Manuskript

SWR2 MANUSKRIPT
ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE
Miguel de Cervantes
Der Erfinder des "Don Quijote"
Von Peter B. Schumann
Sendung: Donnerstag, 22.04.2016
Redaktion: Anja Brockert
Regie: Autorenproduktion
Produktion: SWR 2016
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Mit Ausschnitten aus dem Hörspiel ‚Don Quijote von der Mancha‘
von Klaus Buhlert
Don Quijote – Szenenausschnitt
Oh, Dulcinea von Toboso, Tag meiner Nacht, Licht meines Leids, Leitstern meiner
Wege, Fixstern meines Glücks. Oh, du mein Knappe, trostreicher Gefährte mir in
Glück und Leid. Präge dir gut ein, was du mich hier vollführen siehst, und
hinterbringe und erzähle es dann der, welche der Urgrund ist von derlei Tugend.“
Autor:
Don Quijote, Sancho Panza und Dulcinea – drei unsterbliche Figuren hat Miguel de
Cervantes am Anfang des 17. Jahrhunderts in die Weltliteratur eingefügt: den
verarmten Landedelmann aus der Mancha, der „wider jeglichen Verstands“ gegen
die Ungerechtigkeit zu Felde zieht und einer goldenen Vergangenheit nachtrauert;
seinen erdverbundenen Schildknappen, ohne dessen Realitätssinn er keines seiner
Abenteuer überstanden hätte; und das etwas einfältige Bauernmädchen, das er als
seine „Minneherrin“ vergöttert. Mit diesen Gestalten hat der spanische Schriftsteller
eines der berühmtesten und meist übersetzten Bücher geschaffen.
Ansage:
Miguel de Cervantes – der Erfinder des ‚Don Quijote‘.
Eine Sendung von Peter B. Schumann.
Autor:
Der 1547 geborene Miguel de Cervantes stammte selbst aus einer verarmten
Adelsfamilie und führte ein aufregendes, geradezu labyrinthisches Leben, das vor
400 Jahren, am 23. April 1616, in aller Stille endete. Bis dahin verlief es wie ein
einziges Abenteuer. Nach einem Duell musste er aus Spanien fliehen. In der
berühmten Seeschlacht von Lepanto wurde seine linke Hand verkrüppelt. Von
Korsaren wurde er als Sklave verschleppt, unternahm halsbrecherische
Fluchtversuche, bis er nach jahrelanger Gefangenschaft freigekauft wurde. Danach
arbeitete er für den Nachrichtendienst des spanischen Königs, als dessen
Steuereintreiber und Kommissar für die Versorgung der riesigen Flotte. Er wurde von
der Kirche mehrfach exkommuniziert, des Mordes bezichtigt und ins Gefängnis
gesperrt. Dennoch fand er immer wieder und bereits sehr früh Zeit zum Schreiben erzählt sein Biograph Uwe Neumahr.
Neumahr:
Wir kennen die noch recht ungelenken Gedichte aus dem Kondolenzbuch seines
Lehrers, da war er Anfang 20. Er hat dann die Galatea geschrieben, aber er hat
tatsächlich viele Jahre nichts publiziert. Es gibt auch frühe Fassungen seiner
Novellen. Aber das Erstaunliche an Cervantes ist, dass er, bevor er den Don Quijote
schrieb, noch nicht das Niveau und die Qualität des Romans und der Novellen hatte.
Nichts deutete darauf hin, dass er einmal ein Jahrtausend-Romancier werden
könnte.
Ausschnitt:
An einem Ort in der Mancha, ich will mich nicht an den Namen erinnern, lebte vor
nicht langer Zeit ein Edelmann, ein Hidalgo mit Lanze am Waffenhaken, alter
Ledertasche, dürrem Gaul und flinkem Jagdhund. (...) Besagter Hidalgo widmete sich
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in den Mußestunden – die meisten im Jahr – dem Lesen von Ritterromanen, und dies
mit solchem Eifer und Vergnügen, dass er darüber fast die Jagd, ja selbst die
Verwaltung von Geld und Gut vergaß. Lesehunger und Verirrung gingen so weit,
dass er viele Morgen Ackerland verkaufte, um sich Ritterbücher zu besorgen, und er
schaffte alle in sein Haus, deren er habhaft werden konnte.
Autor:
So beginnt Miguel de Cervantes seinen Don Quijote von der Mancha. Er gilt als das
größte Werk der spanisch-sprachigen Literatur und als Beginn des modernen
Romans. In alle Weltsprachen ist die Geschichte des armen Landadligen übersetzt
worden, den der übermäßige Genuss von Ritterbüchern dazu verleitete, sich selbst
als fahrender Ritter in unzählige Abenteuer zu stürzen und dadurch ewigen Ruhm zu
erlangen. Bereits 1605, beim Erscheinen des Romans, machte das Werk Furore, und
dürfte auch in diesem Jahr die literarische Welt bewegen, in dem der 400. Todestag
seines Autors begangen wird. Was hat Hunderte von Schriftstellern zu immer neuen
Biographien und zahllose Wissenschaftler zu immer detaillierteren Untersuchungen
gereizt? Und Millionen von Lesern zur Jahrhunderte überdauernden Lektüre
angeregt? Schließlich bietet uns Miguel de Cervantes auf den ersten Blick nicht mehr
als die tragikomischen Erlebnisse eines Wirrkopfes mit hehren Idealen, der sich
ständig in aussichtslose Kämpfe verstrickt.
Ausschnitt:
Als seine Vernunft bereits hoffnungslos verflogen war, verfiel er auf den seltsamsten
Gedanken, dem je ein Verrückter auf der Welt verfallen war, denn es schien ihm
würdig und recht, zur Mehrung seiner Ehre und zum Dienst an seinem Land ein
fahrender Ritter zu werden und wohlgerüstet hoch zu Ross in die Welt
hinauszuziehen, Abenteuer zu suchen und all das zu vollführen, was die fahrenden
Ritter, wie er gelesen hatte, vollführten, jeglichem Unrecht abzuhelfen, Gefechten
und Gefahren zu trotzen, sie zu bestehen und ewigen Ruf und Ruhm zu erlangen.
Autor:
Die Zeitgenossen von Cervantes ergötzen sich an dem Ritter von der traurigen
Gestalt, der gegen Windmühlen zu Felde zieht, weil sie ihm als böse Riesen
erscheinen; der einer Gruppe von Verbrechern die Fesseln löst, weil er es als sein
„Gewerbe“ ansieht, „jeglichen Zwang aufzuheben“, und der zum Dank von den so
Befreiten beinahe gelyncht wird. Mit solchen manchmal geradezu abstrusen
Begebenheiten wollte der Autor seine Leser 1605 unterhalten und zugleich den
damals in Spanien außerordentlich beliebten Ritterroman erneuern, denn das Genre
war mit der Zeit ziemlich heruntergekommen. In der Vorrede seines Don Quijote lässt
er sich von einem Freund raten:
Ausschnitt:
Sorgt dafür, dass beim Lesen Eurer Geschichte der Schwermütige wieder lachen
lernt, der Lachende noch lauter lacht, der Einfältige sich nicht ärgert, der Verständige
über die Erfindungsgabe staunt. Kurzum: richtet Euer Augenmerk nur darauf, das
falsche Rüstzeug der Ritterbücher zu zerhauen, die so viele verabscheuen und viel
mehr noch rühmen. Habt Ihr das erreicht, habt Ihr nicht wenig geschafft.
Autor:
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Also macht sich Miguel de Cervantes ans Werk. Zuerst verzichtet er auf seine Rolle
als allwissender Autor und beschreibt die Abenteuer seines Helden aus der
Perspektive verschiedener Erzähler. Dann bricht er die lineare, streng normierte und
stark typisierte Gattung des Ritterromans durch verschiedenartige literarische
Einschübe auf. Er fügt beispielsweise Sonette, Klagelieder und Liebesgedichte in die
Prosa ein und nimmt die heute so selbstverständlichen hybriden Formen vorweg.
Neumahr:
Miguel de Cervantes hat den Metaroman erfunden, d.h. dass in seinem Roman,
insbesondere im 2. Teil, der 1. Teil schon thematisiert wird, es ist ein Buch über das
Buch. Die beiden Hauptprotagonisten Don Quijote und Sancho Panza wissen im 2.
Romanteil bereits, dass sie fiktionale Figuren sind.
Autor:
Außerdem lässt Cervantes einen Pfarrer und einen Barbier die Ritterromane, die sie
in der Bibliothek „des geistvollen Edelmanns“ Don Quijote finden, gründlich
überprüfen.
Ausschnitt:
Als Erstes reichte ihm der Meister Nicolás Die vier Bücher des Amadis von Gallien.
Der Pfarrer nahm sie und sagte:
„Da hat, wie mir scheint, die Vorsehung ihre Hand im Spiel, ich habe gehört, dies hier
ist der erste Ritterroman, der in Spanien gedruckt wurde, und folglich Quelle und
Ursprung aller anderen. Als Dogmatiker einer so üblen Sekte sollten wir ihn darum
gnadenlos zum Feuer verdammen. Ins Feuer damit.“
„Aber nein“, sagte der Barbier, „ich habe gehört, es soll das beste Buch dieser Art
sein. Und als das vornehmste in seiner Kunst muss es begnadigt werden.“
„Das ist wahr, also will ich ihm vorerst das Leben schenken. Schauen wir uns seinen
Nachbarn an.“
„Da haben wir“, sagte der Barbier, „Die Ruhmestaten des weiteren Esplandian,
rechtmäßiger Sohn des Amadis von Gallien.“
„Die Trefflichkeit des Vaters soll dem Sohn nicht zugutekommen. Öffnet das Fenster
und hinaus damit in den Hühnerhof, das soll der Grundstein unseres Scheiterhaufens
sein.“
Autor:
Die beiden Zensoren ängstigte wohl die ausgefallene Leidenschaft des Edelmanns,
und selbst die gebildeteren Leser jener Zeit verpönten solche Einsichten genauso
wie die neuen literarischen Formen.
Neumahr:
Cervantes litt darunter, dass der Don Quijote nur als Spaßbuch bezeichnet wurde.
Don Quijote war für die Spanier der damaligen Zeit nichts anderes als ein
Possenreißer und ein Narr. Das hing damit zusammen, dass der Roman damals kein
gutes Image hatte. Prosa, das galt als literarisches Handwerk im Gegensatz zur
Versdichtung, die man durchaus als Kunst verstand. Man blickte herab auf den
Roman. Das war ein Teil der Tragik von Cervantes während seiner Lebenszeit.
Autor:
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Der große Spanier lieferte die erste Parodie des Ritterromans, wollte aber weder das
Genre überwinden noch den Ritter aus der Literatur verbannen. Mit seinen
ungewöhnlichen Erneuerungen versetzte er der Gattung jedoch ungewollt den
Todesstoß. Von der Konstruktion der Heldengeschichte blieben dennoch bis in
unsere Tage die wohl gerüsteten Edlen erhalten, die das Böse in der Welt
bekämpfen: als Prinz Eisenherz in Comicstrips oder als Jedi-Ritter in SciencefictionFilmen. Mag auch der Ruhm von Cervantes etwas verblasst sein, so hat doch sein
Hauptwerk bis heute überlebt.
Neumahr:
Das ist das Menschlich-Allzumenschliche, was darin enthalten ist. Das ist ja ein
Kosmos, ein Kaleidoskop der unterschiedlichsten Menschen. Wir finden den
Sargträger, das Herzogspaar, den Gefangenen darin und den Beamten. Was das
Buch so spannend und so lesenswert macht, ist, dass es in keiner Weise
kulturhistorisch angestaubt ist. Es ist ein Buch, das Sie heute noch lesen können
ohne großes Vorwissen, was im Gegensatz zu anderen Werken dieser Zeit fast
unmöglich ist.
Autor:
Mit dem adligen Don Quijote und mit Sancho Panza, dem Mann aus dem Volk, hat
Miguel de Cervantes zwei Archetypen geschaffen. Beide sind aufeinander
angewiesen und bedingen sich gegenseitig. Diese Figuren-Konstellation hat er
erfunden. Seither bereichert sie in vielfältiger Gestalt die Kultur: als Tom Sawyer und
Huckleberry Finn die Romane von Mark Twain, als Laurel und Hardy das frühe
Hollywood-Kino oder als Asterix und Obelix französische Comics. Die Unsterblichkeit
von Cervantes Hauptfiguren beweisen auch rund drei Dutzend, meist spanische
Verfilmungen des Stoffes.
Ausschnitt:
„Sancho, das Licht der Geschichte wird unsere wunderbaren Taten erleuchten.“ –
„Und was gibt es zu essen?“ – „Das Goldene Zeitalter wird uns geistige Nahrung
sein.“
Autor:
Hier treffen zwei Welten, zwei Geisteshaltungen aufeinander, die sich gegenseitig
ausschließen: die des Idealisten in Gestalt des fahrenden Ritters Don Quijote, der die
Gerechtigkeit auf seiner Seite weiß und mitunter selbstgerecht auftritt – in den
Sheriffs der neuzeitlichen Western findet er bis heute seine Entsprechung; und die
des Realisten Sancho Panza, der auf dem Boden der Tatsachen steht, keine
geistigen Höhenflüge kennt, aber sehr wohl das Gefühl des Hungers. Der Edelmann
würde ohne seinen Diener nicht einen einzigen seiner Kämpfe überleben. Und dieser
folgt ihm in stiller Bewunderung.
Ausschnitt:
„Wir haben so viel Spaß miteinander gehabt. Na schön, er hat keinen Heller, und
man leidet oft Hunger, doch er ist der einzige Herr, der mich in meinem Hundeleben
gut behandelt hat. Die Leute sagen, er sei verrückt. Aber sind Verrückte und Heilige
nicht das gleiche?“
Autor:
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Sie streiten und sie versöhnen sich, denn beide eint nicht nur das Band einer
Zwangsgemeinschaft. Im Lauf der dramatischen Abenteuer hat sich zwischen dem
Adligen und dem Mann aus dem Volk eine tiefe Freundschaft entwickelt.
Neumahr:
Etwas für die damalige Zeit völlig Revolutionäres. Das ist wirklich ständeübergreifend, das ist demokratisierend, das ist fast revolutionär, was da passiert.
Wenn er für sich das Gefühl hat zu scheitern, dann suggeriert Cervantes dem Leser
aber immer: Don Quijote hat Dinge geleistet, die überragend sind und die ihn weit
überleben werden.
Autor:
Eine konfliktreiche Polarität nimmt in dieser Schärfe erstmals literarische Gestalt an
und vermittelt ein kritisches Bild der damaligen Ständegesellschaft.
Neumahr:
Es geht so weit, dass er die Adeligen bloßstellt: sie missbrauchen Don Quijote und
Sancho als Hofnarren. Aber die, die am Ende des Buches als wirkliche Narren
dastehen, sind die Adeligen, die ihr böses Spiel mit den beiden treiben und von
Sancho darin belehrt werden, wie ein Herrscher die Sache sehr viel besser machen
kann als die damaligen tatsächlichen Herrscher.
Autor:
Die ideale und die reale Welt sind in diesen beiden Figuren personifiziert: die
Träume, in denen sich der Mensch verliert, und die praktische Seite des Lebens, die
ihm die Existenz sichert und die Verwirklichung des Traums erst ermöglicht. Don
Quijote, der naive Idealist, folgt unbeirrt seinen Visionen: ein aus dem realen Leben
Verrückter, ein Exzentriker, der die Welt aus einem verzerrten Blickwinkel wahrnimmt
und dennoch Zusammenhänge erkennt, die anderen verborgen bleiben.
Ausschnitt:
Da sahen sie dreißig oder vierzig Windmühlen auf dem Feld vor ihnen, und kaum
hatte Don Quijote sie erblickt, sagte er zu seinem Knappen:
„Das Glück lenkt unsere Geschäfte besser, als wir hätten hoffen können, vor dir,
Sancho Panza, mein Freund, siehst du wenigstens dreißig grimmige Riesen, mit
denen ich eine Schlacht zu schlagen gedenke, bei der mir alle über die Klinge
springen sollen.“
„Was denn für Riesen?“ fragte Sancho Panza.
„Die du da vor dir siehst“, erwiderte sein Herr, „die Arme so lang, dass sie bei
manchen fast zwei Meilen messen.“
„Aber was dort erscheint, sind keine Riesen, sondern Windmühlen, und was wie
Arme erscheint, sind ihre Flügel, die im Wind wirbeln und den Mahlstein bewegen.“
„Aus dem Weg, Sancho. Man merkt sofort, dass du in Abenteuern nicht bewandert
bist. Riesen sind es. Aus dem Weg, sag ich.“
Autor:
Trotz der Warnung Sancho Panzas greift Don Quijote die Windmühlen in einem Akt
der Rebellion an: er kann die Welt nicht so akzeptieren, wie sie ist und wie sie
seinem Diener erscheint.
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Ausschnitt:
Und sogleich empfahl er sich aus tiefster Seele seiner Herrin Dulcinea, mit der Bitte,
ihm in dieser Schicksalsstunde beizustehen, und in vollem Galopp sprengte er auf
Rocinante, gewappnet mit seinem Rundschild und eingelegter Lanze, gegen die
erste Windmühle an. Ein Flügel bekam einen Lanzenhieb ab, doch der Wind trieb sie
so heftig an, dass die Lanze in Stücken davonflog und Ross und Reiter hinterher, der
übel zugerichtet über das Feld rollte.
„Allmächtiger! Habe ich Euch nicht gesagt, es sind nichts als Windmühlen, was nur
einer in den Wind schlagen kann, dem sich selbst eine Mühle im Kopf dreht.“
Autor:
Diese Vermischung von Traum und Wirklichkeit wurde zwei Jahrhunderte später in
der Romantik wieder aufgegriffen. Das Phantastische und bis zum Wahnsinn
Übersteigerte geriet ins Zentrum der literarischen Beschäftigung, die ‚Verrückten‘ und
Gescheiterten wurden zu Helden. Die ‚wunderbare Welt’ von Miguel de Cervantes
erlebte eine späte Anerkennung, und Ludwig Tieck schuf die erste Übersetzung ins
Deutsche.
Neumahr:
Es war die deutsche Romantik, die eine große Rolle darin gespielt hat, diesen
Roman als Jahrtausend-Werk zu bestimmen. Das Lachen der Zeitgenossen wurde in
der deutschen Romantik durch eine lächelnde Melancholie abgelöst. Man sah in Don
Quijote den tragisch Scheiternden, der an der Prosa des Lebens buchstäblich
scheitert, aber ein großer Idealist ist. Jede Epoche sah in diesem Roman ein anderes
Gesicht. Die Franzosen etwa sahen darin eine Satire auf das katholische Spanien,
eine Parodie auf Ignacius von Loyola, den Begründer des Jesuitenordens.
Autor:
Deutsche Schriftsteller faszinierte das Werk. E.T.A. Hoffmann nahm in seiner
Berganza-Novelle Bezug darauf. In Schillers Räubern taucht der Räuberhauptmann
aus Don Quijote auf. Thomas Mann nannte es ein „Weltbuch“. Für Hermann Hesse
war es „eines der grandiosesten Bücher aller Zeiten“. Sigmund Freud lernte extra
Spanisch, um sich in das Original vertiefen zu können. Und natürlich fanden
Cervantes und sein Don Quijote viele Bewunderer unter den lateinamerikanischen
Schriftstellern. Zu ihnen zählt der Mexikaner Carlos Fuentes, einer der
bedeutendsten Romanciers des Kontinents.
Fuentes:
Don Quijote hat den modernen westlichen Roman begründet, der es uns ermöglicht,
uns selbst zu verlassen und die Welt zu erschließen und zwar mit Sinn für Ironie und
Humor. Hier weiß der Leser, dass er gelesen und der Protagonist, dass er
beschrieben wird. Es ist ein Roman der Desillusion, der ambivalenten Wirklichkeit,
ein Roman der Reise, der Dynamik, der Bewegung vom Verstand zum Wahnsinn.
Deshalb halte ich ihn für den großen modernen Roman und kann mir alle Romane,
die folgten, ohne diesen Don Quijote nicht vorstellen.
Autor:
Zu den desillusionierenden Passagen gehört das Kapitel „von dem denkwürdigen
Abenteuer mit den Häschern“. Darin beschreibt Cervantes, wie der Edelmann von
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den Honoratioren einer Gemeinde zwangsweise festgesetzt wird, damit er „in seinen
Heimatort zurückgebracht“ und ihm dort „seine Verrücktheit zurechtgerückt“, also
ausgetrieben werden kann.
Ausschnitt:
Sie bauten aus Holzstangen eine Art Käfig, in dem Don Quijote bequem
untergebracht werden konnte, worauf Don Fernando und seine Gefährten, Don Luis‘
Diener, die Häscher und der Wirt auf Anordnung und Anweisung des Pfarrers hin ihre
Gesichter vermummten und sich auf ganz bestimmte Weise verkleiden, so dass Don
Quijote den Eindruck haben musste, dass es nicht die waren, die er aus der Burg
kannte. Als das geschehen war, betraten sie still und leise die Kammer, wo er von
seinen geschlagenen Schlachten ausruhte. Sie traten zu ihm, packten ihn, banden
ihm stramm Hände und Füße zusammen, so dass er sich, als er erschreckt aus dem
Schlafe fuhr, nicht rühren, sondern nur verwundern und staunen konnte, so viele
seltsame Fratzen vor sich zu sehen, und sofort machte sich seine unermüdliche,
unbändige Phantasie ans Werk, und er nahm an, dass alle diese Gestalten
Gespenster aus der verwunschenen Burg waren und er zweifellos selbst
verwunschen war, da er sich weder rühren noch verteidigen konnte: genau so, wie
der Pfarrer, der Erfinder dieser Finte, vorhergesehen hatte. Man holte den Käfig,
schloss ihn darin ein und vernagelte ihn so fest mit Balken, dass sie selbst den
kräftigsten Stößen standzuhalten vermochten.
Autor:
Miguel de Cervantes zeigt wiederholt, dass in der spanischen Gesellschaft jener Zeit
sehr viel Gewalt herrschte. Er soll sein Meisterwerk auch in einem unmenschlichen
Umfeld geschrieben haben: im Gefängnis, das er mehrfach kennenlernte. Darauf
deutet zumindest der Prolog hin.
Ausschnitt:
Dies ist der Ort, o Himmel,:
den ich bestimme und erwähle,
um das Unheil zu beklagen,
in das du mich stürzest.
Dies ist die Stätte,
wo von meiner Augen Saft
das Wasser dieses Bächleins schwellen wird,
und unter meinen tiefen, steten Seufzern
stetiglich die Blätter dieser Berggipfel erbeben werden
als Zeugnis und Zeichen all der Pein,
die mein so leidgeprüftes Herz erduldet.
Autor:
Sein Biograph Uwe Neumahr bestreitet jedoch die vielfach wiederholte Auffassung.
Neumahr:
Er war damals im Hauptgefängnis von Sevilla, das eine wahre Hochschule für
Verbrecher war, in der es Streit, Prügel, Hinrichtungen gab. Wie kann man da die
Muße finden, sich hinsetzen und den Don Quijote schreiben. Das ist wahrscheinlich
nahezu unmöglich. Es sei denn, er hätte über die phänomenale Fähigkeit verfügt, die
Außenwelt von der Innenwelt luftdicht voneinander abzuschließen. Ich glaube
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persönlich eher, dass ihm darin die Idee kam und dass er im Gefängnis den
Entschluss fasste, sich vollkommen neu zu erfinden, auch literarisch.
Autor:
Bis Anfang des 17. Jahrhunderts war Miguel de Cervantes als Schriftsteller kaum in
Erscheinung getreten. Der Schäferroman Der erste Teil der Galatea, mit dem er als
Vierzigjähriger zu reüssieren versuchte, fand genauso wenig Beachtung wie ein
Theaterstück.
Neumahr:
Cervantes war extrem belesen. Er war viele Jahre in Italien, kannte die italienische
Literatur. Er war ein großer Verehrer des berühmten spanischen Lyrikers Garcilaso
de la Vega. Er besuchte die Theaterbühnen seiner Zeit, und vieles geht dann in sein
Werk ein. Don Quijote ist eine Akkumulation der verschiedensten literarischen
Gattungen der damaligen Zeit und er schuf daraus eine einmalige Synthese.
Autor:
Ermutigt durch den Erfolg seines Romans versuchte er sich – zwanzig Jahre nach
seinen literarischen Fingerübungen – auch an anderen Gattungen: an Novellen und
vor allem an den allgemein sehr geschätzten Theaterstücken.
Neumahr:
Die große Liebe von Cervantes war das Drama, die ‚comedia‘, wie es damals hieß, in
den unterschiedlichsten Spielarten. Nun wurde Cervantes zum Verhängnis, dass er
einen sehr großen und sehr begabten Gegenspieler hatte: Lope de Vega, den er
auch persönlich kannte. Sie stritten sich, sie polemisierten. Lope war sicher daran
beteiligt, dass Cervantes‘ Stück gar nicht aufgeführt wurden. Die Tragik des Literaten
Cervantes besteht in gewisser Weise darin, dass das, was ihm wirklich wichtig war,
das Drama, seine Stücke, die uns heute publiziert vorliegen, zu seiner Zeit nie
aufgeführt wurden.
Autor:
Ihm gelang allerdings 1613 mit seinen zwölf Exemplarischen Novellen eine weitere
literarische Großtat. Bis dahin war diese Gattung in Spanien lediglich durch
ungelenke Übersetzungen bekannt oder durch schwache Nachahmungen vor allem
italienischer Vorlagen wie Boccacios berühmtem Decamerone.
Neumahr:
Derjenige, der die Novelle in Spanien auf ein Niveau führte, das später kaum noch
erreicht wurde, das war Cervantes. Die Novelle stand auch im Ruch der Halbwelt, es
geht ja bei Boccaccio oft sehr obszön, sehr sexuell zu, es geht um Sodomie und
diese Dinge. Cervantes hob sie auf das Niveau, das man als humanistische Novelle
bezeichnen kann.
Autor:
Diese literarische Leistung wird jedoch von Don Quijote und seiner zeitlosen
Gültigkeit überragt. In jedem Jahrhundert wurden neue Lesarten gefunden. Eine
Konstante hat sie alle überdauert: Don Quijote als Suchender und Scheiternder, als
Abbild der Menschheit. Und als eine Paraphrase für das Leben seines Urhebers.
Miguel de Cervantes‘ Schicksal war von vielen demütigenden Niederlagen geprägt,
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bis ihm als 60-jährigem der große Wurf gelang. Ein Jahrzehnt blieb ihm noch, um
den lange ersehnten Erfolg zu genießen. In der Nacht zum 23. April 1616 starb er in
Madrid. In einem Kloster der Barfüßerinnen liegt einer der bedeutendsten
Schriftsteller der Weltliteratur begraben.
Ausschnitt:
Hier ruht der Rittersmann,:
verdroschen und verfahren,
den Rocinante getragen
so manchen Pfad entlang.
Und Sancho Panza, dieser Narr,:
ward neben ihm gebettet,
der Treuste auf der ganzen Welt,
der je zum Knappen ward.
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