pathetische Theologie“, der im Handeln eine Religion der Sympathie entspricht,
allen Visionen einer bösen Zukunft zum Trotz. Aller ideologischen Abkehr vom Alten Testament, der Bibel der Juden, durch die Nationalsozialisten zum Trotz. Auf
vielen Umwegen landete er 1940 in den USA, wo er Professor für jüdische Ethik und
Mystik wurde. Er setzte sich für die Rechte der Afro-Amerikaner ein; Martin Luther
King wurde 1963 sein Freund. Heschels Tochter Susannah, geboren 1956, ist in den
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USA Professorin für jüdische Studien und insbesondere mit dem jüdisch-christlichen
Dialog befasst.
5.
Der 10. Sonntag nach Trinitatis ist von Christen begangen worden als Gedenktag an
die Zerstörung Jerusalems, als Judensonntag, als Sonntag der Judenmission. Im Mittelpunkt stand jeweils der Rückblick. Rückblick auf die Zerstörung des Tempels. Kritik an den Umständen, die dazu geführt hatten. Auch christliche Selbstkritik; Kritik
an christlichem Verhalten, das Juden die Konversion zum Christentum alles andere
als schmackhaft gemacht hatte. Aber in allem doch das Ziel, dass Juden diesen
Schritt täten, sich taufen ließen, Jesus von Nazareth auch als ihren Messias anerkannten.
Nach dem unseligen Holocaust konnte man nicht mehr einfach so weitermachen.
Aus dem Judensonntag wurde der Israelsonntag. Im Mittelpunkt stand die ungebrochene Treue Gottes zu seinem Volk.
Der Jude Jesus wurde dabei oft ausgeklammert. Und damit auch der Jesus, der um
sein Volk weinte, klagte, der das Schicksal von Juden und Christen zu verhindern
suchte, der in Liebe zu seinen Menschen zerfloss, komme, was wolle. Diese Liebe
bleibt. Diese Liebe kann Christen und Juden, Juden und Christen zusammen führen.
Und wenn sie auch wie ein Fragment erscheint – wie bei Martin Luther. Amen.