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hr1 - Sonntagsgedanken
11.10.2015 (Don Quijote)
Pfarrer Johannes Meier, Kassel
--------------------------------------------------------Heute vor genau 410 Jahren wurde in Madrid ein echter Weltbestseller veröffentlicht. Für mich
Grund genug für ein paar Sonntagsgedanken. Der erste Satz des berühmten Buches geht so: „An
einem Orte der Mancha, an dessen Namen ich mich nicht erinnern will, lebte vor nicht langer Zeit ein
Junker, einer von jenen, die einen Speer im Lanzengestell, einen alten Schild, einen hageren Gaul und
einen Windhund zum Jagen haben.“ – Den titelgebenden Helden des alten Romans kennt fast jeder,
selbst wenn man wie ich keine allzu eingefleischte Leseratte sein sollte. Die Rede ist von „Don
Quijote“, jenem adeligen Herrn, der nach allzu intensiver Lektüre von allerlei Ritterromanen
anscheinend ein wenig den Verstand oder zumindest den Sinn für die Realität verloren hat und
daraufhin manch absurdes Abenteuer erlebt. Der Spanische Schriftsteller Miguel de Cervantes hat
mit ihm einen absoluten Literaturklassiker geschaffen. Ein Meisterwerk anno 1605, das erst vor
wenigen Jahren von 100 bekannten Schriftstellern ganz offiziell zum „besten Buch der Welt“ gewählt
wurde. Nicht schlecht, oder? – Dabei handelt ausgerechnet dieses „Superbuch“ ja von einem
absoluten Looser, einer weltfremden Witzfigur. Doch noch einmal von vorn, kurz zusammengefasst
geht die Geschichte in etwa so:
Alonso Quijano, ein kleiner Landadeliger, lebt „irgendwo“ in der Mancha in Spanien. Er ist eine
Leseratte und verschlingt einen Ritterroman nach dem anderen. Ein echter „Nerd“, ein Serienjunkie,
könnte man sagen – und so kommt es,
dass Herr Quijano irgendwann die abenteuerlichen
Geschichten dieser Schundromane für wahr und sich selbst für einen echten Rittersmann hält.
Daraufhin nennt er sich stolz Don Quijote, sattelt seinen dürren Gaul Rosinante und reitet einfach los
– mit antiker Rüstung am schmächtigen Leib und selbst gebasteltem Helm auf dem wirren Kopf.
Alles, was ihm fortan begegnet, bringt er mit dem Rittertum in Verbindung, obwohl es echte Ritter ja
schon seit Generationen nicht mehr gibt. Eine stinknormale Kneipe aber wird in Don Quijotes Augen
zum Kastell, die Bardamen hält er für Burgfräulein und vom Wirt, pardon, vom „Burgherrn“ lässt er
sich zum Ritter schlagen. Natürlich eckt der schräge Vogel überall an, er wird ausgelacht und
verprügelt – aber das macht ihm nichts aus. Für Don Quijote sind all dies ehrenvolle Prüfungen und
Bewährungen auf seiner ritterlichen Mission, nichts und niemand soll ihn davon abhalten, endlich
Provinzen, Inseln, Königreiche und – natürlich – die Dame seines Herzens zu erobern.
Schon die Erstausgabe von „Don Quijote“ war ein Verkaufsschlager, 10 Jahre später, also 1615 und
damit genau 4 Jahrhunderte vor unserer Zeit, legt Cervantes daher nach und veröffentlicht einen
zweiten Teil mit neuen Abenteuern vom „Ritter der traurigen Gestalt“. Auch dieser wird ein Erfolg.
Was aber macht damals bis heute den besonderen Reiz dieser merkwürdigen Geschichten von einem
weltfremden Antihelden aus? Und warum bestimmt dieser „Don Quijote“ heute meine
„Sonntagsgedanken“?
(3:20)
- MUSIK - (wenn möglich: „Fool on the Hill“ von den Beatles!)
Don Quichote, der „Ritter von der traurigen Gestalt“, ist ein Narr ohne Happy End. In einem
Ochsenkarren wird er am Ende des ersten Buches vom Barbier und vom Dorfpfarrer zurück nach
Hause verfrachtet, seine Ritterromane hatten die beiden schon zuvor verbrannt, damit der alte Herr
nicht wieder auf verrückte Gedanken kommen sollte. Nachdem er im zweiten Teil dann doch noch
einmal mit Rüstung und Lanze durch die Lande gezogen ist, liegt Don Quijote schließlich ermattet
und fiebrig auf seinem Bett und erkennt plötzlich all den „Unsinn und die Verworfenheit“ der
Ritterbücher und seiner wahnwitzigen Abenteuer. Wehklagend über diese allzu späte Einsicht stirbt
er. So endet seine Geschichte ziemlich traurig und humorlos, finde ich. Aber trotz des moralischen
Zeigefingers mit der Warnung vor dem übermäßigen Genuss alberner Ritterromane bleibt Don
Quichote ein Sympathieträger, eroberte dieser schräge Held zwar keine Provinzen, Inseln und
Königreiche – sehr wohl aber die Herzen einer unzählbar großen Leserschaft – und das seit über 400
Jahren. Der Verrückte Kerl macht nämlich das, was wohl eigentlich alle gerne täten, wozu den
meisten „Normalen“ von uns aber letztlich der Mut fehlt bzw. der sogenannte gesunde
Menschenverstand im Wege steht: Don Quijote lebt seinen Traum! Oder, um es mit einer
artverwandten wie Pipi Langstrumpf zu sagen: Er macht sich die Welt, widdewidde wie sie ihm
gefällt! Vermeintliche Sachzwänge können ihn nicht aufhalten, ihm fehlt die Schere im Kopf, er ist
kein Bedenkenträger. Wie andere ihn sehen, das kümmert ihn nicht. Stattdessen folgt er mutig
seinem Herzen – und nimmt dafür auch Spott und sogar Prügel in Kauf. Vielleicht müsste sich Don
Quijote heute als „Gutmensch“ beschimpfen lassen, weil er ritterlich allen Schutzsuchenden
beistehen würde, ganz ohne sich um Statistiken oder ängstliche Besitzstandswahrung zu scheren. Er
bleibt ein Idealist und läuft vor vermeintlichen Sachzwängen nicht davon, sondern nimmt lieber den
Kampf gegen sie auf – und sei er auch noch so aussichtslos wie eben sein sprichwörtlicher „Kampf
gegen die Windmühlen“.
Mit den Superhelden aus den Ritterromanen seiner Zeit oder den Comiceften vieler Generationen
später hat jener Junker aus der Mancha dabei nicht viel gemein: Er besitzt weder Schlachtross noch
Bat-Mobil, sondern nur seine klapprige Rosinante. Er hat keine Superkräfte, sondern bloß ein großes
und visionäres Herz. Er ist ein Scheiternder, ein ewiger Looser – und bleibt dabei doch hoffnungslos
hoffnungsvoll.
(2:45- MUSIK - (wenn möglich: „Fool on the Hill“ von den Beatles!)
Don Quijote, das „beste Buch der Welt“, das heute vor 410 Jahren in Madrid erschienen ist, erzählt
im Grunde die Geschichte eines Clowns, oder besser: eine Narrengeschichte! Ein Narr ist nicht wie
alle anderen. Er steht als schräger Typ außen vor und schaut mit verschrobenem Blickwinkel auf das
allzu menschliche Alltagsleben. Seine ungewöhnliche Perspektive entlarvt mit unter manche
Verrücktheiten, die im nur scheinbar Normalen verborgen sind. Der „Ritter von der traurigen Gestalt“
erinnert mich an die mittelalterlichen Hofnarren – und das ist bestimmt kein Zufall! Auch diese
hauptberuflichen Spaßmacher pflegten ja gelegentlich so etwas wie einen systemkritischen Humor.
Die Narrenfreiheit ermöglichte es ihnen, ungestraft Kritik an den bestehenden Verhältnissen zu üben.
Sogar Parodie war den Narren erlaubt, das respektlose Nachäffen der adeligen Gesellschaft – die sich
wiederum köstlich amüsierte, wenn ihr so einmal der Narrenspiegel vorgehalten wurde.
Und damals wie heute bleibt es doch eine spannende und durchaus heilsame Frage, wer oder was
denn nun eigentlich verrückt ist: Die Welt und ihre gesellschaftlichen Verhältnisse – oder eben der
Narr, der sich über alle Spielregeln hinwegsetzt...?
Paulus, der erste Theologe des Christentums spricht von der „Torheit der Welt“ und stellt ihr die
Weisheit des Glaubens gegenüber. Sich selbst bezeichnet der Apostel als „Narr um Christi willen“.
Paulus kehrt hier also die Verhältnisse um. Nur als Narr, also als einer, der sich ganz anders verhält,
als es die üblichen Spielregeln verlangen, als einer, der sich bewusst gegen den weltlichen
Mainstream stellt, kann man eigentlich im Sinne Jesu leben, meint er. Gut beobachtet und zu ende
gedacht ist das: Denn Jesus hatte ja wirklich so manches auf den Kopf gestellt, was bis dato Gesetz
war. Im sozialen genauso wie im religiösen Sinne. Er hatte Gott als liebenden Vater beschrieben, sich
mit närrischem Gesindel wie Zöllnern und Huren an einen Tisch gesetzt, er hatte Besessene geheilt,
die geistlich Armen selig gepriesen und die weltliche Sorge um Besitztümer belächelt. Er hat
gesellschaftliche Regeln außer Kraft gesetzt und Menschen froh gemacht, auch wenn die
herrschende Klasse ihn belächelte.
Vielleicht hat Don Quijote, der verschrobene Junker aus der Mancha in Spanien, diese ziemlich
weltfremde frohe Botschaft in Wahrheit besser verstanden als der Dorfpfarrer, der ihn am Ende
einfängt und mit dem Ochsenkarren wieder zurück in den gutbürgerlichen Alltag befördern will.
Denn eben dies können wir wohl lernen von einem Narren wie Don Quijote: Es kann sich lohnen, die
Welt und das eigene Dasein hin und wieder mit ganz neuen Augen oder aus einem bislang
ungewohnten Blickwinkel zu betrachten. Und mit Gottvertrauen und einem weiten Herzen auf enge
Normen und erdrückende Erwartungen mal gründlich zu pfeifen.
(3:10)
- MUSIK & ENDE - (wenn möglich: „Fool on the Hill“ von den Beatles!)
Schlagwörter fürs Archiv:Don Quijote, Ritter, Miguel de Cervantes, Literatur, Geschichte, Bücher,
Narren, Narrenfreiheit, Fool on the Hill, Paulus, Jesus, Mittelalter, Heldentum
Pfarrer Johannes Meier, Kassel