Laura Kunze concealed secrets Die Macht der Bernsteinkette Laura Kunze wurde 1999 in Ulm geboren. Mit 15 Jahren veröffentlichte sie das erste Buch aus der Reihe "concealed secrets". Das erste Buch schrieb sie im Alter von 13 Jahren. Unterstützung bekam sie hauptsächlich von ihrer Familie, Lehrern und Freunden. Sie besuchte die Realschule St. Hildegard in Ulm. Impressum Laura Kunze: concealed secrets - Die Macht der Bernsteinkette 1. Auflage, Oktober 2015 Alle Rechte liegen bei der Autorin (Copyright ©) Umschlaggestaltung: Wolfgang Falge ISBN: Hardcover: Paperback: e-Book: 978-3-7323-5982-0 978-3-7323-5981-3 978-3-7323-5983-7 Verlag: tredition GmbH, Hamburg LAURA KUNZE concealed secrets DIE MACHT DER BERNSTEINKETTE Für meine Klasse 10c, die mich immer unterstützt hat, meinen Klassenlehrer Hr. Spang, meine ehemalige Deutschlehrerin Fr. Dreesen. Natürlich auch für dich, Edana Betz Inhalt Verblasste Erinnerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Ein neues Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Ein unverhoffter Albtraum . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 Die Geschichte beginnt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 Eine neue Bekanntschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 Die Reise in ein neues Leben . . . . . . . . . . . . . . . 83 Die neue Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 Eine neue Gefährtin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 Die vier Ältesten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 Lucians Vergangenheit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 Zerbrochene Scherben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 Fragen über Fragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 Spurlos verschwunden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210 Der Weg zurück . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 Amari Irama . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248 Feuer trifft auf Stein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 Das Auge von Cavanaugh . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 Nach dem Sturm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 Die Abrechnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 318 Hinter tausend Stäben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 336 Unausgesprochene Wahrheiten . . . . . . . . . . . . 352 Ein rettendes Wiedersehen . . . . . . . . . . . . . . . . 367 Trauer im Herzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 381 Die Macht der Bernsteinkette . . . . . . . . . . . . . . . 497 Offenbarungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 421 Verblasste Erinnerung Die Zeit war gekommen. Er hatte das Gefühl, dass sie viel schneller gekommen war, als gewöhnlich, wenn er auf etwas wartete. Es schien als hätte die Zeit sich beeilt, damit dieser Augenblick schnell passieren konnte. Aber war er schon bereit dafür? Er schloss seine Augen und dachte nach, der Moment, auf den alle gewartet hatten, der Moment in dem sich für seine Tochter alles ändern würde, war gekommen und es spielte dabei keine Rolle, ob er dafür bereit war oder nicht. Er hatte keine Wahl, er musste es tun. Er öffnete seine Augen und sah zum letzten Mal durch das Fenster nach draußen. Die Sonne schien hell und der Himmel war, wie schon seit langem nicht mehr, strahlend blau und klar. Es war perfekt für so einen bedeutenden Augenblick. Sein Puls beschleunigte sich, seine Hände zitterten und der Schweiß tropfte von seiner Stirn. Er würde heute sterben, die Welt verlassen. Für immer. Niemand konnte das verhindern. Es war gut, dass er wenigstens ein paar Jahre mit seiner Tochter hatte, dachte er und stützte sich an der Wand ab. Seine Beine fingen an zu zittern und gaben schließlich nach. Er setzte sich in den roten Sessel, der an der Wand stand. Der alte, rote Sessel hatte seine besten Zeiten schon lange hinter sich gelassen und knarzte, wenn er sich bewegte. Doch trotz der Macken dieses Sessels war er in diesem Haus sein Lieblingsstück. Er war schon 1 richtig alt und hier und da schoben sich die ersten Stoffreste ab, doch es war ihm egal, er besaß seinen Lieblingssessel schon seit Jahren und nun würde er auf ihm sterben. Das einzig Gute daran. Sein Blick schweifte noch einmal in seinem Haus umher und er betrachtete die perfekt miteinander harmonierenden, alten Möbel und den hellen Parkettboden. Die rotbestrichenen Wände ließen ihn lächeln und er betrachtete die Bilder, die dort hingen, genauer. Es waren Bilder von ihm und seiner bildhübschen, blonden Tochter. Sie war sein einziges Kind und sein ganzer Stolz. Ihr Name war Lillian Marie Evans. Er sah sie an, sie sprang barfuß im Garten umher und sang das Lied von dem Fuchsen König. Automatisch lächelte er, seine Tochter konnte wunderschön singen. Plötzlich bekam er einen Stich ins Herz, er wollte sie nicht zurück lassen, nicht in dieser Welt. Er wollte ihr beistehen und sie in ihrem Leben begleiten, ihr Ratschläge geben, sie unterstützen und wenn es Notwendig war, sie wieder auf den richtigen Weg weisen. Doch er hatte keine Wahl, er musste es tun, es war nun mal sein Schicksal, seine Bestimmung und er konnte ihm nicht entkommen, das konnte niemand. Früher oder später wurde jeder von seinem Schicksal eingeholt, niemand hatte endlos Zeit und seine war abgelaufen. Wusste Lillian von ihren Fähigkeiten? Wusste sie, dass sie später einer Prophezeiung nachkommen 2 musste? Und das sie, wenn sich die Prophezeiung bewahrheiten würde, in großer Gefahr war? Ahnte sie es wenigstens? Tausende Fragen schossen in seinen Kopf, alle Fragen die er nie gestellt hatte und keine würde er beantwortet bekommen, dazu fehlte ihm die Zeit. Vor allem aber interessierte ihn eine Frage: würde Lillian ihm jemals verzeihen? Er wird sie zurücklassen mit einem hinterhältigen Plan, einer grauenhaften Bestimmung und einem furchtbaren Schicksal. Er atmete tief durch und rief seine Tochter Lillian zu sich herein. Schon jetzt zitterte er am ganzen Körper. Seine Tochter hopste zu ihm, sie hatte dunkelblondes, weiches Haar und klare, braune Augen. Erwartungsvoll sah sie ihn an und er zwang sich ein Lächeln auf. >>Setzt dich, bitte. Ich möchte dir etwas schenken, mein Schatz<< >>Au, ja!<< freute sich Lillian und schob sich gespannt einen hellbraunen Stuhl heran. Lillian war so ein fröhliches Kind, womit hatte sie das verdient? Sie war ein so offenes, freundliches, kluges Mädchen. So etwas hatte niemand verdient, doch niemand hatte eine Wahl. Er musste nur noch eine Sache erledigen, dann würde für immer von der Welt verschwinden. Eines Tages würde sie es verstehen, eines Tages würde sie ihn vergessen, glücklich werden und nicht mehr an ihn zurückdenken. Und das war in Ordnung so. Er 3 nahm Lillians weiche Hand und spürte die Kraft, die sie trug, schon jetzt war sie gewaltig. Er blickte in ihre neugierigen Augen und lächelte. Er flüsterte etwas in einer seltsam klingenden Sprache und noch bevor er die letzten Worte ausgesprochen hatte, kräuselte sich an Lillians Arm ein Muster, eine Art Tattoo, es war so klein, das man es kaum sehen konnte. Das Tattoo bildete eine feuerrote Tulpe mit einem langen grünen Stängel. Die Tulpe hatte ein winziges, grünes Blatt und er wusste, wenn das fallen würde, dann hatte sie aufgegeben, dann war sie dem Bösen verfallen. Dann waren alle verloren, dann hatte Cross Cavanaugh gewonnen, dann würde die Welt in Furcht, Angst, Schrecken und Terror verfallen. Doch er wusste, dass Lillian es schaffen würde. Sie musste es schaffen. Es war unmenschlich eine solch große Last auf seinen Schultern zu tragen, doch die Hoffnung, dass alles gut werden würde, flackerte in ihm. Er drückte sanft ihre Hand, dann atmete er noch einmal kräftig durch. Er hatte in den letzten zehn Jahren keine einzige Träne vergossen und nun, als er kurz vor dem Tod stand, wurden sie in seine Augen getrieben. Hastig blinzelte er sie weg und holte aus seiner Tasche zwei schwarze, runde Perlohrringe und eine schwarze Kette mit einem ebenfalls schwarzen Stein heraus. Er berührte zuerst die pechschwarzen Perlohrringe und erneut murmelte er unverständliche Worte in einer anderen Sprache. Sofort spürte er wie er an Kraft verlor, sie wurde ihm ausgesaugt wie ein Staubkorn, das von 4 einem Staubsauger aufgesaugt wurde. Und die Perlohrringe, die vor einer Sekunde noch pechschwarz waren wurden plötzlich strahlend weiß und klar. Er gab sie seiner fröhlichen Tochter und Lillian steckte sich die Ohrringe glücklich an und die Tulpe, die so schief stand, bekam auf einmal den letzten Schliff und sie stand etwas gerader. Zuletzt berührte er die schwarze Kette, er murmelte zum dritten Mal die Worte und wieder, noch bevor er das letzte Wort ausgesprochen hatte, spürte er schon, wie ihm die Kraft erneut herausgesogen wurde. Doch dieses Mal war es mehr, mehr als bei den Ohrringen und mehr, als er es am Anfang gedacht und eingeschätzt hatte. Er wusste, dass aus vier fünf wird und dass er, selbst wenn er es nicht gewollt hätte, jetzt sterben würde. Er schloss seine Augen und versuchte sich zu konzentrieren. Es schien, als hätte die Kette all seine Kraft und Lebensenergie genommen. Er atmete schwerer als noch vor ein paar Sekunden und er hatte Mühe sich die letzten Sekunden am Leben zu halten. Er m u s s t e s i c h n o c h v o n s e i n e r To c h t e r verabschieden, ihr viel Glück wünschen und ihr sagen, dass er sie liebte. Wieder kämpfte er gegen die Tränen an, in weniger als einer Minute würde er tot sein. Er öffnete seine Augen und sah, wie die Farbe der Kette sich änderte. Sie war nun strahlend blau und wunderschön. Wenn man genau hinsah, konnte man erkennen, dass ein goldener Draht sich an dem Stein der Kette hochschlängelte und somit das Bild vereinte. 5 >>Gefällt dir die Kette, Liebling?<< fragte er seine Tochter leise, er konnte spüren, wie er müde wurde. >>Sie ist wunderschön, Papa. Danke<< Mit zitternder Hand legte er Lillian die Kette um ihren Hals und für einen Augenblick schloss sie ihre Augen. Wahrscheinlich konnte sie die Veränderung spüren, die gerade stattfand. Ja, jetzt würde sich alles ändern. Vielleicht spürte sie gerade in dieser Sekunde, dass von jetzt an nichts mehr wie früher sein würde. >>Trage diese Kette und die Ohrringe immer bei dir, okay? Wenn du sie dir anschaust, dann denke an dieses Haus<< Er sah seiner Tochter direkt in die Augen, es wurde immer schwerer seine Tränen zurückzuhalten. >>Schau dir die Kette jeden Tag an und denke an die glückliche Zeit, die wir hatten. Denke an all das Gute, was dir einfällt, denn dafür steht die Kette. Sie soll dich an die Guten Zeiten erinnern. Sie soll dich an mich erinnern<< Lillian zögerte kurz, dann nickte sie. Seine Tochter schloss noch einmal kurz ihre Augen und als sie sie wieder öffnete, waren sie strahlend Türkis. Er lächelte, es hatte funktioniert. Sie hatte nun all seine Kraft erhalten und jetzt war es Zeit für ihn zu gehen. Seine Arbeit war getan. >>Ich hab dich lieb, mein Schatz. Hörst du? Ich hab dich so unendlich lieb<< Er gab ihr einen Kuss und drückte. Eine Träne rollte seine Backe hinunter und 6 landete in Lillians Pullover >>Egal was auch passieren wird, du bist niemals alleine. Okay? Du wirst Freunde haben, es wird immer jemanden geben, der an dich glaubt, der dich beschützen wird<< >>Papa, warum weinst du?<< fragte Lillian traurig und wischte ihm eine Träne mit ihrer Hand weg. >>Geht es dir nicht gut?<< >>Vergiss bitte nicht, dass du nie alleine bist, dass ich dich liebe. Bitte verspreche mir das<< Er wischte sich die restlichen Tränen weg und schaffte es neue zu unterdrücken. >>Aber ich bin doch hier, Papa und ich werde dich doch nicht vergessen. Wir sehen uns doch jeden Tag<< Er lächelte kurz und drückte noch einmal ihre Hand. Alles würde irgendwann einen Sinn ergeben. Auch das war eine Sache, die niemand verhindern konnte. Lillian wird später ein sehr, sehr guter Mensch werden, das wusste er, er fühlte es in seinem Herzen und er glaubte daran. >>Was ist los, Papa?<< Er blickte zu seiner Tochter auf und plötzlich glitt ihre Hand aus seiner. Am liebsten hätte er wieder nach ihrer gegriffen, doch er konnte weder seine 7 Füße, noch seine Hände bewegen. Die Kraft verließ ihn binnen Sekunden. >>Nichts<< flüsterte er >>Nichts ist los. Alles ist gut<< Seine Tochter sah unsicher zu ihm auf, doch sie sagte nichts mehr. Er holte noch einmal tief Luft und spürte gleichzeitig, wie er immer schwächer wurde. Es musste so geschehen, sie brauchte alle Mittel um das Böse zu besiegen, es war ein beinahe ein aussichtsloser Kampf, doch seine Tochter war dem Ziel schon einen Schritt näher gekommen. Der erste Schritt von eintausend. Denn um Cavanaugh zu besiegen und den Frieden wieder in die Welt zurück bringen zu können, würde Lillian sich auf eine lange Reise begeben müssen und einen oder zwei sehr gute Freunde brauchen. Freunde, die sie nie verlassen werden, nicht so, wie er es tut. Er schloss noch einmal seine Augen und sein Atem wurde langsamer. Vier ergab fünf und seine Tochter Lillian Marie Evans war dabei eine Heldin zu werden. Ja, sie würde Geschichte schreiben. Jeder würde von ihr erzählen und eines Tages wird sie soweit sein und diesen Geschichten gerecht werden, eines Tages wird sie sich und den kompletten Tag erinnern und es dann verstehen. Wie in Zeitlupe öffnete er seine Augen und sah, wie Tante Birgit die Wohnung betrat und Lillian lächelnd an die Hand nahm. 8 >>Ich hab dich lieb, Lillian<< wisperte er, dann war seine Tochter verschwunden. Das letzte, was er von seiner Tochter hörte, war, wie sie Tante Birgit fragte, warum er denn nicht mitkomme. Dann fiel die Tür ins Schloss und er blieb zurück. Seine Hände strichen sanft über das rote Leder des Sessels, er wusste, wenn er jetzt seine Augen schließen würde, dann könnte er sie nie wieder öffnen. Er dachte an die Tulpe, die an Lillians Arm gezeichnet war. Spätestens in zwei Tagen würde sie verschwunden sein und mit der Blume würde auch die Erinnerung an diesem Tag gehen. Er hörte seinen eigenen Atem, der in unregelmäßigen Abständen wieder kam. Das letzte, an was er dachte war Lillian und . . . und ihre Mutter Nea. Er hatte seine Tochter alleine groß gezogen, alles war einvernehmlich gelaufen, doch jetzt wünschte er sich nichts sehnlicher, als Nea neben sich sitzen zu sehen. Er stellte sich vor, wie sie hereinkamen, sich auf den hellbraunen Stuhl setzte und seine Hand hielt. Lillian und Nea sahen sich unglaublich ähnlich, mit ihren blonden Haaren. Er stellte sich vor, wie sie aufmunternd seine Hand drückte und plötzlich kam sie ihm so real vor, als würde sie wirklich neben ihr sitzen. >>Es ist in Ordnung, mein Schatz<< flüsterte sie und lächelte aufmunternd. 9 Nea hatte den gleichen Mund, wie Lillian. Genauso fein, genauso schön. >>Pass auf Lillian auf<< antwortete er und schloss seine Augen. >>Sie ist gut aufgehoben bei Tante Birgit<< Er hörte die Stimme von Nea, doch er konnte seine Augen nicht mehr öffnen – genau wie er es vorausgesagt hatte. Dazu fehlte ihm die Kraft. >>Lass los<< Das waren die letzten Worte, die er hörte und sie waren nicht von der echten Nea. Die echte Nea war sonst wo und er konnte nur hoffen, dass Lillian und sie eines Tages zueinander finden würden. Lillian, seine wunderbare, wunderbare Tochter, hoffentlich schafft sie es . . . hoffentlich . . . Das Schicksal holte ihn binnen einer Sekunde ein. Seine Zeit war abgelaufen. Er, Lillians Vater, der ihr noch vor Minuten seine Kräfte übertragen hatte, starb. Lillian konnte nun die fünf großen Elemente beherrschen. Sie und noch zwei andere Menschen waren fähig dies zu tun. Es bringt eine ungeheuerliche Macht mit sich. Und mit der Macht die Verantwortung. Dutzende Gefahren werden auf Lillian Marie Evans zukommen und viele Jahre würden vergehen. Es gab einige Prophezeiungen, die von einem unglücklichen Tod redeten, doch 10 Lillians Vater glaubte an sie, er glaubte, dass die Hoffnung noch nicht gestorben war. Er glaubte das Lillian alles schaffen konnte, Tag für Tag, Stunde für Stunde. Er seufzte und schloss seine Augen, dann starb er und eisige Kälte kroch seinen Rücken empor. Ein neues Leben Acht Jahre waren vergangen, seitdem Lillians Vater gestorben war und Tante Birgit ihr erklärt hatte, dass bei ihnen ihr neues Zuhause sei. Damals sei Lillian – laut Tante Birgit – für eine Woche bei ihnen zu Besuch gewesen und am vierten Tag hatte die Polizei geklopft und ihnen mitgeteilt, dass ihr Vater Tod aufgefunden wurde. Es hieß er sei an einem Herzinfarkt gestorben. Lillian wusste nicht, ob sie diese Geschichte glauben sollte, wenn sie versuchte sich an den Tag zu erinnern, an dem sie ihren Vater das letzte Mal gesehen hatte, konnte sie nur einen weißen, undurchdringlichen Nebel vor ihrem inneren Auge sehen. Schon öfters lag sie deswegen wach im Bett, schon so oft hatte sie 11 versucht herauszufinden was die letzten Worte waren, die ihr Vater damals zu ihr gesagt hatte. Einmal hatte sie die Worte von ihm hören können, sie waren durch den Nebel hindurchgekrochen, wie ein einzelner Lichtstrahl, der es geschafft hatte den Himmel zu erreichen. >> Nichts. Nichts ist los. Alles ist gut. Ich liebe dich, mein Schatz<< Das waren seine Worte gewesen, keine Erinnerung mit einem Bild war damals zu ihr hervorgedrungen, es waren nur diese Worte gewesen. Lillian hatte schon mehr als eine Träne wegen ihrem Vater vergossen, meistens war es Tante Birgit gewesen, die sie getrocknet hatte, doch nicht immer. Manchmal lag sie in ihrem Zimmer, fühlte sich so verloren und wünschte sich wenigstens noch ein einziges Mal mit ihrem Vater reden zu können. Doch das war nicht möglich. Sie wusste, dass niemand in diesem Haus ihr jemals die Wahrheit über den Tod ihres Vaters erzählen würde, sie hoffte nur, dass sie irgendwann mal herausfinden würde warum er gestorben war, wie auch immer sie es schaffen sollte, irgendwann würde sie es wissen, das spürte sie. Lillian seufzte, raufte sich durch die Haare und sank auf den flauschigen Teppich auf dem Boden in ihrem Zimmer. 12 Tante Birgit und Onkel Manius hatten sich am Anfang wirklich die größte Mühe gegeben, damit sie sich wie zu Hause fühlte, als hätte sich nichts geändert, doch das war ihnen nie gelungen und irgendwann hatten sie es einfach aufgegeben. Lillian hatte immer das Gefühl eine Fremde im Haus zu sein, als würde sie nicht dazu gehören. Gespräche verstummten, wenn sie ins Zimmer kam und wenn sie eine Frage stellte, die ihre Mutter oder ihren Vater betraf, wurde das Thema gewechselt. – Lillian hatte ihre leibliche Mutter nie kennengelernt, diese Tatsache hielt sie mindestens genauso oft wach, wie die, dass ihr Vater gestorben war, als sie gerade mal neun Jahre alt gewesen war. Vor allem Onkel Manius, der Mann von Tante Birgit, konnte sie nicht ausstehen, es war als gäbe er ihr die Schuld daran, das ihr Vater tot war und nun bei ihnen lebte. Was würde Lillian dafür geben einfach irgendwo anders leben zu können, was würde sie dafür geben neu starten zu können – irgendwo wo sie keiner kannte, wo sie neu anfangen konnte. Irgendwo, wo sie herausfinden konnte, wer ihre Mutter war und ob sie Tanten oder Onkel hatte, von denen sie bisher noch nichts wusste. Erneut raufte Lillian sich durch die Haare. Sie starrte auf die weißbestrichene Wand. Sie war kahl, kein einziges Foto hing daran. Aber sie konnte hier nicht weg – noch nicht. Sie war seit zehn Tagen 17 Jahre alt, noch ein Jahr musste sie hier verharren, dann konnte sie weg, in eine andere Stadt ziehen, neu 13 anfangen. Sie lächelte bei dem Gedanken. Das waren wunderbare Aussichten. >>Lillian?<< Es war die Stimme von Tante Birgit. Sie stand vermutlich auf der Treppe und rief zu ihr hoch – so wie immer >>Lillian, wir haben alle Hunger und wollen jetzt essen gehen, na komm schon, alle warten auf dich!<< Sie stöhnte auf, das hatte sie total vergessen! Heute war der 27. September, der Tag, als sich Onkel Manius und Tante Birgit zum ersten Mal getroffen hatten und seitdem die beiden verheiratet waren, wurde dieser Tag immer in dem gleichen Restaurant gefeiert und Tante Birgit und Onkel Manius aßen immer dasselbe, genauso wie sie und ihre Cousins Viktor und Josie. Es war eine ewig dauernde Tradition, die niemals gebrochen wurde. >>Ich komme gleich<< antwortete Lillian, stand auf, schnappte sich die Weste, die auf ihrem Schreibtischstuhl lag und überprüfte noch kurz ihr Aussehen, bevor sie die Treppe hinunterging. Unten angekommen, sah sie, dass alle schon im Auto warteten. Lillian wollte gerade zu ihnen laufen, als sie ein miauen hörte. Sie sah auf den Bordstein hinunter, dort saß die Katze Blacky und faulenzte während sie die untergehende Sonne genoss. Tante Birgit hatte bereits drei Katzen, alle hatte sie aus einem Tierlabor gerettet in dem Versuche zu neuen Kosmetikprodukten durchgeführt wurden. Tante Birgit war eine willensstarke Tierschutzanwältin und 14 von der Annahme überzeugt, dass wenn es die Menschen nicht gäbe, kein Tier so leiden müsse, wie heute. Womit sie bestimmt auch Recht hatte, überlegte sich Lillian und lief zum Wagen. Mit Blacky hatte alles angefangen, als sie gerettet wurde, packte Tante Birgit das Gerechtigkeitsfieber und es folgten zwei neue Katzen. Danach wurden noch unendlich weitere Tiere gerettet, doch für diese hatte man bis jetzt jedes Mal erfolgreich ein anderes Zuhause gefunden. Kurz nachdem Blacky gerettet wurde, kam Lillian zu ihrem sogenannten „neuem Zuhause“, die zutrauliche Katze war damals ihre einzige Freundin und Verbündete gewesen. Nach Blacky kamen noch Flocke und Molly, die beiden Katzen waren scheu und fauchten, wenn Lillian ihnen zu nahe kam. Lillian seufzte leise, dann setzte sie sich in den silbernen Wagen, in dem die anderen schon ungeduldig auf sie warteten. Sie schloss die Tür und als Onkel Manius den Motor startete, schnallte sie sich schnell an. Wortlos lenkte er aus dem Parkplatz vor dem Haus heraus und bog auf die offene Straße zu. Links neben Lillian saß Josie und ebenfalls links von ihr saß Viktor. Josie und Viktor waren etwas Verrückt, aber liebenswert. Die beiden waren Zwillinge und doch so unterschiedlich, dass man nicht glauben konnte, dass sie Geschwister waren. Viktor war eher der unauffälligere Typ, er hatte strohblondes Haar und ein feingeschnittenes 15 Gesicht, er war drahtig gebaut, doch er hatte schon große Pläne: er wollte später seiner Mutter gleichkommen und Anwalt werden, immer wenn er Tante Birgit sagte, dass sie schon mal für ihn ein Praktikumsplatz freihalten solle, antwortete sie immer das gleiche. Sie sagte ihm immer, dass er sich selber einen Praktikumsplatz heraussuchen solle und erst einmal Jura studieren müsse, davor würde sie ihm keine Stelle, für gar nichts freihalten. Tante Birgit war sehr, sehr stolz auf ihren Arbeitsplatz. >>Dort werden nur die Besten, der Besten herausgesucht<< profitierte sie immer, dabei funkelten ihre Augen jedes Mal vor Stolz. Josie war das komplette Gegenteil von ihrem Zwillingsbruder, sie tat was ihr gefiel, war schrill und rebellisch. Josie hing immer noch dem lächerlichen Kindheitstraum nach, dass eines Tages ein Regisseur die Straße entlang laufen würde und nach einem hübschen Mädchen wie ihr suchen würde. Damit dieser Traum irgendwann einmal zu Realität wurde, folgte Josie gierig den neusten Trends. Sie ließ sich ihre Haare in den unterschiedlichsten Farben tönen und las ein Magazin nach dem anderem, dass ihr den nächsten Trend zeigte. Das Haare färben bei Josie hatte ganz harmlos mit ein oder zwei Strähnen angefangen, dann war es langsam zu einer Art Sucht herangewachsen. Die Naturhaarfarbe von ihr war Lillian unbekannt, schon 16 seit sie denken kann färbt ihre Cousine sie in den schrillsten Farben. Zurzeit hatte Josie lila Haare, eigentlich wollte sie grasgrüne haben, doch ihre Frisörin weigerte sich stets die Haare so zu färben. >>Irgendwo muss es eine Grenze geben, Liebes!<< waren die Worte von ihr gewesen. Josie war bei diesen Neuigkeiten beinahe ausgerastet und da es ihr von Tante Birgit verboten wurde sich selbst die Haare zu färben, musste sie eben eine andere Farbe wählen (die Frisörin hatte auch bei ihrem Look mit den blonden Haaren stark protestiert, doch als Josie beschlossen hatte erst den Laden mit einer neuen Frisur nach ihrem Geschmack zu verlassen, hatte sie schließlich nachgegeben). Es kam sehr oft zu Streitereien zwischen Lillian, Josie und Viktor, es kam sogar so oft vor, dass es schon zur Tagesordnung gehörte sich in der Küche oder im Wohnzimmer anzuschreien. Doch das Schlimmste war nicht, dass Viktor von Tante Birgit und Onkel Manius bevorzugt wurde, das Schlimmste war nicht, dass Josie morgens im Bad eine gefühlte Ewigkeit brauchte. Das Schlimmste war das Gefühl kein Zuhause zu haben, nirgendwo hinzugehören. Lillians Blick schweifte im Auto umher und blieb an Onkel Manius heften. Ihr Onkel sah genauso aus wie Viktor, er hatte helles, zotteliges Haar und eine 17 tiefe, raue Stimme. Seine Augenbrauen waren buschig und verbargen seine tief sitzenden, dunklen, gehässigen Augen. Onkel Manius war der einzige in der Familie, der keine so große Karriere hatte, oder sie plante. Er arbeitete schlicht und einfach im Baumarkt und half einfach dort, wo er konnte oder dort wo Hilfe benötigt wurde, was wie Lillian glaubte, so gut wie nie vorkam, denn immer, wenn sie nach Hause kam, war Onkel Manius auch da. Schon öfters hatte sie daran gedacht Schule zu schwänzen, um zu sehen ob er überhaupt arbeitete, doch sie wollte sich lieber gar nicht ausmalen welche Strafe auf sie zukommen würde, wenn sie das tun würde. Ruckartig wurde der Wagen in die Kurve gelenkt, in den Hof der Gaststätte „Der goldene Engel“. Lillian, Josie, Viktor, Tante Birgit und Onkel Manius setzten sich an den immer gleichen Tisch, den sie vorher reserviert hatten und schauten in die immer gleiche Speisekarte mit den immer gleichen Gerichten. >>Der Biergarten sieht noch genauso aus wie damals<< schwärmte Tante Birgit und Lillian sah von der Karte auf. Über den unzähligen Essenstischen waren große Sonnenschirme aufgespannt, obwohl das gar nicht notwendig war, die Sonne war schon lange hinter der großen Buche verschwunden. 18 >>Es ist wirklich wunderschön hier<< bestätigte Onkel Manius und Lillian verdrehte die Augen. Alles sah genauso aus wie damals, als sie das erste Mal die Gaststätte betreten hatte. Die weißen Büsche, die am Eingang blühten, waren unverändert. Der rot ausgelegte Boden draußen, war wie immer makellos sauber. Der Schatten von der untergehenden Sonne breitete sich über die Tische aus, wie üblich, und die wasserstoffblonde Kellnerin stöckelte zu ihnen – genau so, wie immer. >>Möchten Sie etwas zu trinken, oder soll ich später wieder kommen?<< fragte die junge Frau und klimperte verführerisch mit ihren langen Wimpern. >>Na, was meint ihr Kinder?<< fragte Onkel Manius, doch er wartete auf keine Antwort – so wie immer >>Ich nehme ein Hefe Weizen und die Pizza mit Chili<< Die Bedienung ging nach und nach die Bestellung durch, alle bestellten das, was sie jedes Jahr nahmen – ansonsten würden sie die Tradition ruinieren. Lillian bestellte Pasta mit Soße und ein Glas Cola. Als die Kellnerin wieder verschwunden war, fragte Tante Birgit etwas in die Runde, doch Lillian bekam nichts von dem Gesprächsthema mit. Die Routine ödete sie an, manchmal war sie kurz davor einfach wegzulaufen – für immer. 19 Sie atmete leise durch. Nur noch ein Jahr . . . ein endloses Jahr, dann konnte sie hier weg, dann war sie endlich 18 und durfte ihre eigenen Entscheidungen treffen. Sie hielt sich an diesen Gedanken fest und redete sich ein, dass das Jahr nur noch eine kleine Hürde war, die es zu überwinden galt. >>Lillian<< sagte Tante Birgit urplötzlich und sie schreckte hoch >>Ich hab dich gerade eben etwas gefragt<< Sie blickte fragend in die Runde, in der Hoffnung dass ihr jemand sagte, über was sie gerade gesprochen hatten, doch alle waren verstummt. >>Ähm . . . ich hab die Frage nicht verstanden<< erwiderte sie trocken. Tante Birgit verdrehte genervt ihre Augen. >>Schreibst du Morgen oder die darauf folgende Woche eine Klausur oder so?<< Lillian schüttelte teilnahmslos den Kopf. >>Okay, und du Josie?<< >>Nein Mum, wie oft denn noch?<< Lachte sie und ihre bunten Haare schwangen umher >>Mum, ich hab letztens eine sehr gute Note geschrieben, erinnerst du dich? Naja, was würdest du davon halten, wenn ich – << 20 >>Nein<< unterbrach Tante Birgit sie streng >>Du bekommst keinen Bauchnabelpiercing. Ausgeschlossen<< >>Aber ich bezahle doch!<< jammerte Josie und schmollte. >>Rede mit deiner Frisörin, vielleicht macht sie dir ein paar grüne Strähnchen, aber mehr ist auch nicht drin<< >>Das ergibt keinen Sinn! Ich kriege bunte Haare, aber keinen Piercing! Das ist so unfair!<< >>Deine Haare kannst du so oft färben wie du willst<< sagte Tante Birgit und lächelte leicht >>Aber die Spuren von einem Piercing bleiben ewig!<< Viktor wollte sich einmischen, doch die Kellnerin kam mit dem Essen hergeeilt und überreichte jedem von ihnen einen Teller. Lillian bedankte sich höflich und begann zu Essen. Sie hörte wie das Gesprächsthema umgelenkt wurde, doch sie konzentrierte sich einzig und allein auf ihr Essen. Nach einer Weile sagte niemand mehr ein Wort und alle aßen schweigend weiter. Die Sonne sank immer tiefer und ein kühler Wind rauschte an ihnen vorbei und erfrischte die lauwarme Abendluft. Zügig gingen sie wieder nach Hause, doch Lillian beschloss gleich ins Bett zu gehen. Normalerweise ging sie nie so früh schlafen, doch nach dem Essen gab es immer noch einen Spielabend und Lillian hatte keine Lust auf die gefühlte stundenlange 21 Diskussion, wer denn anfangen solle. Sie wusste, dass sie somit die jährliche Tradition brechen würde, doch das war ihr egal. Vermutlich würde es ihnen nicht einmal auffallen, dass sie nicht da war. 22
© Copyright 2024 ExpyDoc