Statement Prof. Dr. Wolf-Dieter Ludwig, Vorsitzender der

Statement Prof. Dr. Wolf-Dieter Ludwig, Vorsitzender der Arzneimittelkommission der
deutschen Ärzteschaft,
zur Vorstellung des Innovationsreports 2015 am 9. September 2015 in Berlin
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Die Bilanz des Innovationsreports 2015, der die 19 neuen Wirkstoffe bzw.
Wirkstoffkombinationen aus dem Jahr 2012 bewertet, ist ernüchternd. Bei mehr als der Hälfte
der Wirkstoffe findet sich eine „rote Ampel“, da medikamentöse Alternativen bereits auf dem
Markt zur Verfügung stehen und ein überzeugender, für die Patienten bedeutsamer
therapeutischer Fortschritt nicht erkennbar ist – weder durch die Bewertung im
Innovationsreport noch anhand der frühen Nutzenbewertung im Rahmen des AMNOG.
Dieser Innovationsreport 2015 verdeutlicht somit, dass auch im Jahr 2012 die Auswirkungen
der Produktivitäts- und Innovationskrise in der pharmazeutischen Industrie noch nicht
überwunden waren. Die pharmazeutischen Unternehmer positionieren sich inzwischen
zunehmend in lukrativen Therapiegebieten mit unverändert großem Bedarf an echten
Innovationen, wie beispielsweise der Krebsmedizin, oder aber sie konzentrieren sich auf die
Entwicklung von Arzneimitteln gegen seltene Leiden ("Orphan Drugs"). So sind fünf von
insgesamt 19 neu zugelassenen Wirkstoffen des Jahres 2012 Orphan Drugs und neun der
insgesamt 19 Wirkstoffe, somit knapp 50 Prozent, Krebsmedikamente.
Ein Trend, dass gerade in der Krebsmedizin neue Wirkstoffe als Orphan Drugs und nach
beschleunigten Zulassungsverfahren (von der Europäischen Arzneimittel-Agentur häufig im
Rahmen der sogenannten „conditional marketing authorisation“ und/oder des „accelerated
assessment“) zugelassen werden, ist unverkennbar. Diese beschleunigten
Zulassungsverfahren werden zu Recht kritisiert. Im Rahmen dieser Verfahren werden bei
Zulassung neuer Wirkstoffe die Anforderungen an die Erkenntnisse zur Wirksamkeit bzw. zum
Schaden weiter verringert und anschließend von pharmazeutischen Unternehmern mit
Bezeichnungen wie "Durchbruchinnovation" bei Patienten sowie Ärzten Erwartungen an einen
großen therapeutischen Fortschritt geweckt – leider häufig zu Unrecht.
Die inzwischen meist exorbitant hohen Preise für Krebsmedikamente führen zu vermutlich
unbeabsichtigten, aber sehr negativen Auswirkungen: Die Entwicklung einer Vielzahl lukrativer,
ähnlicher Wirkstoffe mit marginalem Nutzen – heute auch als „Me-too“-Präparate bezeichnet –
behindert die Entwicklung echter, patientenrelevanter Innovationen und fördert leider nicht die
Kreativität in der klinischen Forschung. Es ist deshalb Aufgabe von Ärzten, Krankenkassen und
Gesundheitspolitikern, aber auch der Gesellschaft insgesamt, darüber nachzudenken, wie
dieser Profitmaximierung der pharmazeutischen Unternehmer zu Lasten unseres solidarisch
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Statement Prof. Dr. Wolf-Dieter Ludwig, Vorsitzender der Arzneimittelkommission der
deutschen Ärzteschaft,
zur Vorstellung des Innovationsreports 2015 am 9. September 2015 in Berlin
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finanzierten Gesundheitssystems, aber auch individueller Patienten, wirksam begegnet werden
kann.
Die Rahmenbedingungen für die Entwicklung der Orphan Drugs – von pharmazeutischen
Unternehmern seit Jahren bereits, ebenso wie die Krebsmedizin, als neues, sehr lukratives
Geschäftsfeld erkannt – sollten von Seiten der regulatorischen Behörden und der
Gesundheitspolitik einer kritischen Analyse unterzogen werden. Orphan Drugs zeigen in den
letzten Jahren ein stabiles Umsatzwachstum, mit Wachstumsraten von etwa 7,5 Prozent und
inzwischen einem globalen Umsatz von mehr als 100 Mrd. US-Dollar pro Jahr, der einem Anteil
von etwa 15 Prozent am weltweiten Umsatz von Arzneimitteln entspricht. Nur vereinzelt ist dies
auf die Entwicklung von Orphan Drugs für Patienten mit sehr seltenen angeborenen
Erkrankungen, wie der Mukoviszidose oder Mukopolysaccharidose, zurückzuführen.
Verantwortlich für das Umsatzwachstum ist eher die „Orphanisierung“ sogenannter
Volkskrankheiten im Rahmen der individualisierten Arzneimitteltherapie – insbesondere bei
Krebserkrankungen, bei denen es zunehmend gelingt, kleine Untergruppen bei eher häufigen
Tumorerkrankungen anhand von Biomarkern zu unterscheiden. Orphan Drugs werden in
Zulassungsstudien, etwa bei Krebs und neurologischen Erkrankungen, weniger gründlich
geprüft als andere Arzneimittel. Dies liegt vor allem an der kleinen Anzahl von untersuchten
Patienten, dem mitunter nicht-randomisierten Design der klinischen Studien mit meist
Surrogatendpunkten und der sehr kurzen Nachbeobachtungsdauer. Auch hier gilt es, in
Zukunft die Anforderungen an die Zulassung von Orphan Drugs zu erhöhen. Dabei sollte mehr
Wert gelegt werden auf wissenschaftliche Erkenntnisse zu patientenrelevanten Endpunkten
sowie auf Vergleichsstudien mit therapeutischen Alternativen, die auch bei Orphan Drugs
mitunter durchaus zur Verfügung stehen.
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