Gewicht: Artikel auf regionalen Seiten, gross 27. Oktober 2015 Zurück zum Inhaltsverzeichnis WINTERTHUR SEITE 4 Die Chefin mit dem Minipensum Wirtschaft Wer Chef sein will, muss Vollzeit arbeiten – dieses «Wirtschaftsgesetz» gilt in den meisten Firmen. Anders bei der IPW: Hier gibt es eine leitende Oberärztin, die nur zwei Tage pro Woche ins Büro kommt. Anika Brodersen ist Oberärztin im Jobsharing, Mutter und selbstständige Ärztin. Sie erzählt: «Als ich schwanger war, wurde ich gefragt: Was möchtest du? Zu welchen Bedingungen möchtest du nach der Geburt deines Kindes zurückkehren?» Die Psychiaterin hat Glück. Jobsharing im Kader, das gibt es fast nirgends. In den meisten Firmen wird schon die Nase gerümpft, wenn ein Chef auf 90 Prozent reduzieren möchte. Bei einer Umfrage gab von den zehn grössten Winterthurer Arbeitgebern einzig die ZHAW an, dass in ihrem Kader, ganz vereinzelt, Jobsharing betrieben wird. Der mittlere Anteil der Teilzeitangestellten im Kader beträgt gerade einmal 13 Prozent (Ausgabe vom 2. Juni). Psychiatermangel hilft den Psychiatern Was ist anders bei der IPW, der Integrierten Psychiatrie Winterthur- Zürcher Unterland? «Auch bei uns ist es so, dass Stationsleiter gerne Personen mit 100Prozent-Pensum einstellen», sagt Personalentwicklerin Sylvia Brunold. «Das macht die Planung des 24-Stunden-Schichtdiensts, sieben Tage pro Woche, einfacher.» Die Bedürfnisse der Angestellten hätten sich aber verändert. «Heute möchten viele junge Ärztinnen und Ärzte nicht Vollzeit arbeiten. Das können wir nicht einfach ignorieren. Wir müssen schauen, dass wir als Arbeitgeber attraktiv sind.» Bei den Pychiatern besteht zurzeit ein Mangel. Das bringt die Mediziner in die luxuriöse Situation, die Arbeitsbedingungen mitbestimmen zu können. Davon profitiert auch Anika Brodersen. Die Psychiaterin verringerte ihr Pensum nach der Geburt des ersten Kindes auf 60 Prozent, dann auf 50 und, mittlerweile als Oberärztin, auf 40. Heute leitet die 43-jährige Deutsche, im Jobsharing mit einer Kollegin mit 70-Prozent-Pensum, ein Team von Psychologen, Assistenzärzten und Pflegern, das in der Tagesklinik an der Rudolfstrasse bis zu 40 Patienten betreut. Die Arbeitsteilung mache im Alltag wenige Probleme, versichert Brodersen. An grobe Missverständnisse kann sie sich nicht erinnern. Einmal wöchentlich trifft sie sich mit der Co-Leiterin zu einer Koordinationssitzung; ein formelles Übergabeprotokoll gibt es nicht, alle wichtigen Informationen seien im System hinterlegt. «Wenn meine Kollegin einmal etwas nicht weiss, zum Beispiel was ich mit jemandem abgemacht hat, muss sie halt bei mir nachfragen.» Zu einer Flut von E-Mails, die sie ausserhalb der IPW beantworten müsste, führe dies nicht. «Ich bin nicht unersetzlich, und die Kollegin ist es auch nicht. Wenn es schnell gehen muss, kann jede allein entscheiden. » Viel Arbeit für die HR-Leute 1/2 Den Personalverantwortlichen macht Jobsharing derweil nicht wenig Arbeit. Sie müssen zwei Personen statt einer rekrutieren, und diese Personen müssen auch noch sehr gut miteinander harmonieren. Brunold relativiert aber: «Wenn wir eine Co-Leitung einsetzen, dann meistens mit Personen, die bereits bei uns arbeiten und sich schon kennen.» Mit aktuell zwei «Führungstandems», wie man betriebsintern sagt, ist das Modell auch bei der IPW nicht alltäglich. Allerdings wird die Voraussetzung für weitere Co- Leitungen dadurch geschaffen, dass Oberarztstellen konsequent als 50-bis-100-Prozent-Stellen ausgeschrieben werden. Die Firma bekomme für ihren Einsatz etwas zurück, findet Brodersen. Das Jobsharing habe den Vorteil, dass Menschen mit unterschiedlichen Persönlichkeitseigenschaften zusammenkommen. Auch was die Arbeitsweise angeht, könne man sich ergänzen: «Ich entscheide eher spontan und schnell, meine Partnerin geht strukturiert und analytisch vor.» «Männer könnten das genauso gut» Die beiden «Tandems» bestehen aktuell nur aus Frauen – ein Zufall, meint Brunold, und doch wieder nicht. «Ich glaube, dass Männer das genauso gut könnten. Frauen arbeiten aber nach wie vor häufiger Teilzeit.» Das ist auch, trotz der progressiven Firmenpolitik, bei der IPW so. Unter den 80 Angestellten, die zwei Tage pro Woche oder weniger arbeiten, befinden sich lediglich 14 Männer. Bei der Integrierten Psychiatrie besteht generell ein Frauenübergewicht. 68 Prozent beträgt der Frauenanteil insgesamt, im Kader sind es 47 Prozent – ein absoluter Spitzenwert. Die Personalentwicklerin hat dafür zwei Erklärungen. Das Gesundheitswesen sei eine Frauendomäne – «Medizin ist weiblich» –, doch habe auch die Frauenförderung etwas bewirkt. Man verfolge zwar nicht das Ziel, den Frauenanteil zu erhöhen – in manchen Bereichen hätte man sogar lieber mehr Männer. Aber: «Wir wollen, dass gut ausgebildete Frauen bei uns die Bedingungen vorfinden, die es ihnen erlauben, Führungsfunktionen zu besetzen.» Christian Gurtner © Der Landbote 2/2
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