Lernreisen – ein Vorschlag für die Lehramtsausbildung

Jacob Erichsen
Lernreisen – ein Vorschlag für die Lehramtsausbildung
Zusammenfassung: Das studentische Projekt ‘Lernreise‘ ist ein Vorschlag für die
Erweiterung der Lehramtsausbildung. Die Idee des Projektes ist es, Studierende auf eine
zweiwöchige Reise zu ‘guten Schulen‘ zu bringen und somit eine praxisnahe
Auseinandersetzung mit Schulqualität und Schulentwicklung anzuregen. Das Format richtet
seinen Blick auf das Gelingende in der deutschen Schullandschaft und möchte aufzeigen,
an welchen Stellschrauben Lehrende ansetzen können, um Schule aktiv mit zu gestalten. In
diesem Format rückt die ‘gute Einzelschule‘ in den Fokus der Aufmerksamkeit.
Schlüsselworte: Lehrerbildung, Lehramt, Schulqualität, Schulentwicklung, gute Schule
Lernreisen – suggesting a new format for teacher education
Abstract: ‚Lernreise‘ is a student project that suggests a new teaching format for teacher
education. Its aim is to bring teaching students on a field trip through Germany to visit
successful schools and award-winning best-practice projects in the educational field.
Students research on characteristics of ‘good schools’ and conditions for successful
learning. The format focusses on measures for bottom-up school development and on how
teachers can support them actively. In this format teaching students take a closer look on
individual schools and their respective cultures of practice which is not common in german
teacher education.
Keywords: teaching students, school qualitiy, teacher education, school development, good
school
Studierende machen sich auf den Weg, die besten Schulen Deutschlands zu besuchen.
Sie wollen wissen, wie die Schulen arbeiten, die besonders gute und zeitgemäße Antworten
auf aktuelle gesellschaftliche Herausforderungen finden. Sie suchen nach gelingenden
Praxisbeispielen und erfolgreichen Ideen der Schulgestaltung. Dabei sind sie überzeugt,
dass positive Beispiele keine isolierten ‚Leuchtturmprojekte’ bleiben sollten. Das Format
‘Lernreise’ als Erweiterung der Lehramtsausbildung verbindet Theoriebezug, Praxiseinblicke
und gelebte Teamarbeit zu einem interessanten Angebot an die Studierenden.
An der Humboldt-Universität zu Berlin wurde im Wintersemester 2014/2015 erstmals das
Seminarformat Lernreise durchgeführt. Im Kern ist es eine zweiwöchige Reise durch
Deutschland, auf der sechs ‘gute Schulen’ besucht werden. Die Fragen danach, was eine
‘gute Schule’ kennzeichnet, wie sie sich entwickelt hat und was wir von ihr lernen können,
stehen im Zentrum des von Studierenden entwickelten Formats.
Der vorliegende Beitrag möchte 1.) von diesen Reisen und der dahinterstehenden Idee
berichten, 2.) aus schultheoretischer und schulpolitischer Perspektive für den Blick auf die
Einzelschule argumentieren, 3.) über das Lehramt als gestaltenden Beruf sprechen und 4.)
einen abschließenden Ausblick wagen.
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1.
Von der Idee zu reisen und ihrer Umsetzung
15 Studierende reisen gemeinsam für zwei Wochen durch Deutschland, um ‚guten Schulen’
zu begegnen. Unterwegs erleben sie unterschiedliche Schulkonzepte in Anwendung, führen
intensive Gespräche mit Akteuren vor Ort und diskutieren immer wieder angeregt
untereinander. Dies alles, um einer Antwort auf die Frage nach der ‚guten Schule’ näher zu
kommen. Ein pragmatischer Fokus liegt dabei auf den möglichen Stellschrauben im System,
die eine gewöhnliche von einer ausgezeichneten Schule unterscheiden und an denen
angesetzt werden kann, um Schulentwicklung aktiv mit zu gestalten.
Die Fragen der Studierenden zielen mal ganz pragmatisch auf arbeitsorganisatorische Details wie die intelligente Verteilung von Verantwortlichkeiten im
Lehrerteam, den Umgang mit Stundenbudgets oder das Mobiliar eines Klassenzimmers. Mal
ergründen sie eher biographische Aspekte der Entwicklung der Schule von innen heraus
oder hinterfragen die Bedeutung der Persönlichkeit einer Schulleitung und ihren Umgang mit
‚schlechten’ Lehrerinnen und Lehrern. Es geht genauso um die Rolle bildungspolitischer
Steuerung für die Entwicklung von Einzelschulen wie um die Chancen und Grenzen von
Schülerpartizipation. Zwar können nicht alle diese Fragen zufriedenstellend geklärt werden,
aber die Breite und Komplexität der Zusammenhänge wird hinlänglich sichtbar. Dabei dienen
ausgiebige formalisierte Reflexionsgespräche mit der Reisegruppe genauso zu Vertiefung
wie informelle Gespräche auf einer Autofahrt.
Die Idee zur Reise entstand vor dem Hintergrund einer gewissen Unzufriedenheit mit
der Verknüpfung von Theorie und Praxis in der universitären Lehramtsausbildung, welche
den studentischen Ansprüchen häufig nicht gerecht wird.
Der formulierte Anspruch lässt sich wie folgt zusammenfassen: Wenn es in
Deutschland Lernorte gibt, an denen in der Breite und an der Spitze erfolgreich gelernt wird,
an denen Schulangst kein Thema und die Quote der Abbrecher und Abbrecherinnen niedrig
ist, an denen selbstbewusste, kritisch denkende Jugendliche und zufriedene Erwachsene an
einem gemeinsamen Ziel arbeiten, dann möchten wir wissen, wie das funktioniert.
Die Idee der Reise ist es, den Blick auf das Gelingende vor der eigenen Haustür zu
richten und von diesen positiven Vorbildern zu lernen. Wird die Schule in der Universität
thematisiert, geschieht dies häufig auf der ungreifbaren Ebene von Bildungssystemen („in
Finnland machen sie es so und so…“), in den Höhen von abstrakten Theorien
(„funktionalistisch argumentiert kommen der Schule folgende Funktionen zu…“) oder auf der
handwerklichen Mikroebene von Unterricht und Didaktik („Bruchrechnung vermitteln wir am
besten, indem wir…“).
Dies ist alles gut, richtig und wichtig, aber dennoch nicht genug. Schule ist mehr als
Unterricht und mehr als Theorie. 41% der jungen Lehrkräfte geben an, im Studium nicht
ausreichend auf die umfassenden Anforderungen des Schulalltags vorbereitet worden zu
sein (vgl. Vodafone-Stiftung, 2012). Aspekte wie Teamarbeit, strukturelle Verankerung von
individueller Förderung oder Inklusion, Kommunikation, Elternarbeit und intelligente
Organisation werden nur unzureichend thematisiert.
Alle diese Faktoren tragen aber zu einer gelingenden Schule bei. Durch die Lernreise kann
praxisnah aufgezeigt werden, wie all diese Aspekte zu einer gelingenden Schule beitragen.
Was aber ist dieses Besondere, mit dem die Studierenden auf der Lernreise konfrontiert
werden und was in der Universität nicht thematisiert wird? Warum lohnt es, tatsächlich zu
diesen Schulen hin zu fahren? Die folgenden Beispiele sollen verdeutlichen, was vor Ort
geschieht und welche Einblicke eine Lernreise gewähren kann:
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
Auf den Lernreisen haben wir Schulen gesehen, in denen Lehrerinnen und Lehrer
ganz selbstverständlich von der letzten Klausurtagung erzählen, auf der das
Kollegium gemeinsam mit Schülerinnen und Schülern ein Wochenende zum Thema
Schulentwicklung gearbeitet hat.

Schulen haben uns Beispiele gegeben, wie sie es schaffen, bürokratischen Aufwand
von einzelnen Lehrpersonen abzuhalten, damit sich diese ihrer Kernaufgabe widmen
können. Z.B. indem sie ‘Kleinteams‘ bilden, die recht autonom entscheiden können
und sich unabhängig vom Gesamtkollegium organisieren und austauschen.
Vertretungen der Kleinteams kommen dann wiederum mit der Schulleitung und den
Vertretungen der anderen Teams zusammen, so dass nicht alle an allem teilhaben
müssen.

Wir haben lebendige Beispiele für eine funktionierende Evaluations- und
Reflexionskultur erlebt – Schulen, die den abstrakten Begriff der ‚lernenden
Institution‘ anschaulich mit Leben gefüllt haben. An denen kollegiale Hospitationen
selbstverständlich sind, regelmäßig kollegiale Fallberatungen stattfinden und
gemeinsam am Schulkonzept gearbeitet wird. An denen es eine funktionierende
Infrastruktur gibt, um gemeinsam Unterrichtsvorbereitung und Durchführung zu
planen oder an denen Lehrerinnen und Lehrer vom Unterricht freigestellt werden, um
andere Schulen zu besuchen. Diese Schulen schafften es, hierfür Räume und
Zeitbudgets bereit zu stellen.

Wir sahen Gymnasien, an denen Tanz als non-verbale Sprache zum Unterrichtsfach
erhoben wurde, um Geflüchtete besser zu integrieren. Besondere Erfolge feiert
dieses Konzept in Kombination mit der Tatsache, dass Geflüchtete dort eben nicht in
den gängigen ‘Willkommensklassen‘ konzentriert werden, sondern sich auf normale
Klassen verteilen und anders organisierte Sprachförderung erhalten.

Wir konnten mit Schulleitungen Gespräche über Strategien im Umgang mit
‚schlechten‘ Lehrerinnen und Lehrern führen.

Wir haben gesehen, wie es strukturell verankert werden kann, dass Lernen als
gemeinsame Mission begriffen und Individualität geachtet wird. Schülerinnen und
Schülern wurde dabei Verantwortung für die Schulgemeinschaft und das eigene
Lernen übertragen. Binnendifferenzierende Lern- und Unterrichtsformen sind etabliert
– sie lassen den Lernenden Wahlmöglichkeiten: mit wem, wann, was und wie.
Strukturell sind dabei langfristige Beziehungen vorgesehen, die verhindern, dass
Personen wegsortiert werden, und gewährleisten, dass Probleme gemeinsam gelöst
werden.

Wir haben Schulen besucht an denen sich die Architektur an pädagogischen
Gedanken orientiert. Der Raum als dritte Pädagoge wurde so anschaulich
thematisiert. Durch Schulen, die extra Gebäude für die Oberstufe eingerichtet haben,
oder Schulen in denen die Schülerinnen und Schüler durch kluge Raumplanung ihre
eigenen Bereiche haben, für die sie dann auch voll und ganz verantwortlich sind.
Andere Ideen waren sogenannte ‘Lernnischen‘, gläsernde Lehrerzimmer oder
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Whiteboard-Trennwände.

Wir sprachen mit Kollegien, die sich ihre eigene Schulleitung für eine begrenzte
Amtszeit von 4 Jahren demokratisch aus ihrer eigenen Mitte heraus wählen.

Wir haben eine Schule gesehen, die in der gemeinnützigen Aktiengesellschaft ihre
Rechtsform gefunden hat. Damit war ein Dach gefunden für verschiedenste
Institutionen, die in Symbiose unter diesem Dach zusammen arbeiten. Neben der
Schule mit dabei: ein Kindergarten, eine Schule für Erzieherinnen und Erzieher, ein
Zirkus und demnächst vielleicht ein Altenheim.

Wir haben Schulen getroffen, die Lehrerstellen kapitalisieren, um finanziellen
Handlungsspielräume zu gewinnen. So konnten sie beispielsweise professionelle
Workshops in Theaterpädagogik anbieten oder ältere Schülerinnen und Schüler
entlohnen, die schulinternen Nachhilfeunterricht geben. Anschließend entspann sich
eine spannende Diskussion zum Thema Finanzautonomie für Schulen, an welche
sich interessante Fragen zur Einstellungs- und Gestaltungsautonomie anschlossen.
Bisher wurden im Rahmen von fünf Reisen knapp 30 zumeist ausgezeichnete Schulen
besucht: Von freien, demokratischen Schule ganz ohne verpflichtende Unterrichtsangebote
über radikal inklusive Grundschulen1, über klassisch anmutende Gymnasien bis hin zu
Internaten, die sich auf die sprichwörtliche Fahne geschrieben haben, Menschen
hervorzubringen, die globalen Wandel herbeiführen sollen und können.
Bei den Besuchen zeigte sich uns das, was schwer in Worte zu fassen ist und was erst
dann auf uns wirkt, wenn wir ihm unmittelbar begegnen und mit ihm konfrontiert werden.
Das, was in Texten und Vorlesungen oft als leere Worthülle daherkommt, ergreift uns in der
direkten Konfrontation.
Es geht um Haltung, Atmosphäre und Kultur. Um das, was eine Schule zu einem
passiven oder aktiven Ort macht. Auf der Lernreise kann gesehen werden, wie sich diese
abstrakten Konzepte, die natürlich schon immer wichtig und bekannt waren, in Strukturen
und Handlungen niederschlagen und wie unterschiedlich ihre Umsetzungen sein können. Es
geht um die Details, die eine gewöhnliche Schule von einer ‚guten Schule’ unterscheiden.
Zwischenfrage: Wie beeinflussen diese Erlebnisse die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der
Reise?
Während der Reise erlebten Studierende, wie es möglich ist, Schule zu gestalten und zu
verändern. Wir haben Schulen besucht, die auch unter widrigen Bedingungen Außergewöhnliches leisten, und wir haben Einblicke in die Schwierigkeiten und Lösungswege der
Einzelschulen erhalten. Der intensive Austausch mit Akteuren machte Handlungsspielräume
und Stellschrauben für Schulpraxis und Schulentwicklung sichtbar. Diese Erfahrungen
können einerseits vor Schulfatalismus und andererseits vor naivem pädagogischen
1
Mir ist die Paradoxie dieser Aussage bewusst. Inklusion ist nie radikal. Entweder gibt es sie oder es
gibt sie nicht. Ein bisschen Inklusion gibt es nicht. Dennoch betreiben viele Schulen ein bisschen
Inklusion. Deshalb nutze ich diese Aussage.
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Idealismus schützen. Im Idealfall hinterlassen sie ein positives und zugleich realistisches
Gefühl hinsichtlich des eigenen Berufseinstiegs.
Das Format der Lernreise lebt von den Gruppenerfahrungen und der gemeinsamen Frage
nach der ‘guten Schule‘. Nicht zuletzt aber auch von den Beteiligten, die Lust haben, über
den eigenen Tellerrand zu schauen, die ihr eigenes Lernen auf der Reise gestalten und
organisatorische Aufgaben übernehmen.
Dies sind letztlich auch Ansprüche des späteren Berufslebens, wenn es darum geht, die
eigenen Kompetenzen weiterzuentwickeln, Denk- und Handlungsspielräume zu erweitern
und sich an der Schulentwicklung zu beteiligen.
Neben dem Reisen selbst besteht das Lernreise-Format aus einem Vorbereitungsseminar, welches über ein Semester hinweg stattfindet. In diesem Seminar wird sich zum
einen mit theoretischen Fragen rund um Schulqualität und Beobachtungstheorie
auseinandergesetzt. Zum anderen wird die Reise geplant. Die hiermit verbundene
Auseinandersetzung mit der Schullandschaft („Was gibt es überhaupt und was davon finde
ich interessant?“) stellt dabei ein wesentliches Element des Formates dar. Theoretisches
Wissen ist dabei eine wichtige Voraussetzung, um aus der Praxis lernen zu können. Die
Praxiseinblicke bieten wiederum Anlässe zur theoretischen Auseinandersetzung. Die
intensive Auseinandersetzung mit schulischen ‘Leuchtturmprojekten’ im Rahmen einer
Lernreise ermöglicht einen Brückenschlag zwischen Theorie und Praxis der Schulgestaltung.
Ein exemplarischer Hospitationstag besteht aus einer Begrüßung mit grundlegenden
Erläuterungen zur Schule, ihrer Geschichte und ihren Besonderheiten. Häufig findet ein
geführter Rundgang durch die Schule statt. Im Laufe des Vormittags wird für einige Stunden
im Unterricht hospitiert. Gespräche mit Schülerinnen, Schülern, Lehrerinnen und Lehrern
finden, in unterschiedlichsten Settings, im Anschluss statt. Ein ausführliches
Auswertungsgespräch mit Personen aus der Schulleitung runden den Tag ab. Die
Studierenden gehen dabei individuellen Interessenschwerpunkten nach. Erfahrungsgemäß
dauert ein Hospitationstag, je nach Schule, zwischen fünf und zehn Stunden. Im Anschluss
wird die Hospitation in einem formalisierten Prozess ausgewertet, welcher zum einem dafür
sorgt, dass die individuellen Eindrücke und Beobachtungen ihren Weg in die Gesamtgruppe
finden und zum anderen weiterführende Diskussion anstößt. In diesem Modus lassen sich
Erkenntnisse aus der Gruppe zu verschiedensten Aspekten der Schule sammeln und
verbinden.
Im Wintersemester 2015/2016 begeben sich vier Gruppen auf Lernreise. Zwei an der
Humboldt-Universität, eine an der Freien Universität Berlin und eine an der Universität
Potsdam.
2.
Die (gute) Einzelschule als Studienobjekt
Die Frage nach der gelingenden Schule blickt zwar auf eine lange Tradition in der
erziehungswissenschaftlichen Forschung zurück, in der Lehramtsausbildung jedoch fehlt es
bisher häufig an einer systematischen Auseinandersetzung mit der Frage nach der ‚guten
Schule‘. Fachdidaktische, sowie konkret unterrichtspraktische Aspekte stehen im
Vordergrund. Dabei wird das weithin gängige Konzept von Schule und Unterricht
unzureichend hinterfragt. Die Einzelschule spielt als Forschungsgegenstand nur eine
untergeordnete Rolle. Der Anspruch, Schule als Wirkungsgefüge und Handlungseinheit zu
verstehen, wird an angehende Lehrerinnen und Lehrer in der universitären Ausbildung nicht
(mehr?) gestellt. Es mag ein der Wissenschaft immanentes Phänomen sein, eher zu
kritisieren, als nach dem ‚Guten‘ zu fragen, dennoch lohnt es, aus verschiedenen Gründen,
der ‚guten Einzelschule’ nach zu spüren.
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In schultheoretischer und schulpolitischer Perspektive rückte die Einzelschule in den
vergangenen Jahren zunehmend in den Fokus der Aufmerksamkeit.
Helmut Fend beschreibt das klassische Modell der Schulgestaltung wie folgt: „Das
Konzept der Schulgestaltung hatte bis vor wenigen Jahren noch eine klare und einfache
Form. Politik und Verwaltung sollten danach die staatlichen Rahmenbedingungen vorgeben
und die Lehrpersonen diese pädagogisch im Unterricht umsetzen“ (Fend 2005, 145). Die
folgende Abbildung von Helmut Fend illustriert dies schematisch.
Abb. 1: Klassisches Model der Schulgestaltung nach Helmut Fend
Die Auseinandersetzung mit Schule auf der Makroebene ist dabei abstrakt und
lebensfern, gerichtet auf eine imaginäre Durchschnittsschule. Sie ist Schule auf dem Papier
– in der Ferne von Ministerien und Behörden. Anschauliche Realität ist sie nicht.
Schulgestaltung ist hier möglich, ohne die lokalen Bedingungen zu kennen oder je einer
Schülerin oder einem Schüler begegnet zu sein.
Wer mehr als zwei Schulen kennt, wird jedoch wissen, wie unterschiedlich diese Orte sein
können. Entsprechend muss es also etwas geben, was erst auf Ebene der Einzelschule
gestaltet werden kann.
In der aktuellen Entwicklung des Bildungssystems und der Schultheorie wird die
Gestaltungsaufgabe zunehmend auf die Ebene der Einzelschule verlagert (vgl. Fend 2008,
147f.). Die staatlichen Rahmenvorgaben haben sich verändert und sehen nun vor, dass die
einzelnen Schulen mehr in Eigenregie gestalten sollen. Dies bedeutet auch, dass die
Gesamtverantwortung für das Bildungswesen neu verteilt wird und ein großer Teil der
Verantwortung nun auf Ebene der Einzelschule angesiedelt ist.
Die Schule wird hier als pädagogische Handlungseinheit verstanden (vgl. Fend 2008,
146f.) Dies meint zum einen, dass Schulen die Aufgabe haben, den ‚Masterplan‘ der
Makroebene zu rekontextualisieren, ihn also auf die ihr anvertraute Schülerschaft, die
dahinterstehende Elternschaft und die ökonomischen und räumlichen Bedingungen
anzupassen. In der Tat treffen Schulen somit auf sehr unterschiedliche Handlungsbedingungen. Das folgende, von Helmut Fend entwickelte Schema illustriert diesen Blick auf
die Einzelschule.
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Abb. 2: Handlungsumfelder von Schulen als Verantwortungseinheiten
Schule als pädagogische Handlungseinheit zu verstehen, beinhaltet die Annahme, dass
Schule in ihrer Gesamtheit und über den Unterricht hinaus pädagogisch wirkt. Die
pädagogische Handlungseinheit wird dann als Verantwortungsgemeinschaft verstanden.
(vgl. ebd. 147). Dies setzt einen inhaltlichen Akzent, der die Aufforderung zur Gestaltung
verstärkt. Was bedeutet dies für Lehrpersonen?
Für Lehrpersonen bedeutet dies, dass sie aus ihrer früher leichter möglichen
Beschränkung auf Unterricht herausgeführt und immer stärker in schulweite Verpflichtungen
und Qualitätsentwicklungsprozesse an einer Schule eingebunden werden. Für die
Ausbildung von Lehrkräften hat dies zur Folge, dass die Kenntnis institutioneller
Bedingungen des Lehrerhandelns einen größeren Stellenwert bekommt.
Insgesamt ist unübersehbar, dass die ‚autonome’ Schule zu einem zentralen
Gestaltungsort von Schulqualität wird. Es gehört heute zum Lehrersein mehr dazu, als gut
vorbereitet in eine Schulklasse zu gehen und dort guten Unterricht zu geben. Wir wollen,
dass die Lehrerinnen und Lehrer auf ihre vielfältigen Verantwortungen in einem Lehrberuf
gut vorbereiten sind und die erforderlichen Fähigkeiten entwickeln, Schule mitzugestalten.
Um dies tun zu können, ist Wissen zu pädagogischen Qualitätsstandards auf Schulebene
und zu Gestaltungsinstrumenten erforderlich.
Die Forschung zur Lehramtsausbildung zeigt, dass Berufseinsteiger und
Berufseinsteigerinnen in der Regel so unterrichten, wie sie es selbst während ihrer Schulzeit
erlebt haben (vgl. Hascher 2011, 418). Vermutlich gilt für Aufgaben der Schulgestaltung
Ähnliches. Studierenden scheint es schwer zu fallen, das im Studium erworbene Wissen auf
die eigene Schulpraxis anzuwenden und selbst innovative Wege zu gehen.
Da Lehramtsstudierende in ihrer Schulzeit vielfach eher traditionell ausgerichtete Schulen
kennengelernt haben dürften, die sie dann reproduzieren, gilt es, die aus der eigenen
schulischen Sozialisation entstandenen subjektiven Theorien zum richtigen Lehrersein und
zur Schule zu irritieren und zu unterbrechen. Für dieses Unterfangen eignen sich ‚gute
Schulen’ m.E. nach besser als ‚schlechte Schulen’, obwohl diese gewiss auch irritieren
würden – die Gründe liegen auf der sprichwörtlichen Hand. Aus diesen Überlegungen heraus
wäre es Aufgabe der Lehramtsausbildung, unreflektierte Vor- und Idealbilder systematisch
zu hinterfragen und zu bearbeiten.
Eine Lernreise zu besonders ‚guten Schulen‘ kann hier zum einen die
Auseinandersetzung mit pädagogischen Qualitätsstandards fördern, zum anderen kann sie
Gestaltungsinstrumente sicht- und erfahrbar machen. Bestehende Bilder und subjektive
Theorien zur richtigen Schule können irritiert und unterbrochen werden. Die ‚gute Schule‘
kann durch ihren Vorbildcharakter zu einer Auseinandersetzung und einem Überdenken von
Denk- und Handlungsweisen führen.
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Die Qualitätsfrage auf der Mesoebene vergisst den Fachunterricht nicht, ist diesem aber
zeitlich und logisch vorgeordnet. ‘Gute Schule‘ beinhaltet guten Unterricht. Von gutem
Unterricht lässt sich allerdings nicht auf ‘gute Schule‘ schließen.
3.
Das Lehramt – ein gestaltender Beruf
2004 verabschiedete die Kultusministerkonferenz die ‚Standards für die Lehrerbildung:
Bildungswissenschaften‘, welche für die berufliche Ausbildung und den Berufsalltag als
relevant eingestuft werden. Die vier zentralen Kompetenzbereiche von Lehrenden sind dabei
das Unterrichten, Erziehen, Beurteilen und Innovieren. Lehrende werden dabei nicht als
reine Fachleute für das Lehren und Lernen gezeichnet, die ihr Handwerk, einmal erlernt,
nicht zu erweitern brauchen. Ganz im Gegenteil: die eigene Kompetenzentwicklung und die
Beteiligung an der Schulentwicklung wird zur zentralen Voraussetzung der eigenen
Professionalität.
Wie bereits erwähnt, greift die universitäre Lehramtsausbildung dies nur unzureichend
auf. Die Auseinandersetzung mit den verschiedenen intelligenten Lösungen der Praxis kann
hier helfen, den eigenen Denk-, Innovations- und Handlungsspielraum zu erweitern. Die
Schulen zeigen, dass es möglich ist, Schule gut zu gestalten. Vor allem zeigen sie aber,
dass es möglich ist, Schule unter den hier vorhandenen Bedingungen gut zu gestalten, und
zeigen, dass dies von Einzelpersonen getan wird, die nicht von einem ‚anderen Stern‘
kommen oder außergewöhnliche Kräfte haben. Anders als der Verweis auf pädagogische
Positivbeispiele im Ausland lassen sich diese Beispiele sehr viel schwerer ‚wegwischen‘
(„Ach Finnland, da haben die Schulen viel mehr Geld, da ist die Ausbildung besser, es gibt
weniger Migrationen usw.“)2.
Gute Schule muss gestaltet werden. Hierzu bedarf es, so banal es auch klingen mag,
guter Lehrerinnen und guter Lehrer, die eben dieses tun können. Der Rückgriff auf
Erfahrungen und Beobachtungen kann diese Möglichkeit zu gestalten und zu innovieren
vereinfachen. Das Lehramt erfordert neben pädagogischem und didaktischem Handwerk
Anpassung an sich verändernde Herausforderungen. Grundlage für Handlungen,
gestalterische Intervention und Innovation sind gemachte Beobachtungen3. Das Beobachten
scheint mir eine der unterschätztesten pädagogischen Tätigkeiten zu sein. Nach Sabine Reh
ist es „eine nahliegende Schlussfolgerung, dass eine Ausbildung zur Lehrerin/ zum Lehrer
nicht ohne Einübung ins Beobachten erfolgen kann” (de Boer/Reh 2005, 5). Gleichzeitig
konstatiert Reh hier aber ein “eklatantes Defizit in der Lehrerausbildung” (ebd.). Die
Lernreise kann hier die Tätigkeit des Beobachtens problematisieren und einen Rahmen zum
Üben bieten, da es eine elementare Tätigkeit auf der Reise ist. Wie kann ich erkennen,
welche Faktoren wie zusammenspielen? Welche Faktoren unterscheiden eine gelingende
von einer normalen Schule? Lassen sich Kausalitäten beobachten und beschreiben?
Inwieweit beeinflusst mein Beobachten den Beobachtungsgegenstand selbst?
2
Dieses Argument ist von Jutta Allmendinger entliehen. Sie äußerte diesen Gedanken in einem Gespräch mit
Rainhard Kahl bei der Veranstaltung ‚Theater träumt Schule’ vom Netzwerk ‚Archiv der Zukunft’, 2013 in
München.
3
Ich spreche hier nicht von systematischer Diagnostik, sondern von alltäglicher, aber handlungsleitender
Beobachtung.
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4.
Einen Ausblick wagen
Die Lernreise beantwortet die Frage nach der guten Schule nicht. Das ist auch nicht das Ziel.
Ziel ist es zur Reflexion anzuregen, zu irritieren und damit neue Wege zu bereiten.
Die Lernreise kann einen kleinen Beitrag dazu leisten, dass die Lehrerinnen und Lehrer
auf ihre vielfältigen Verantwortungen in einem Lehrberuf gut vorbereitet sind und die
erforderlichen Fähigkeiten entwickeln, Schule mitzugestalten. Lernreisen ermöglichen einen
Überblick über das, was existiert, und richten den Blick auf das, was sein könnte. Es wird
eine intensive Auseinandersetzung angekurbelt. Zusätzlich unterstützt eine selbstgeplante
Gruppenreise durchaus auch die Entwicklung anderer Kompetenzen: Der Umgang mit
Problemlagen, Kommunikation im Team, Zusammenarbeit und die Organisation des eigenen
Lernens auf der Reise sind elementare Bestandteile des Formates.
Inspiriert von unseren Erfahrungen werden wir weitere Reisegruppen unterstützen und
begleiten, sowie uns dafür einsetzen, dass sich das Format verbreitet, sich weiter entwickelt
und fortbesteht. Herausforderungen, vor denen das Projekt Lernreise steht, finden sich
beispielsweise in der Zusammenarbeit mit Schulen. Wie können auch die Schulen
systematisch von den Besuchen der Studierenden profitieren? Wie können mehr Gruppen
auf Reisen gehen, ohne die Schulen zu überfordern? Wie kann eine Qualitätssicherung
stattfinden?
Unser Wunsch ist, dass sich mehr und mehr Lehramtsstudierende in der vielfältigen Welt
der ‚guten Schulen‘ umzuschauen beginnen. Uns fasziniert die Frage, was wohl wäre, wenn
alle angehenden Lehrerinnen und Lehrer eine solche Reise machen würden? Die Antwort
kennen wir nicht. Einen Versuch ist es wert.
Weiterführende Informationen finden Sie auf www.prinzip-lernreise.de. Einen weiteren
exemplarischen Eindruck können sie über den Podcast „Die Reise zur guten Schule“ auf der
Seite www.kreidestaub.net gewinnen. Auf letzterer sind außerdem zwei Lernreisen mit
Erfahrungsberichten dokumentiert.
Literatur
De Boer, Heike/ Reh Sabine: Beobachten in der Schule – Beobachten lernen. In: dies.
(Hrsg.): Beobachten in der Schule – Beobachten lernen. Wiesbaden, 5 – 9.
Fend, Helmut (2008): Schule gestalten. Systemsteuerung, Schulentwicklung und
Unterrichtsqualität. Wiesbaden.
Hascher, Tina (2011). Forschung zur Wirksamkeit der Lehrerbildung. In: Terhart, Ewald/
Bennewitz, Hedda/ Rothland, Martin (Hrsg.): Handbuch der Forschung zum Lehrerberuf.
Münster, 418 – 440.
Vodafone-Stiftung Deutschland (2012): Lehre(r) in Zeiten der Bildungspanik. Eine Studie
des Lehrerberufes und zur Situation an den Schulen in Deutschland. Düsseldorf.
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Jakob Erichsen
Studiert im dritten Mastersemester Erziehungswissenschaften an der
Humboldt-Universität zu Berlin und ist einer der drei Initiatoren des
Projektes Lernreise. Neben den Themen Schule und Lehramtsausbildung interessiert er sich für die Vergleichende Erziehungswissenschaft sowie für grundlagenreflexive Erziehungs- und Bildungstheorie.
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