ruhrtriennale 2015 johan simons & lui̇ perceval über

RUHRTRIENNALE 2015
Johan Simons & Luk Perceval über Arbeit und Glauben
Mit Susanne Kennedy in die Unterwelt
Teodor Currentzis lässt »Rheingold« funkeln
Begegnungen: Richard Siegal
Joep van Lieshout, Krzysztof Warlikowski
Paul Schneider von Esleben
Das Erbe der Nachkriegsmoderne
© Thomas Mayer, Neuss
Ausstellungen und Veranstaltungen
zum 100. Geburtstag des Architekten
23. August bis 25. September 2015 – Düsseldorf
Mannesmannhochhaus und Haus der Architekten
www.mai.nrw.de
K.WEST 07_08/2015 | 3
K.WEST-SPECIAL RUHRTRIENNALE 2015
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ZWISCHEN HIMMEL UND ERDE – UND IN DIE HÖLLE VON
ALBERICHS REICH
Der Intendant der Ruhrtriennale, Johan Simons, und sein
flämischer Regie-Kollege Luk Perceval im Gespräch über Pasolini, Wagner und Zola, über Arbeit, die stinkt, und Arbeit, die
befreit, über verlorene Paradiese, die Musik Bachs, Protestanten,
Katholiken und Buddhisten.
DER RUSSISCHE PLAN B
Von Perm am Ural nach Bochum: Der Ausnahme-Musiker und
spirituelle Kopf Teodor Currentzis dirigiert Richard Wagners
»Das Rheingold«.
Kohlenmischhalle, Zeche Lohberg, Dinslaken – Schauplatz von Pasolinis »Accattone«
© Julian Röder
17 AUS DER WILDNIS, DER FREIHEIT
Kaum jemand kennt Luigi Nonos Tragödie des Hörens, »Prometeo«,
besser als der Dirigent Ingo Metzmacher. Er öffnet schon mal die
Partitur.
18 BESCHWÖRER DES UNTERGANGS
Ein Besuch in Warschau: Der polnische Theater- und Opernregisseur Krzysztof Warlikowski inszeniert »Die Franzosen« nach Marcel
Prousts Roman-»Recherche«.
MEISTER DER NIEDLICHEN BRUTALITÄT
Das Atelier des Joep van Lieshout in Rotterdam inszeniert das
Gelände vor der Bochumer Jahrhunderthalle – und bedient die
Hoffnungen der Ruhrtriennale nach einem crazy-verstörenden
Festivalzentrum. Ein Besuch in der Ideen-Werkstatt.
20 EINE IDEE VON DER HÖLLE
Tanzen ist Denken und Forschen. Richard Siegal choreografiert
»Model«: Der menschliche Körper als Fetisch, Projektionsfläche
für Ideologien und Kraftzentrum? Fragen und Antworten.
ALS WÜRDE MAN GESPROCHEN WERDEN
Zwei Einladungen zum Berliner Theatertreffen in Folge und jetzt
die erste Oper: Susanne Kennedy begibt sich mit Monteverdis Orpheus und Eurydike in den Hades. Ein Porträt der Regisseurin.
22 AUSSERDEM – SEHENS- & HÖRENSWERTES
Feinster Elektro-Pop; Blicke in Schaufenster und eine Landung
im Hafen; Haydns »Schöpfung« mit Traumbildern; »Die stille Kraft«,
die aus Java kommt; Tanz, der bewegt, bis das Herz still steht.
IMPRESSUM
SONDERAUSGABE K.WEST
RUHRTRIENNALE 2015
K.WEST
erscheint monatlich
Verlag K-West GmbH
Heßlerstraße 37
45329 Essen
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Tel.: 0201/86 206-33
Fax: 0201/86 206-22
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TITELFOTO
Susanne Kennedy,
Suzan Boogaerdt und Bianca
van der Schoot.Foto: Julian
Baumann / Ruhrtriennale
Redaktion V.i.S.d.P
A. Wilink
MARKETING
MaschMedia, Oberhausen
DRUCK
Hitzegrad
Print Medien & Service GmbH,
Dortmund
LAYOUT
Herweg, Michalakopoulos,
Pecher
4 | RUHRTRIENNALE SPECIAL
ZWISCHEN HIMMEL
UND ERDE
–– UND IN DIE HÖLLE VON
ALBERICHS REICH
INTERVIEW: ANDREAS WILINK
Der Intendant der Ruhrtriennale, Johan Simons, und sein flämischer
Regie-Kollege Luk Perceval über Pasolini, Wagner und Zola, über Arbeit, die
stinkt, und Arbeit, die befreit, über verlorene Paradiese, die Musik Bachs,
Protestanten, Katholiken und Buddhisten.
K.WEST: Ist Arbeit sinnvoll?
SIMONS: Nicht immer. (lacht) Hängt davon ab, was man tut.
K.WEST: Viele wissen nicht, was sie tun...
PERCEVAL: Ich glaube, dass Arbeit sehr stark verbunden
ist mit Freiheit. Wenn sie sich nicht wenigstens um ein
Gefühl von Freiheit bereichert, hat es keinen Sinn, weniger finanziell, als seelisch betrachtet.
K.WEST: Vielleicht ist nicht Freiheit von Arbeit das Ziel,
sondern Freiheit in der Wahl der Arbeit und ihrer Bedingungen; Stichworte sind einerseits Selbstverwirklichung
und zum anderen Entfremdung. Da ist der Künstler gelegentlich in privilegierter Situation.
PERCEVAL: So fühle ich mich jeden Tag, privilegiert,
dass ich diesen Beruf machen darf. Was für ein Luxus, in
einem Probenraum zu sitzen...
SIMONS: Genau.
PERCEVAL: ...und sich mit einer Gruppe von Menschen
Gedanken zu machen, nicht nur über einen Text, sondern
über das Leben, die Gesellschaft etc. Das empfinde ich als
Reichtum – und als Glück, das mir zugefallen ist. Ich habe
dieses Glück zwar gesucht. Aber dass es sich realisiert hat,
war Glück.
SIMONS: So sehe ich es auch. Wir haben ein Plakat zu
meiner Pasolini-»Accattone«-Inszenierung gemacht. Darauf steht: »Arbeit stinkt«. Für viele Leute ist das so.
K.WEST: Hier, im Revier, stank die Arbeit besonders. Herr
Simons, Sie ziehen mit »Accattone« nach Dinslaken, in die
Halle Lohberg. Voll in den Kiez. Und hatten dort einen Briefwechsel mit Dinslakens stellvertretendem Bürgermeister
Eyüp Yildiz, der Sie kritisch zur Ruhrtriennale und seinem
möglichen bzw. unmöglichen Festival-Publikum befragte.
PERCEVAL: Lassen Sie mich noch eine Bemerkung machen. Unser Theater ist geprägt vom bürgerlichen Kanon,
ohne Bürgertum würde das Theater nicht überleben, und
gleichzeitig ist es unser Gefängnis und der grausame Aus-
schluss einer Mehrheit, gegenüber der wir uns anscheinend nicht zu öffnen verstehen. Probleme und Vorurteile
wirken dabei von zwei Seiten, die Eingeladenen reagieren
und kommen auch nicht. Ich habe Versuche mit anderen
sozialen Milieus unternommen, nicht nur in Antwerpen.
Es hat nie geklappt.
SIMONS: Diese Erfahrung habe ich schon in den
1980er/90er Jahren mit meiner Gruppe Hollandia gemacht.
Es hat nicht geklappt. Auf unser Motiv »Seid umschlungen«, mit dem wir jedermann ansprechen wollen, hat der
stellvertretende Bürgermeister von Dinslaken, Eyüp Yildiz ,
reagiert. Lohberg ist ein vornehmlich türkisch geprägtes
Viertel. Und ist in die Schlagzeilen geraten, weil bis zu 25
Salafisten gezählt wurden, von denen einige nach Syrien
und in den Irak gereist sind, um für den »IS« zu kämpfen.
Also ein schwieriges Terrain für unsere Hochkultur. Herr
Yildiz fragte: Sind wir wirklich gemeint? Soll ich mich auch
umschlungen fühlen? Klar, er hat auch Recht. Er kritisiert,
dass die sogenannte Hochkultur die Leute dort nicht bei
der Hand genommen, sie nicht mit ins Zentrum unserer Kultur und Kunst genommen hätte. Darüber müssen
wir diskutieren. Aber es ist von uns alles andere als ausgrenzend gemeint. Luk und ich etwa kommen beide aus
einfachen Familien. Beide machen wir Aufführungen über
das Thema Arbeit, mit Pasolini und Zola.
K.WEST: Zwei sehr unterschiedliche Positionen. Bei Pasolini ist das soziale Element nur eines, darunter oder darüber
liegt eine katholisch geprägte mythische Schicht. Es ist die,
auch erotische, Fantasie von einem Arbeiter. Wobei Accattone – übersetzt: der Bettler – ja ein Nicht-Arbeitender ist.
SIMONS: Accattone fragt immer wieder die anderen: Warum geht ihr überhaupt zur Arbeit? Er, als Nicht-Arbeitender, ist der Höchste in der Hierarchie. Er darf das fragen.
Für ihn ist Arbeit nutzlos. Sein Körper, obwohl stark und
groß, ist, findet er, nicht für Arbeit geschaffen.
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Johan Simons. Foto: Stephan Glagla
K.WEST: Der Gegenbegriff zur Arbeit ist Muße, was die
Antike als idealen Zustand beschrieb. Was noch bei Proust
schön war, Eleganz und Stil besaß, gilt dann bald nichts
mehr. Der Müßiggänger wird zum Schmarotzer und Tagedieb. Eine parasitäre Existenz.
SIMONS: Pasolini unterlegt Accattones Schicksal mit der
Musik von Bach, um ihm den Ausdruck einer geschwärzten Leidensgeschichte zu geben. Wir folgen ihm darin, das
heißt Philippe Herreweghe und sein Collegium Vocale
Gent, die der Aufführung 50 Minuten Bach schenken. Mit
den Kantaten bekommt es die Dimension zwischen Himmel und Erde. Das ist weniger konkret als bei Zola.
PERCEVAL: Zolas Welt ist scheinbar naturalistisch, realistisch, aber dahinter gibt es auch eine mythische Dimension.
Wenn man seine Symbolkraft mitliest, handelt sein Werk
einerseits vom Menschen in einem Darwin’schen Prozess
hin zur eigenen Befreiung; aber es steckt darin auch der Gedanke der Befreiung von seinem Sklavenstatus des Bestialischen, vom Zustand des Triebhaft-Animalischem, von Sex
und Alkohol hin zur Läuterung und zu höherem Bewusstsein. Es enthält eine metaphorische Kraft und den philosophischen Glauben, dass der Mensch Teil einer Natur ist, die
sich weiterentwickelt. Im Prozess zur Individuation.
K.WEST: Zolas Zyklus der Rougon-Macquart besteht aus
20 Bänden.
PERCEVAL: Aus denen wir neun Romane ausgewählt
haben und daraus sieben Motive nehmen. Wir fangen an
mit »Doktor Pascal« und »Der Totschläger«. Das skizzierte Leitmotiv gilt auch für die Folgebände »Germinal« und
»Bestie Mensch«. Tatsächlich glaubte Zola, dass der Mensch
sich nicht bloß über Arbeit definiert, sondern sich auch
durch sie zu befreien vermag. Es ist die Epoche, in der der
Glaube an Technik, an Ökonomie, an das Machbare einen
Höhepunkt erlebt und dann seine Krise, 1912 beim Untergang der Titanic und dem nahenden Ersten Weltkrieg.
K.WEST: »Arbeitslose sind Arbeitssuchende, also äußerst
wichtig als Archäologen der Gesellschaft.«, hat Christoph
Schlingensief gesagt.
PERCEVAL: Schön. Ja, sie fördern zutage, womit wir
nicht konfrontiert werden möchten. Interessant finde
ich den Kontrast, dass wir Zola jetzt bei der Ruhrtriennale spielen, 150 Jahre später, und in einer geologischen
und ökonomischen Wüste stehen. Das, woraus sich der
Mensch damals bei uns befreien musste, passiert jetzt in
China, Indien, Südamerika.
K.WEST: Auch eine familiäre Wüste.
PERCEVAL: Während wir durch ein männliches Bild
Gottes geprägt sind, beginnt Zola mit einer Urmutter – ein buddhistischer Gedanke. Diese Tante Dide ist
die Stamm-Mutter der sich in zwei Zweige auseinander
entwickelnden Rougon-Macquarts, die schon 20 Jahre
schweigt, auf ihren Tod wartet und wütend ist auf ihre
Familie. Es ist der Verlust des Paradieses.
SIMONS: Höllenfahrten und das verlorene Paradies – Generalthemen unseres Festivals. Die große Strafe Gottes ist,
dass er nicht existiert. Sage ich als Protestant.
K.WEST: Eine andere Höllenfahrt ist Wagners »Rheingold«, das Sie, Johan Simons, inszenieren. Die Gier nach
Gold und Macht als Vertragsbruch, Betrug und tiefe
Schuldverstrickung.
SIMONS: Ich bin überzeugt, Wagner hat das speziell fürs
Ruhrgebiet geschrieben, umso überzeugter, seitdem ich
unter Tage gewesen bin, rund 1200 Meter in der Tiefe.
Alberichs Reich. Kaum zu glauben, dass dort unten gearbeitet wurde – und noch wird. Ich habe geschwitzt wie
wild und war sehr ängstlich und das schon bei unserem
touristischen unter-Tage-Fahren. In den fünfziger Jahren,
hörte ich, war fast eine halbe Million Bergleute unter Tage
beschäftigt, bis Ende 2015 sollen es nur noch 8000 sein.
Alberich hat sie entlassen.
6 | RUHRTRIENNALE SPECIAL
Luk Perceval. Foto: Reinhard Winkler
PERCEVAL: Zola beschreibt das drastisch in »Germinal«.
Mein Großvater war auch Bergmann, hat angefangen mit
14 und geschuftet bis er 50 war; gestorben ist er dann an
einer Staublunge.
K.WEST: Patrice Chéreau hat Wagners »Ring« in seine Entstehungszeit situiert, in das bürgerliche Industriezeitalter.
SIMONS: Das ist auch bei uns so, die Jahrhunderthalle
Bochum ist schon aus sich selbst heraus ein industrieller Raum. Unser »Rheingold« ist im Ruhrgebiet verortet,
zur Hoch-Zeit der Krupps mit den entsprechenden Referenzen. Ich kann Wagner manchmal hassen, weil es so
pathetisch ist. Aber auch sehr lieben. Wagner, befreundet
mit Bakunin, interessiert an Marx und von revolutionärer
Kraft, übt natürlich Kritik am entstehenden Kapitalismus.
K.WEST: Zurück zur Arbeit, geistlich betrachtet. Luk Perceval, Sie haben sich, ursprünglich Katholik, dem Buddhismus zugewandt. Wie hält man es da mit der Arbeit?
PERCEVAL: Alles wird gedacht im Rahmen des Karmas.
Wenn Leben Leiden ist, parallel zum Christentum mit Jesus am Kreuz, glaubt der Buddhismus nicht an Erlösung
im Himmel oder Verdammnis der Hölle, an Belohnen oder
Strafe, sondern glaubt an Befreiung vom Leiden während
des Lebens, gerade auch indem man die Einsicht in die Vergänglichkeit von allem verinnerlicht, etwa durch Meditation. Was die Arbeit betrifft, sieht man sie als Teil dieses
Prozesses. Ein Hauptziel ist, keine negativen Spuren zu hinterlassen. Man arbeitet im Bewusstsein für das, was man
zurücklässt, für das und für den, der nach einem kommt. Es
geht nicht primär um Profit. In Bangkok gibt es ein Kloster
mit Mönchen, die die besten Börsenspekulanten sind. Mit
den Gewinnen leisten sie soziale Hilfe. Ziel ist immer das
Ganze – wie kreiert man durch seine Haltung, seine Arbeit einen Beitrag zum kosmischen Zusammenhang in der
Welt der Erscheinungen. Ganz konkret: Wenn man Suppe
zubereitet, wird nichts weggeworfen. Man hinterlässt keine
negativen Spuren. Sondern fragt, was bleibt übrig an positiver Wirkung.
K.WEST: Verantwortlichkeit, Nachhaltigkeit, Achtsamkeit.
Das würde durchaus passen zum Evangelischen Kirchentag.
SIMONS: Die Katholiken sind viel näher dran am Buddhismus, als die Protestanten. Im Katholischen ist man an Rituale
gewöhnt, der Protestantismus glaubt an das Wort. Die Bibel
sagt: »Am Anfang war das Wort«. Das wurde uns als Kind
vorgebetet. Das ist belastend. Man kann das kaum je verlieren.
K.WEST: Funktioniert der Protestantismus da nicht wie
die Psychoanalyse, wo das intellektuelle Begreifen forciert wird und sich an das Formulieren und Aussprechen
des Wortes koppelt?
PERCEVAL: Und Misstrauen hegt gegenüber dem, was
man nicht erklären kann. Der Emotion. Der Intuition.
SIMONS: Jawohl, Misstrauen gegen das Nicht-Erklärbare.
Das ist der Protestantismus auch. Deshalb sind die flämischen Maler auch andere Maler als die niederländischen.
Mondrian ist für mich ein Protestant, selbst wenn er Katholik gewesen ist, weil er nicht dem Bild traut. Er traut
nicht der Vorstellung.
PERCEVAL: Er ordnet den Raum.
K.WEST: Im Protestantismus, Puritanismus und Calvinismus besonders, ist Erfolg Gottesdienst. Gnadengewissheit erhält derjenige, der sich durch Arbeit profiliert. Max
Weber hat in »Die protestantische Ethik und der Geist des
Kapitalismus« den Willen zur Arbeit mit asketischem Konsumverzicht verbunden. Kein Glück oder nur das Glück
freiwilligen Entbehrens.
SIMONS: Aber am liebsten mit viel Geld. Kennzeichnend
dafür ist, dass man in Holland das Geld für seine Kinder bewahrt. Man arbeitet nicht für sich selbst, sondern die Folgegeneration. Das ist sehr mit unserer Mentalität verbunden.
PERCEVAL: Wir in Flandern sind gepresst zwischen Katholizismus und Calvinismus. Und geprägt durch 600
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Jahre Unterdrückung. Man ist katholisch, aber geht nicht in
die Kirche, oder nur, um danach Geschäfte zu machen oder
Politik. Da wird das Land regiert oder verteilt. Das ist keine gelebte Religion, sondern Schein. Die Flamen sind auch
faul. Andererseits und das ist schön, man tut es auf seine
Weise. Der Flame macht es so, wie es ihm gefällt. Wir haben nicht den Ehrgeiz der Holländer, die Welt zu erobern.
Man boxt sich durch, zuletzt, weil man solche Wut gegen
das Land hat – das macht stark, denken Sie an Brel oder Simenon, die sind geflüchtet nach Frankreich. Es fehlt mir in
Flandern oft der Ehrgeiz, dabei liegt im Ehrgeiz doch Freude und Disziplin unterwegs dahin, etwas zu realisieren.
K.WEST: Dieses Erhebende, Positive, Heiter-Feierliche,
dieses »Jesu, meine Freude« spürt man auch bei Bach.
Nicht wahr, Johan Simons?
SIMONS: Hör mal, Bach war kein katholischer Mensch. (lacht)
Aber Bach wird am besten gespielt von den Flamen, dem katholischen Herreweghe. Die Protestanten missverstehen Bach,
indem sie sagen, er sei Mathematiker. Nein, er ist überhaupt
kein Mathematiker, er ist sehr sinnlich. Bach trifft mit seiner
Musik in den Bauch. Bei den Protestanten muss es über den
Kopf gehen, den soll man klar halten. Wer seinem Gefühl folgt,
begeht Sünde. Man soll Struktur haben. Es ist falsch zu denken,
Bach ginge es um Struktur. Nein, es geht ihm um Gefühl.
K.WEST: Sagen wir es also mit einer von Bachs Kirchenkantaten: »Ich habe genug«.
Pier Paolo Pasolini, J.S. Bach, »Accattone«
14., 15., 19., 20., 22., 23. August 2015; Kohlenmischhalle,
Zeche Lohberg, Dinslaken.
Eine Produktion der Ruhrtriennale und des NTGent.
Gefördert durch die Kulturstiftung des Bundes. Mit
freundlicher Unterstützung der RAG-Stiftung und der
RAG Montan Immobilien.
Emile Zola, »Liebe. Trilogie meiner Familie 1«
9. bis 13. September 2015; Gießhalle, Landschaftspark
Duisburg-Nord.
Eine Produktion der Ruhrtriennale und des
Thalia Theater Hamburg.
Richard Wagner, »Das Rheingold«
12., 16., 18., 20., 22., 24., 26. September 2015
Jahrhunderthalle Bochum.
Eine Produktion der Ruhrtriennale. Gefördert von der
Kunststiftung NRW.
„ROMEO AND JULIET“
Am Dienstag, 22. September, 20.15 Uhr
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8 | RUHRTRIENNALE SPECIAL
DER RUSSISCHE PLAN B
Text: MICHAEL STRUCK-SCHLOEN
Ausnahme-Musiker, spiritueller Kopf und
selbst gefährdetes Kulturgut: Teodor Currentzis
dirigiert Richard Wagners »Das Rheingold«.
Teodor Currentzis © Robert Kittel_Sony
K.WEST_90 x 258 mm_Vorschau September_Layout 1 23.06.15 09:46 S
SOMMER
ADE?
HERBST?
HERBST?
K.WEST_90 x 258 mm_Vorschau September_Layout 1 23.06.15 09:46 S
Man möchte es sich wie eine Szene aus einem Stück von Tschechow
vorstellen. Johan Simons, der urwüchsige Niederländer und Lebensgenießer, und Teodor Currentzis, der hoch aufgeschossene, mystisch
angehauchte Dandy, lehnen in bequemen Rohrstühlen auf der Terrasse eines russischen Sommerhauses und sprechen über Wagners
»Rheingold«. Sprechen über die sozialrevolutionäre Euphorie des
Barrikadenkämpfers Wagner, seine Gesellschaftsanalyse à la Bakunin,
die Symbolik von Göttern und Nibelungen, den Klang des Orchesters
‒ jawohl, auch über diesen magischen Klang, der am »Ring«-Beginn
aus der Tiefe des minimalistisch wiederholten Es-Dur-Akkords sich
entfaltet und zunehmend verdinglicht bis zum posaunenpotenten Einzug der Götter in Walhall.
Auch wenn wir nicht dabei waren und das Gespräch vielleicht in einer
Hotellobby in Bochum stattfand, kann man sich ausmalen, wie sich
die beiden Männer in Fahrt reden. Currentzis, der Grieche mit russischem Pass und Exzentriker der russischen Kulturszene, breitet dem
Gegenüber seine Idee vom Ende der Musik und der Zivilisation aus,
das sich im »Ring des Nibelungen« ereigne und mit den Verbrechen im
»Rheingold« vorbereitet werde. Dieser große Entwurf, den Wagner in
symbolische Figuren und nicht in typische Operncharaktere gegossen
habe, brauche eine szenische Umsetzung, die zugleich »sozialistisch
und metaphysisch« sei, nicht romantische Oper, sondern modernes
Mysterium. Spätestens hier wird der Intendant der Ruhrtriennale die
Augenbrauen gedankenvoll hochgezogen und dann den befreienden
Satz gesprochen haben: dass er nur einen Regisseur kenne, der diesen
Spagat hinbekomme, und das sei er selbst, Johan Simons.
»Das Rheingold« als Reise in das innere Bewusstsein der Menschheit,
die sich am Ende selbst zerstört ‒ das wäre ein kühnes Gegenprojekt
zum Bayreuther »Ring« von Frank Castorf, der das Scheitern aller
Revolutionen mit anekdotischen Bildern aus dem proletarischen Heldenleben des 20. Jahrhunderts vorführt. Currentzis dagegen schwebt
Spirituelles vor. Den Eintritt in das Territorium des kollektiven Unbewussten sollen Klänge bewirken, die der finnische Elektromusikdesigner Mika Vainio auf dem Vorplatz der Bochumer Jahrhunderthalle
installieren will. Im Herzen dieses Distrikts, der in der Planung wie
ein akustisches Pendant zu den geheimnisvollen Landschaften der Filme des Andrei Tarkowski erscheint, spielt dann Currentzis‘ Orchester
»MusicAeterna« Wagners Musik ‒ nicht schwer und blechlastig, sondern mit dem »etwas trockenen, aber wunderschönen Klang, den das
revolutionäre Orchester von Wagner produziert«.
Egal, was die Premiere von »Das Rheingold« bringen wird, man darf
sicher sein, dass sie Teodor Currentzis zum musikalischen Erlebnis
macht. Womöglich zur Sensation. Denn der 1972 in Athen geborene
Dirigent, dessen Ideen bisweilen abgedreht und esoterisch wirken, hat
ein enormes Gespür für die Seele und den Geist der Musik, die er mit
einer Truppe bedingungslos auf ihn eingeschworener Musiker präzise
und feurig herausarbeitet. Dabei ist Currentzis früh klar geworden,
dass sein Bewusstsein für Qualität nicht vereinbar ist mit den üblichen
Arbeitsbedingungen an den Stadttheatern dieser Welt, egal ob östlich
oder westlich. Also begab er sich auf die Suche nach dem, was er den
»Plan B im Musikleben Russlands« nennt.
DAS K.WEST-SEPTEMBERHEFT 2015
AB ENDE
AUGUST IM HANDEL. 2015
DAS
K.WEST-SEPTEMBERHEFT
AB ENDE AUGUST IM HANDEL.
PROBEH
G R A T I SE F T
0201/
8620633
KUNST, BÜHNE, MUSIK, DESIGN, FILM, LITERATUR
K.WEST – DAS KULTURMAGAZIN DES WESTENS
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www.kulturwest.de oder Tel.: 0201 / 86206-33
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10 | RUHRTRIENNALE SPECIAL
In der eurasischen Millionenstadt Nowosibirsk übernahm er das »Akademische Opern- und Ballett-Theater« und machte es nach eigener
Einschätzung zum »besten Operntheater Russlands«. Das Herz seines
Reformprogramms hat er selbst eingepflanzt, als er das Orchester »MusicAeterna« gründete: ein Ensemble aus internationalen Musikern, das
Currentzis durch unkonventionelle Probenzeiten, mentales Training
und ein gemeinsames Gesellschaftsleben (über dessen Ausgelassenheit
so manche Anekdote kursiert) zur Elitetruppe ohne die übliche ästhetische Patina russischer Berufsorchester formte. Die jüngste CD mit
Musik von Jean-Philippe Rameau, vor allem aber die Aufnahmen von
Mozart-Opern, lassen die umwerfende Musikalität und den technischen
Anspruch deutlich hören.
Obwohl Currentzis auch Romantisches und Zeitgenössisches dirigiert,
sind Klang und Temperament von »MusicAeterna« undenkbar ohne die
Erfahrung mit barocken Spielpraktiken. Leicht werden die Bögen angesetzt, der Klang wirkt zerbrechlich, kraftstrotzend oder bassfreudig, aber
immer voller Kontur, nie wie ein französischer Weichkäse. »The Sound
of Light« hat er seine jüngste Einspielung mit Musik von Rameau überschrieben, denn: »Seine Musik trifft unsere Herzen so direkt wie ein Sonnenstrahl, der durch die schwarze Unendlichkeit des Weltraums schneidet, bis er endlich auf das menschliche Auge trifft, auf ein grünes Blatt,
eine Rosenblüte«. Man verzeiht ihm solche blumigen Aperçus sofort,
wenn man die sinnliche Vielfalt der Instrumental- und Arienhäppchen
aus Rameau-Opern hört. Ein kreativer, wacher Geist weht durch die dürr
überlieferten Noten. Und am Ende weiß man nicht mehr recht, ob es gerade Musik von Rameau, Elgar, Tschaikowsky oder Strawinsky ist.
»Was mich interessiert, wenn ich eine Partitur studiere, ist die Geschichte von geistigen Revolutionen«, sagt Currentzis. Und meint damit auch
und vor allem Mozart. Auf »Le nozze di Figaro« folgte zuletzt »Così fan
tutte« (bei Sony). Mit dem atemberaubenden Timing gut gemachter Musicals schießen Lorenzo DaPontes freche Dialoge in die Ensembles ein,
zündet der Funke des (meist) erotischen Schlagabtauschs in den Arien
unter unerhörtem Hochdruck. Die Ensembles sprudeln über vor Temperament, aber Currentzis kennt auch eine sentimentale Seite in seiner
Dirigentenbrust, die ihn hemmungslos in schönen Stellen schwelgen oder
ein Adagio pathetisch übertreiben lässt. Zufall oder Laune ist dabei nichts:
Er weiß, was er will und wie Musik atmet, ohne zu keuchen.
Seit 2011 reitet Currentzis seine Attacken gegen die Verödung des russischen Kulturlebens und die Maßnahmen gegen unbequeme Künstler in
Perm ‒ einer ehemaligen Industriestadt am Ural, die seit der Zarenzeit
umgeben war von Straflagern. Nach dem Zweiten Weltkrieg war Europas letzte Millionenstadt vor dem Grenzgebirge nach Asien für Ausländer
und sowjetische Normalbürger unsichtbar. Ihre Position auf den Landkarten war gefälscht, die Stadt selbst nur für Einwohner und Mitarbeiter
der Rüstungsbetriebe zugänglich. In den letzten Jahren jedoch ist dieses
»ferne Land«, wie die Übersetzung des finnischen Namens Perm lautet,
der europäischen Kulturszene etwas näher gerückt. Dafür sorgte der
Gouverneur Oleg Tschirkunow, der die problematische Vergangenheit
offensiv anging und daran erinnerte, dass viele politische Häftlinge und
Intellektuelle nach ihrer Entlassung aus den Gulags in Perm blieben und
hier ein relativ liberales Geistesklima schufen. Und weil die Perestroika
der von lieblosen Autoschneisen und sozialistischen Repräsentationsbauten dominierten Stadt zwar mehr Freiheiten, aber kein besseres Image
verschaffte, setzte Tschirkunow auf Kultur als Identifikationsfaktor ‒ und
auf Currentzis als ihren Motor.
Mit dem Programm am Opernhaus von Perm bot Currentzis dem Standard-Repertoire die Stirn und organisierte ein viel beachtetes Festival
zu Ehren des bedeutenden Tanz-Impresarios Sergej Diaghilew, dessen
Vater bei Perm eine Wodka-Fabrik leitete. Das Wunder geschah: Das
hässliche Entlein unter den russischen Städten mauserte sich – Kultur
auf allen Ebenen. Mittlerweile aber haben der Gouverneur und das geistige Klima im Land gewechselt, kurz vor Beginn des diesjährigen Festivals wurde der Etat auf die Hälfte gekürzt. Für Currentzis eine typische
Schikane der Behörden, mit der unliebsame Künstler einer versteckten
Zensur unterworfen werden.
Currentzis erwartet weitere Sabotagen aus dem Kulturministerium.
»Das sind Leute, die sich als russische Patrioten ausgeben, aber das Land
und seine Kultur ruinieren. Man will eine Art kulturelle Elite schaffen
und duldet keine Experimente mehr. Und wenn ich als Opernchef nicht
der Stadt Perm, sondern direkt dem Ministerium unterstehen würde,
hätten sie mich schon längst in die Wüste geschickt. Auf jeden Fall stehe
ich auf der Liste der gefährdeten Kulturgüter...«
Dennoch ist es auch beim diesjährig reduzierten Diaghilew-Festival
noch einmal gelungen, die gesamte Stadt in die Kultur einzubeziehen.
Neben der Eröffnung mit Gustav Mahlers Fünfter Sinfonie wurde das
2004 wiederaufgefundene Opernfragment »Orango« von Dmitri Schostakowitsch erstmals auf einer russischen Bühne gezeigt und tönende
Bewusstseinserweiterung à la Currentzis versucht ‒ mit dem Projekt
»Slow Music«, bei dem Splitter von langsamen Musikstücken in endlosen Loops mit langen Pausen gespielt wurden, während sich das Publikum in völliger Dunkelheit bettete. »Das ist natürlich keine Interpreta­
tion im klassischen Sinne, sondern eher eine Meditation, bei der man
aber die Idee des Komponisten viel klarer erkennt«, sagt Teodor Currentzis. Da ist es für einen spirituell denkenden Musiker wie ihn bis zum
entrückten Beginn des »Rheingold« kein großer Schritt. Für den großen
Griechen ist Musik eine Reise ins (stilistisch) Offene, vor allem aber ins
Innere ‒ unerwartete Glückszustände inbegriffen.
Richard Wagner, »Das Rheingold«
12., 16., 18., 20., 22., 24., 26. September 2015
Jahrhunderthalle Bochum.
Eine Produktion der Ruhrtriennale.
Gefördert von der Kunststiftung NRW.
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↗ Düsseldorf: Tel. + 49 (0) 211. 89 25 211
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Ballet tDirektOr & chefchOreOgr aph
Martin Schläpfer
B a l l e t t
spielZeit 2015/16
—
Deutsche Oper am rhein – premieren
Ballet t am rhein – premieren
R ic ha R d St R au S S
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b.27
ML: Kober • I: Bertman
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Fr 15.04.2016 ↗ Opernhaus Düsseldorf
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Fr 18.03.2016 ↗ Opernhaus Düsseldorf
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ML: Beikircher • I: Gürbaca
—
Fr 18.09.2015 ↗ Opernhaus Düsseldorf
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l’elisir D’amOre
ML: Betta • I: Rechi
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Sa 17.10.2015 ↗ Theater Duisburg
Do 21.04.2016 ↗ Opernhaus Düsseldorf (WA)
m a R i u S F e l i x l a nG e
Die schneekönigin
Junge Oper am rhein
u r au f f ü h r u n g /
au f t r ag s kO m p O s i t i O n
f ü r a ll e a b 6 J a h r e n
b.25
e m m e R ic h K á l m á n
ML: Beikircher / Stöcker •
I: Schmid
—
Sa 23.04.2016 ↗ Theater Duisburg
Mo 04.07.2016 ↗ Opernhaus Düsseldorf
WilliaM forSythe
WOrkWithinWOrk
frederick aShton
sYmphOnic variatiOns
hanS van Manen
tWO gOlD variatiOns
—
Sa 10.10.2015 ↗ Opernhaus Düsseldorf
ML: Betta • I: Köpplinger
—
Fr 13.11.2015 ↗ Opernhaus Düsseldorf
Fr 20.05.2016 ↗ Theater Duisburg (WA)
PlattFoRm ReGie
deutSche oPeR am Rhein
b.26
ML: Wong / Chestnut •
I: Torell / Westerbarkei
—
Sa 04.06.2016 ↗ Theater Duisburg
auguSt Bournonville
BOurnOnville
Divertissement
antony tudor
Dark elegies
terence kohler
One
uraufführung
—
Sa 16.01.2016 ↗ Theater Duisburg
Die ZirkusprinZessin
G iac om o P u c c i n i
turanDOt
ML: Kober • I: Li
—
Sa 05.12.2015 ↗
Theater Duisburg
G i u Se P P e V e R di
DOn carlO
Foto: Hans Jörg Michel / Design: Markwald Neusitzer Identity
Der gOlDene hahn
ML: Yurkevych • I: Joosten
—
Sa 13.02.2016 ↗ Opernhaus Düsseldorf
R ic ha R d St R au S S
ariaDne auf naxOs
ML: Chien • I: Hilsdorf
—
Do 25.02.2016 ↗ Theater Duisburg
So 27.03.2016 ↗ Opernhaus Düsseldorf (WA)
YOung DirectOrs:
What next?
trOuBle in tahiti
ot to n i c ol a i
Die lustigen WeiBer
vOn WinDsOr
ML: Kober • I: Hilsdorf
—
Fr 24.06.2016 ↗ Opernhaus Düsseldorf
b.28
paul taylor
esplanaDe
huBert eSSakoW
teneBre
uraufführung
nilS chriSte
Different DialOgues
uraufführung
—
So 29.05.2016 ↗ Opernhaus Düsseldorf
YOung mOves
plattforM choreographie
Ballett aM rhein
—
Sa 18.06.2016 ↗ Theater Duisburg
12 | RUHRTRIENNALE SPECIAL
MEISTER
DER NIEDLICHEN BRUTALITÄT
TEXT: KATRIN PINETZKI
Wer die Rotterdamer Crew um Joep van Lieshout engagiert, weiß nicht nur, was ihn erwartet.
Er erwartet auch genau das. Das Atelier Van Lieshout inszeniert das Gelände vor der Bochumer
Jahrhunderthalle – und bedient die Hoffnungen der Ruhrtriennale nach einem crazyverstörenden Festivalzentrum. Der Künstler bestückt das Areal mit seinen organisch-verrätselten
Systemen: Auf die Besucher wartet unter anderem ein überdimensionierter Darmausgang, eine
Werkstatt für Waffen und Bomben und eine Guerilla-Farm. »The Good, the Bad and the Ugly«, so
der Titel des Gesamtkunstwerks. Wir haben nachgesehen, wo diese Ideen entstehen.
BarRectum 2005: Komm doch mit in den Enddarm: Die »BarRectum« ist Teil der begehbaren Installation vor der Jahrhunderthalle © Atelier Van Lieshout
»The Good, the Bad and the Ugly« als Installation an der Jahrhunderthalle Bochum – wie muss man sich das vorstellen? So: eine Halle, 15
mal 18 Meter groß und sechs Meter hoch. Sie heißt »Refektorium« und
ist Bühne und Bistro zugleich. Die Halle ist der Kern. Wie ein Zahnrad
gruppieren sich verschiedene, ebenfalls begehbare Kunstwerke drum
herum. Zum Beispiel die »BarRectum« in Gestalt eines Enddarms,
oder das »Farmhouse«, ein mobiler Bauernhof. Daran angegliedert: Die
»Werkstatt für Waffen und Bomben« sowie eine »Werkstatt für Medizin
und Alkohol«. Die Installation soll, so das Konzept, das Festivalzentrum zu einer potentiell autarken Gemeinschaft machen.
Auf dem Flachdach des Refektoriums in der Mitte thront der »Domestikator«: eine Skulptur, höher als das Gebäude, auf dem es steht. Auch sie
begehbar und rätselhaft. Auf der Skizze erinnert sie an einen Roboter,
der drohend vor einer Folterbank steht. »Für Proben, Aufführungen,
religiöse Menschenopfer«, sagt der Künstler und grinst, »fast wie ein
Tempel, um das Tabu zu feiern«.
K.WEST 07_08/2015 | 13
Workshop for Weapons and Bombs 1998 © Atelier Van Lieshout
Wie all die Kunstwerke vor der Jahrhunderthalle Bochum genau genutzt werden, ist nicht festgelegt – die Offenheit gehört zum Konzept.
Für van Lieshout passt das exakt zum Ruhrtriennale-Motto »Seid umschlungen«: »Wer als Besucher kommt, weiß erst einmal nicht, ob das
für Flüchtlinge ist, etwas Feierliches – oder doch bedrohlich.«
Ein Festival-Dorf wie aus einer Trash-Science-Fiction – wer denkt sich
so etwas aus?
Atelier van Lieshout sei ein »interdisziplinär arbeitendes niederländisches Künstlerkollektiv«, ist in der Wikipedia zu lesen. »Wir sind kein
Kollektiv, keine Hippie-Kommune«, stellt Sprecherin Rookje Meijerink
dann gleich zu Beginn des Atelier-Rundgangs fest. Das hat man sich allerdings schon gedacht: Die Atelier Van Lieshout-Webseite ist eine Show
des Namen gebenden Künstlers Joep van Lieshout; außer ihm ist von
keinem anderen Künstler die Rede.
Im Atelier selbst herrscht die Betriebsamkeit eines mittelständischen
Handwerksbetriebs. Ein Mittag Mitte März mitten im Industriegebiet
am Rotterdamer Hafen. Die etwa 15-köpfige Crew sitzt an einem langen Holztisch in der Atelier-Kantine, auf dem Tisch Schüsseln mit Salat,
Fladenbrot, Kichererbsenbälle – es gibt Falafel. Einige Mitarbeiter sind
mit Farbe bespritzt, andere tragen Overall. Jeder hier ist auf ein anderes
Handwerk spezialisiert, auf die Arbeit mit Holz, Metall, Fiberglas oder
Stein. An der rechten Wand der Kantine ist eine der Arbeiten von Atelier van Lieshout ausgestellt: Das metergroße 3D-Modell eines erigierten
Penis samt Hoden, versehen mit einer Art Pump-Apparatur. Wer ihn
beim Essen nicht im Blick haben will, muss sich eben auf die rechte Seite
setzen. Aber die Vermengung von Arbeit und Pause scheint nicht das
Problem zu sein: Direkt nach dem Essen schaut man sich in der Kantine
noch gemeinsam einen Film an, zur Inspiration.
Währenddessen ein schneller Rundgang durchs Atelier. Hier die Holz-,
dort die Metallwerkstatt, hinten der Bereich, in dem mit Fiberglas gearbeitet wird, jenem Kunststoff, mit dem Joep van Lieshout in den 1980er
Jahren rasend schnell bekannt wurde. Damals war das Material in der
Kunst noch exotisch. van Lieshout verliebte sich sofort. »Ein Zaubermaterial«, sagt er, »sehr stark und wetterfest. Alles wirkt nahtlos, wie aus
einem Guss. Und alle Farben sind möglich – ich liebe Farbe!».
Was van Lieshout mit diesem und anderem Material macht, erschließt
sich selten auf den ersten Blick. Seine Arbeiten changieren zwischen
Kunst, Architektur und Design. Häufig wirken sie zunächst vertraut
und gefällig, man nimmt die poppigen Farben wahr und das glatte, geschmeidige Material – bis man genauer hinsieht. Häufig sind es menschliche, tierische, organische Teile, oft verschmelzen Natur und Apparatur
in einer Mischung aus Niedlichkeit und Brutalität. Viele der Arbeiten
haben soziale Funktion, wie auch bei der Ruhrtriennale: Dort sollen van
Lieshouts Werke aus einem unbelebten Vorplatz ein pulsierendes Festivalzentrum machen.
Körper sind Systeme für den 51-Jährigen. Wie sie und andere geschlossene Systeme funktionieren, das interessiert ihn. Er testet Grenzen aus,
auch Grenzen des Machbaren. Da ist zum Beispiel »Blast Furnace«, eine
riesige Arbeit zum Verschwinden der Industrie, die eine komplette Halle des Ateliers füllt. Sie besteht aus einem sorgfältig nach technischen
Zeichnungen zusammengelöteten Hochofen. Anstatt zu verbrauchen
und zu produzieren, wird der Hochofen in der Installation zur Wohnung umfunktioniert, erhält Küche, Wohn- und Schlafzimmer. Oder
da ist der »Power Hammer« (Maschinenhammer), übermannshoch
und gefertigt aus rosa Fiberglas – ein pastellfarbenes Denkmal für die
Schwerindustrie, wie eine Versöhnung zwischen Mensch und Maschine.
Auch das in Bochum geplante Festivalzentrum ist so ein System, ein
Organismus, der erst im öffentlichen Raum zu leben beginnt. Drei Jahre lang wird die Installation während der Ruhrtriennale-Zeit zu sehen,
zu begehen und zu bespielen sein. »Es werden Leute kommen, die das
Theater lieben, aber auch Spaziergänger ohne Kunst-Hintergrund«, sagt
van Lieshout, »das gefällt mir. Meine Arbeit bietet jedem etwas.« Viele
seiner Werke stehen im öffentlichen Raum, überall auf der Welt. Auch
in Bochum hat Atelier van Lieshout bereits gearbeitet, im Kulturhauptstadtjahr 2010 installierte er das »Motel Bochum« im Niemandsland an
der A 40. Er kennt die Region und mag sie, auch dank seiner Oma aus
Moers. »Wegen ihr war ich öfters im Ruhrgebiet, und meine erste Erinnerung an Deutschland ist: überall Grau. Eine Art Kriegsgefühl.« Heute
liebe er die Industriekultur und Urbanität, und dennoch: »Das graue
Kriegsgefühl spüre ich noch immer.« Wo könnte »The Good, the Bad
and the Ugly« besser hinpassen als in diese Stadt der Kontraste.
»The Good, the Bad and the Ugly«, Eröffnung: 15. August, 18 Uhr
bis 26. September 2015, täglich 13 – 21 Uhr, Eintritt frei.
Eine Produktion der Ruhrtriennale.
Mit freundlicher Unterstützung der Stiftung Pro Bochum.
14 | RUHRTRIENNALE SPECIAL
ALS WÜRDE MAN
GESPROCHEN WERDEN
TEXT: ANDREAS WILINK
Spätes Fräuleinwunder und früh gereifte Regie-Künstlerin: Susanne Kennedy inszeniert in
der Mischanlange der Kokerei Zollverein Monteverdis »Orpheus«-Stoff und die Toten-Welt der
Eurydike – als installativen Parcours für jeweils acht Zuschauer.
In der Kunstwelt der Susanne Kennedy wird man so leicht
keine Fingerabdrücke finden. Es sind Tatorte ohne Spuren. Angst-Räume. Ein paar Zimmer in der allgemeinen
Lebensverunsicherungsanstalt. Wie abwaschbar und steril. Es setzt sich nichts ab. Oberflächlich betrachtet. Eine
bizarre Welt. Hyperrealismus ist ein Begriff, mit dem Kennedy nicht fremdelt.
»Mit nichts entblößt man sich so sehr wie mit Masken.«
Schreibt Jean Genet. Die Figuren in Susanne Kennedys
Fassbinder-Adaption von »Warum läuft Herr R. Amok?«
an den Münchner Kammerspielen tragen dünne LatexMasken, die ihre Gesichter noch durchscheinen lassen,
aber den mimischen Ausdruck neutralisieren. Es ist nicht
der einzige V-Effekt. Die Schraube der Verstörung windet
sich noch in mehreren Drehungen. Da stehen keine Menschen, wie Realität sie als tauglich produziert. Und wie sie
sprechen! Nicht persönlich. Sondern synchronisiert, die
Stimmen der Darsteller kommen von der Tonspur, von
Laien eingelesen, ohne erkennbaren Sinn und Verstand
und innere Anteilnahme.
Sprache ist kein Medium sinnvoller Mitteilung. Die organische Verbindung zwischen Kopf, Mund, Herz, Bauch
gestört. Da kann man Sprache doch gleich an eine andere, anonyme, unsichtbare Instanz abtreten. Kann sie auf
stumm schalten! Daran habe sie lange getüftelt, erzählt
Susanne Kennedy. Habe Lautsprecher und Voice Over
ausprobiert, bis es in letzter Konsequenz Playback wurde.
Aber es sei »kein Mittel, das einmal da ist – und fertig«. In-
sofern wundere sie sich über den schon laut gewordenen
Vorwurf, sie habe ihre Methode und variiere sie bloß. »Im
Theater muss es offenbar pro Inszenierung etwas Neues
geben. Anstatt anzuerkennen, dass jemand seine Mittel
auslotet und untersucht.«
Nach Marieluise Fleißers »Fegefeuer in Ingolstadt«, 2013 in
München und der ersten Einladung zum Berliner Theatertreffen, habe sie zu fast jedem neuen Angebot ›nein‹ gesagt.
Ihr ist die Art von Tour-Theater suspekt, bei dem RegieKollegen von einer Arbeit zur nächsten, von A nach B nach
C hoppeln. »Persönlich bringt das nichts.« Sie hat sich ab
2017 für Chris Dercons Berliner Volksbühne entschieden,
auch wenn ihr das noch etwas kühn erscheint: »Ich stehe da
für etwas und weiß noch gar nicht genau für was.« Zuvor
gehört sie zu Johan Simons Ruhrtriennale-Team.
1977 in Friedrichshafen geboren als Tochter einer deutschen Mutter und eines englischen Vaters, hat sie, trotz
des Namens, nicht in Oxford oder Dublin studiert, sondern in Amsterdam. Hat bei Johan Simons in Gent assistiert und mehrfach in den Niederlanden gearbeitet.
Das Ich der von Kennedy kreierten Figuren hat keine
Stabilität. Keinen festen Umriss. Keinen Anspruch auf
Originalität und Singularität, sondern tritt dupliziert und
multipliziert auf. Kennedy erinnert an die Herkunft des
Begriffs »Person« vom lateinischen »persona«, betont
die Kraft der Maske, aus der echte Augen blicken. Für sie
habe die komplette Maske sich aus der Beschäftigung mit
Schminke entwickelt.
K.WEST 07_08/2015 | 15
Susanne Kennedy. Foto: Jan Versweyfeld
In Fassbinders Kleinbürgerdrama »Amok« sondert jeder Banalitäten, Floskeln, Worthülsen ab. Jargon der Eigentlichkeit,
wie man das mal nannte. Fassbinder (und Michael Fengler)
hatten 1970 den »Amok«-Lauf fast dokumentarisch gedreht.
Isolation und Bewusstlosigkeit suchen sich darin das scheinbar befreiende Ventil in der Gewalt als letztem Ausweg.
Kennedy übersetzt das mit unerbittlicher Konsequenz, so
dass man die gut zweistündige Aufführung, subjektiv genommen, sogar etwas absitzt. Sie verbindet »Amok« – im
Mai ebenfalls zum Berliner Theatertreffen eingeladen – indirekt mit einem anderen Fassbinder-Titel: »Welt am Draht«.
Bildstörung, Tonstörung, Sprachstörung der lethargischen
oder plappernden Puppen-Menschen – ihrem »Labern«, wie
sie sagt. »Als würde man gesprochen werden.« Die Außenwelt mit Straße, Plattenladen, Auto, Wohnzimmer hat nur
eine Bühnen-Ansicht, abgedichtet wie eine Gummizelle: eine
Einrichtung mit Holzverschalung wie der Empfang zu einer
Sauna oder einem Solarium mit Theke und Grünpflanze.
Alle Lebenskräfte und -säfte sind entzogen.
So präzise definiert, extrem gestaltet und gefüllt all das ist,
so viel Eigenleistung des Zuschauers erlaubt und erzwingt
das hermetische System von Kennedys Inszenierungen.
»Filme befreien den Kopf«, hat Fassbinder einmal gesagt.
Kennedys Bühnen-Einkerkerungen tun es auch. »Das System eröffnet viel Freiheit«, sagt sie.
Auch in »Fegefeuer« der Fleißer, die mit ihren (Anti-)Volksstücken Vorläuferin von Kroetz, Achternbusch, Sperr und
Co. war, ließ Kennedy die Puppen tanzen. Man konnte da
glauben, sie sei in Gregor Schneiders »Haus.ur« aus- und
eingegangen. Sie musste die Kleinbürger-Dramen Fassbinders schon gesehen haben. Vielleicht kannte sie auch die
grau-grün kränkelnden Gemälde von Christian Schad. Und
Susanne Kennedy – als wir uns in Berlin treffen, steht sie in
der Mitte ihrer Schwangerschaft – könnte vermutlich außerdem in den Echo-Raum von Roman Polanskis »Rosemaries
Baby« hineingehorcht haben. Zumal Mutter und Kind für
sie, wie sie sagt, überhaupt ein Thema sei. Schon in »Fegefeuer« klang das an; noch früher in Den Haag, als sie Strindbergs »Pelikan« aufgeführt hatte. Im Kino jedenfalls schätzt
sie, kaum überraschend, David Lynch und Lars von Trier.
»Fegefeuer« war auf- und anregend als zwingende Fantasie zum Stück. Die Bleichgesichter und ihr menschlicher
Ablasshandel, von der Fleißer gnadenlos betrachtet, wurde
in Schrecksekunden und Schockmomenten immer wieder
neu arrangiert, getrennt von Blacks, grellem Lichtzucken
und wildem Klang. Großartige Schmerzbilder prägten sich
ein, ebenso die lüstern verdruckste Erotik. Die ausgekühlte
Passions- und Unheils-Geschichte, asketisch und ekstatisch
zugleich, machte sich den Rhythmus der Litanei zu eigen
und verzerrte ihn aufs Äußerste.
Interessiert sie sich mit ihrem analytischen Blick für Psychologie? »Es geht mir nicht um die Psychologie des Einzelnen,
eher um eine innere Landschaft, die größer ist als die einzelne Person«, sagt Kennedy. »Im Film funktioniert dieses
hundertprozentige Sich-Hineinversetzen, im Theater nicht.
Dass kein geschlossenes Bild erscheint, ist für mich letztlich
16 | RUHRTRIENNALE
KUNST
SPECIAL
»Warum läuft Herr R. Amok?«, inszeniert von Susanne Kennedy an den Münchner Kammerspielen. Foto: JU/Ostkreuz / Julian Röder
wichtiger und erhellender. Man muss Ambivalenzen, muss
Unbeantwortbarkeit zulassen.«
Dass sie Sprache ins Off bannt, heißt nicht, dass Susanne
Kennedy sie für gering achtet. Im Gegenteil, sie interessiert
sie »gerade sehr!« Sprache sei »unheimlich wichtig« für sie.
So liegt Eurydike, die der Welt abhanden Gekommene,
nahe. Der Orpheus-Stoff mit dem Versuch der Heimholung aus dem Reich der Toten und der Stille des Hades,
wo das Verbot existiert, sich einander zuzuwenden. Bei
Rilke heißt es über Orpheus: »Dürfte er sich einmal wenden (wäre das Zurückschaun nicht die Zersetzung dieses
ganzen Werkes, das erst vollbracht wird), müsste er sie sehen...«. Kennedy spricht vom »Schwellenzustand« für das
Paar Orpheus & Eurydike. Kein profanes Paar. Ein sagenhaftes. »In seiner mythischen Dimension ballt sich etwas
zusammen, wie bei einem Schneeball, an den sich mit der
Zeit immer mehr Füllstoff klebt.«
Was ist das Problem? »Orpheus akzeptiert den Tod nicht,
nicht den der Frau, letztlich nicht den eigenen. Er kann
nicht loslassen.« Will sich nicht abfinden. Ihm fehlt das
blinde Vertrauen. »Sprache jedenfalls greift nicht mehr,
und ob Musik hilft, ist noch die Frage«, so Kennedy. Die
Musik von Monteverdi.
Die Unter- und Gegenwelt wird bei der Adaption, die
Kennedy gemeinsam mit dem ihr vertrauten PerformerDuo Suzan Boogaerdt & Bianca van der Schoot gestaltet,
zur »Parallelwelt«. Die orientiere sich an dem Videospiel
»Second life« und dessen virtueller Wirklichkeit. Schlicht
gesagt, Eurydike kommt im Hades wie im Haushalt ihres
irdischen Alltags an. Viele Eurydikes werden es sein, neben
einem Orpheus-Sänger. Bei ihm spüre man »sein Bedürfnis, seinen Schmerz, seine Sehnsucht«, sagt sie kritisch.
Eurydike aber ist Schatten. Eingekapselt in ihren Gelassen, Kabinetten und Raum-Modulen, die in die Mischanlange von Zollverein montiert und installiert werden. »Es
wird noch interessant sein, was sie dort macht«, überlegt
Kennedy. Das Labyrinthische der Mischanlage, dem anarchischsten Ort der Ruhrtriennale-Spielstätten, bildet »der
Seelen wunderliches Bergwerk« (Rilke) mit Schlünden,
Trichtern, Brücken, Stegen. Nicht Konzentration, sondern
das Schweifende und Abschweifende – der umherirrende
Blick, wie der von Orpheus, könnte hier Ereignis werden.
Und sich auf Eurydike fixieren.
»Orfeo« nach Monteverdi, Regie: Susanne Kennedy,
Suzan Boogaerdt, Bianca van der Schoot;
Musik und Performance: Solistenensemble Kaleidoskop
ab 20. August bis 6. September 2015, an insgesamt
zwölf Tagen zwischen 13 bzw. 17 und 21 Uhr
Mischanlage, Welterbe Kokerei Zollverein, Essen.
Eine Produktion der Ruhrtriennale und des Solistenensemble Kaleidoskop. Die Produktion wird gefördert
durch die Kulturstiftung des Bundes. Koproduziert von
Berliner Festspiele und Toneelgroep Oostpool.
K.WEST 07_08/2015 | 17
AUS DER
WILDNIS, DER
FREIHEIT
TEXT: GUIDO FISCHER
Kaum jemand kennt Luigi Nonos »Prometeo«
besser als Ingo Metzmacher.
Für die Ruhrtriennale erarbeitet er die Anti-Oper
in der Duisburger Kraftzentrale.
»Es macht keinen Unterschied, ob ich eine Partitur schreibe oder einen
Streik organisieren helfe. Das sind nur zwei Seiten einer einzigen Sache.«
Mit provokanten Sätzen wie diesen hatte sich Luigi Nono noch zu Beginn der 1970er Jahre in die Tagespolitik eingemischt. Seine musikalische
Arbeit war ein einziger Protest gegen jede Form von Unrecht. Zur Aufklärung der Massen gehörten auch Konzerte, die er mit seinen Freunden
Maurizio Pollini und Claudio Abbado in den Fabriken Italiens veranstaltete. Ein Jahrzehnt später sollte der musikalische Klassen- und Widerstandskämpfer Nono aber auch die Genossen der italienischen KP verwirren, in die er früh eingetreten war. Anstelle politischer Parolen legte er in
seinen Vokalwerken nun labyrinthisch rätselhafte Textnetze aus. Zudem
schuf er über im Saal verteilte Klangerzeuger und Klanginseln Raumklänge und Klangräume, die veränderte Wahrnehmung ermöglichten.
Viele interpretierten das Umdenken des Komponisten Nono als Verrat
an alten Manifesten. Doch für den Dirigenten Ingo Metzmacher hat die
Musik des späten Nono nichts an aufwühlender, auflehnender Kraft
eingebüßt. Speziell ein Großprojekt, das Metzmacher wie kein Zweiter
kennt, besitzt diese für Nonos Schaffen markanten Grundzüge, zu denen
das roh Gewalttätige wie das zum Hinhören zwingende poetisch Zarte
gehören. Die monumentale, aufwändige und hochkomplexe Partitur
des »Prometeo« hat Nono als »Tragödie des Hörens« bezeichnet – sie
beschäftigt sich mit dem Mythos des Feuerbringers und Aufwieglers.
1984 wurde das Prometheus-Werk in einem Bühnenraum uraufgeführt, den der Architekt Renzo Piano in die Kirche San Lorenzo von
Venedig eingezogen hatte. Damals stand Claudio Abbado am Pult. Vier
Jahre später bekam der zukünftige GMD der Hamburger Staatsoper,
Metzmacher, die Chance, »Prometeo« mit Nono für die Berliner Erstaufführung zu erarbeiten. Er sei »ein großer schöner Mann« gewesen,
»der von draußen kam, aus der Wildnis, aus der Freiheit«, so Metzmacher über die Begegnung. Nonos visionäre Anti-Oper, bei der das
Publikum im Zentrum des Klanggeschehens sitzt, hat der gebürtige
Hannoveraner mehrfach, u.a. 1993 bei den Salzburger Festspielen und
2009 während der Kölner Musiktriennale, dirigiert.
Nun steht Metzmacher bei der Ruhrtriennale erneut am Pult des Ensemble Modern. Wie bei allen bisherigen »Prometeo«-Aufführungen ist
Foto: Harald Hoffmann
Klangregisseur André Richard mit den Kollegen vom Experimentalstudio
der Heinrich-Strobel-Stiftung des SWR für die akustische Einrichtung
verantwortlich – also für das komplizierte Spiel zwischen Live-Elektronik,
Gesangs- und Instrumentalsolisten und Orchester. Richard, der bis zu Nonos Tod 1990 eng mit ihm zusammenarbeitete, erwählte zudem die Duisburger Kraftzentrale als idealen Aufführungsort. Wobei ihn nicht nur die
akustischen Voraussetzungen überzeugten, wie Jan Vandenhouwe betont.
Für Richard, so der Chefdramaturg der Ruhrtriennale, spiegele sich in der
Kraftzentrale die Geschichte der Arbeiterschaft und ihrer Ausbeutung;
mithin ein Thema, das Nono bis zuletzt bewegte.
Doch an tagespolitischen Anspielungen fehlt es im »Prometeo«. Vielmehr wird man Zeuge eines musikalisch sich in Extreme ausbreitenden
Kosmos’, gestaltet von vier im Raum verteilten Orchestern über Sänger- und Instrumentalsolisten bis hin zu Chören. Wenngleich dabei die
riesige Textsammlung von Aischylos über Hölderlin bis Walter Benjamin oft bis zur Unverständlichkeit in die Musik eingebettet ist, schwingt
doch die schicksalhafte Menschheitsgeschichte der antiken, indes aktuellen Schöpfungs-Überlieferung mit. »Die Musik klingt herauf wie aus
uralter Zeit und konnte doch nur heute geschrieben sein«, so Metzmacher: »Derjenige, der das Glück hat, einer Aufführung beizuwohnen,
wird es niemals vergessen«.
Luigi Nono, »Prometeo«, Ingo Metzmacher, Ensemble Modern
Orchestra, SCHOLA Heidelberg, Experimentalstudio des SWR,
André Richard (Klangregie), Eva Veronica Born (Raumkonzept) u.a.
8., 11., 12., 13. September 2015, Kraftzentrale Duisburg.
Mit freundlicher Unterstützung der Rudolf Augstein Stiftung. Eine
Produktion der Ruhrtriennale. Sängercasting in Kooperation mit
Holland Festival, Zürich Tonhalle und Festival d’Automne à Paris.
18 | RUHRTRIENNALE SPECIAL
BESCHWÖRER DES UNTERGANGS
TEXT: REGINE MÜLLER
Krzysztof Warlikowski. Foto: Bartek Warzecha
Warschauer Begegnung mit einem Schwanensänger:
Der polnische Theater- und Opernregisseur Krzysztof Warlikowski inszeniert
»Die Franzosen« nach Marcel Prousts großer Roman-»Recherche«.
Mittagszeit, die Sonne steht hoch am östlichen Himmel von Warschau.
Die Hitze und sommerlich heitere Stimmung ignorierend, taucht Krzysztof Warlikowski auf der Terrasse des Restaurants in einem warmen Pullover auf. Bleich und hager, ein Winter-Mensch. Eine Art freundliches
Desinteresse umgibt ihn. Doch dann redet er sich schnell in Rage, intensiviert seinen bohrenden Tonfall, der nur gemildert wird durch die Fremdsprache Englisch. Viel verrät er nicht über seine Annäherung an Prousts
monumentalen Roman-Zyklus »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit«.
Natürlich könne es keine Adaption sein, »das will ich nicht einmal vortäuschen. Es ist vielmehr eine Inspiration«.
Warum nennt er seine Proust-Kontaktnahme »Die Franzosen«? Zunächst einmal sei er »sehr stark beeinflusst von der französischen
Kultur. Das gilt generell für Polen, es gibt seit jeher eine innige, fast
sentimentale Beziehung zwischen den Kulturen. Auch historisch be-
gründet, denn wir haben nie Krieg gegeneinander geführt. Zwischen
uns liegt eben Deutschland!« Sodann, seine Textfassung beziehe sich,
bis auf eine kurze Passage von Fernando Pessoa, ausschließlich auf
Proust. »Aber ich konnte es doch unmöglich ›Auf der Suche nach der
verlorenen Zeit‹ nennen, das wäre ein hohler Titel, bei dem man schon
einschläft, wenn man ihn hört.«
Die Proben zu »Die Franzosen« laufen seit Monaten in Warschau. Ein
halbes Jahr insgesamt. Das ginge nicht im regulären, institutionalisierten Betrieb. Wohl aber in Warlikowskis Nowy Teatr, das offiziell im Oktober eröffnen und kein traditionelles Theater sein wird, sondern ein
multifunktionaler Ort. Er habe das »normale Theater längst verlassen
und die kanonisierten Theatertexte«. »Ich hatte das Glück, dass man mir
Geld gab für mein eigenes Theaterprojekt. Weil meine Schauspieler berühmt sind. Und weil ich berühmt bin«, lacht er.
K.WEST 07_08/2015 | 19
Umwerfende Musikalität, kombiniert mit untrüglichem Sinn für fiebrig zwingende Bilderfluten und Mut zu archaischem Pathos zeichnen
Warlikowskis Bühnenarbeiten aus. Sie sind zugleich von zeitloser Wucht
und hellsichtiger Gegenwart.
Weshalb unbedingt Proust? Da holt er weit aus. Für Warlikowski, den
1962 in Stettin geborenen, den Dandy kultivierenden Künstler, gibt es
nur wenige Dichter vom Format Prousts; er zählt auf: Thomas Mann,
Dostojewski, Kafka. »Wie Proust kreisten diese Dichter um das Ende
einer Zeit, nämlich der vor dem Ersten Weltkrieg. Die Umbruchphase zwischen dem 19. und 20. Jahrhundert, als die Hierarchien zusammenbrachen, die Weltordnung sich radikal veränderte und eine
Kultur unwiederbringlich zerstört wurde. Das ist durchaus zu vergleichen mit dem Untergang der Kultur der Maya. Proust und Kafka
waren Propheten. Sie haben den seltsamen Zustand, in dem Europa
sich jetzt befindet, voraus geahnt. Auch Pessoa! Wenn man seinen Text
›Ultimatum‹liest, glaubt man, dass er das heutige Europa beschreibt«.
Aber das ist noch nicht alles, was ihn zu Proust motiviert. Für den
Dichter der »Recherche« spielte die Dreyfus-Affäre eine große Rolle
– »ein Fundament seines Romans. Und ein höchst aktuelles Phänomen! Bei Charlie Hebdo gingen die Franzosen zu Tausenden auf die
Straße, mit einer zweifelhaften Besetzung in der ersten Reihe. Das war
die letzte französische Revolution! Doch wer ist nach den Anschlägen
auf französische Juden auf die Straße gegangen?«, fragt Warlikowski.
Noch etwas fasziniert ihn an Proust. »Er war auch ein Lügner, musste es
sein, der als Homosexueller aus seinem Roman-Alter-Ego Swann einen
Liebhaber von Frauen machte«.
Vor 13 Jahren hat sich Warlikowski, der u.a. Giorgio Strehler, Ingmar
Bergman und Peter Brook assistiert hat und mehrfach von Gerard Mortier für die Pariser Oper engagiert wurde, erstmals mit einer Dramatisierung von Prousts Roman beschäftigt, zu sehen beim Festival »Theater der
Welt« – in Bonn. Damit habe sein neues Projekt nichts mehr gemein, sagt
er. Es sei eine ganz andere Zeit gewesen. Sein Resümee: »Heute leben wir
in einer leeren Zeit, die um das Jahr 2000 schleichend begann, nach all
den Hoffnungen durch den historischen Umbruch in Osteuropa, als wir
noch nicht an Geld und Zukunft dachten, als wir noch graue Intellektuelle waren, im kommunistischen Polen aufgewachsen. Aber dann sind wir
irgendwie verdorben, die Energie verpuffte. Ein Phänomen, das beide Seiten betrifft, nicht nur die Gesellschaft, auch uns Künstler. Wir befinden
uns in einem toten Moment.«
Um als Künstler gegen diese Stagnation anzugehen, brauchte es für ihn
»eine schlüssige Diagnose. Doch man kann für die heutige Zeit keine
Diagnose wagen. Als Künstler kann ich nur darauf warten, wieder aufzuwachen. Oder es wird so weitergehen, noch über Jahre.« Die Welt im
Wachtraum, die Welt der Schlafwandler – eine Proust-Fantasie.
Wer eine Warlikowski-Inszenierung der letzten Jahre kennt, muss energisch widersprechen. Auch wenn er als Theaterregisseur bei uns wenig
präsent ist, seine Arbeiten für die Oper sind von brennender, verstören-
der Brisanz. Sein Brüsseler »Don Giovanni« etwa zeigte schonungslos
und mit einigem Zynismus eine übersexualisierte Gesellschaft. Alban
Bergs »Lulu«-Partitur (ebenfalls in Brüssel) verlängerte er mit stummen
Einlagen und ließ Rosalba Torres Guerrero aus Alain Platels legendären
»Les Ballets C de la B« fünf quälende Minuten ein Sterbesolo tanzen
und sich als schwarzer Schwan die Federn einzeln ausreißen, während
man nur das dumpfe Plockern der Spitzenschuhe auf dem Bühnenboden hört. Dabei sieht der Tänzerin auch Lulu zu, kostümiert als weißer
Schwan. »Lulu« ist für ihn die letzte echte Oper: »Kein Komponist hat
mehr in seine Libretti investiert. Ich weiß, danach gibt es noch Zimmermanns ›Soldaten‹, und aktuelle Opernkomponisten wie Ades, aber das
ist doch alles kommerziell! Auch Penderecki schreibt letztlich auf Bestellung«. So bohrt er in der Wunde seines Unglücks mit der Gegenwart.
Warlikowskis Lieblingswort ist »vulgar«. Er spricht es betont breit aus, gedehnt wie Clawdia Chauchat auf dem »Zauberberg«, darauf kauend wie
auf einem Kaugummi. »Ich bin umgeben von Vulgarität! Wenn man in
Warschau in eine Opernpremiere geht, erlebt man etwas, wie sonst nirgends auf der Welt: 100 Paparazzi warten auf Celebrities aus TV-Shows!«
Das Fernsehen verdammt er als »Gift« und »Horror«, wo es keinerlei
Ethik mehr gebe. Sollte das Theater dagegen halten, als moralische Instanz im Sinne Schillers? »Theater ist nicht moralisch. Aber Theater ist
engagiert und politisch. Jedes Stück über eine Frau ist automatisch ein politisches Stück!«, so Warlikowski. Ein Stück über das Pariser Fin de siècle
bei ihm vermutlich auch.
»Die Franzosen« nach Marcel Proust, Regie: Krzysztof Warlikowski
21. – 23. und 28. – 30. August 2015,
Maschinenhalle Zweckel, Gladbeck.
Mit freundlicher Unterstützung der Stiftung für Deutsch-Polnische
Zusammenarbeit. Kooperationspartner: Polnisches Institut Düsseldorf.
Eine Koproduktion der Ruhrtriennale und des Nowy Teatr mit
weiteren Koproduzenten.
20 | RUHRTRIENNALE SPECIAL
EINE IDEE
VON DER HÖLLE
INTERVIEW: NICOLE STRECKER
Das Konstanteste an Richard Siegal ist
vielleicht die Wollmütze auf seinem Kopf,
sein choreografischer Stil jedenfalls ist
es nicht. Siegal als Schöpfer durchgeistigter
Selbsterforschungs-Soli, als Organisator
einer missionarischen Tanzparty, bei der
er selbst als »Co-Pirate« und Super-Plagiator kopierend zwischen indonesischen
Fächertänzerinnen, Hip-Hoppern und greisen Swing-Tänzerinnen herumtanzt.
Und Siegal als hochbegabter StadttheaterChoreograf, der die Tanzakademik in die
Gegenwart kickt.
Tanzen ist Denken und Forschen –
das Credo von William Forsythe gilt offenbar
auch für Siegal, der sieben Jahre lang
Mitglied beim Ballett Frankfurt war. Für die
Ruhrtriennale erarbeitet er erstmals
eine Trilogie. Das Auftaktstück: »Model«,
choreografiert für das Bayerische Staatsballett
und die Tänzer seiner Kompanie »The
Bakery«. Der menschliche Körper als Modell
– Fetisch, Projektionsfläche für Ideologien,
Kraftzentrum? Ein Gespräch mit Richard Siegal
über die Hölle, die Moral und die Schönheit der Mathematik.
Bespielt das Salzlager auf Zollverein: Choreograf Richard Siegal. Foto: Denislav Kanev
K.WEST 07_08/2015 | 21
K.WEST: Ausgangspunkt Ihrer Arbeit wird Dante Alighieris »Göttliche
Komödie« sein. Dann geht es also erst mal in die Hölle?
SIEGAL: Johan Simons wünscht sich eine Trilogie von mir während
seiner drei Jahre als Intendant. Deshalb habe ich nach einer Form
gesucht, mein Denken zu strukturieren, so kamen ich und der Dramaturg Tobias Staab auf die Idee, Dante zu folgen in der Reihenfolge:
Inferno – Purgatorium – Paradies. Ich versuche aber nicht, dieses
große Werk der Literatur narrativ zu inszenieren. Es funktioniert als
dramaturgische Basis.
K.WEST: Und Ihre Hölle?
SIEGAL: Eine Antwort darauf gibt die Musik von Lorenzo Bianchi. Sie
ist sehr aggressiv, fast gnadenlos, manchmal sogar sadistisch. Bei mir
löst die Idee von Hölle nicht viel Resonanz aus. Das christliche oder
auch Dantes Konzept hat in meinem Leben keine Bedeutung.
K.WEST: Aber Sie haben mal Theologie studiert.
SIEGAL: Okay, vielleicht haben Sie recht: Einer der Gründe, weshalb
ich mich für Dante entschieden habe, war zu verstehen, was mich vor
über 20 Jahren bewogen hat, Theologie zu studieren. Heute interessiert
mich eine Idee von der Hölle, älter als die mittelalterlichen Konzepte.
Eine Art Ur-Hölle, Emotionen wie Wut und Leiden, die ein Konstrukt
wie das Christentum überhaupt erst motiviert haben.
K.WEST: Also eine Art Psychohölle? Aber im Tanz geht es immer auch
um Körperbilder. Kann der Körper eine moralische Instanz sein?
SIEGAL: Der Abend beginnt mit dem 2014 entstandenen »Metric Dozen« als Art Gegenpart zu »Model«. »Metric Dozen« untersucht, welche Spannungen entstehen, wenn der Körper reglementiert wird. Wenn
uns die Gesellschaft vorschreibt, wie Männer sein sollten und wie Frauen, und unsere natürliche Sexualität mit dem sogenannten Gender in
Konflikt gerät, der Körper also mit gesellschaftlichen Normen kollidiert. »Metric Dozen« zeigt Männer, die ihren Körpern zugestehen,
feminisiert zu sein. Ihnen dabei zuzusehen, ist befreiend.
K.WEST: Sind wir dann nicht schon im läuternden Purgatorium?
SIEGAL: Diese Performance ist tatsächlich kathartisch. Aber zur Frage: Ist der Körper moralisch? Für mich, nein. Der Körper ist Materie,
aber Moral wird ihm übergestülpt. Moral ist ein soziales Konstrukt;
alle Ideologien manifestieren sich auch im Körper. Der Tanz kann diese Ideologien hinterfragen, den Diskurs vorantreiben, wie Körper sein
sollen oder können – das ist eine moralische Frage.
K.WEST: Wird es wieder Spitzentanz geben?
SIEGALl: »Model« ist Spitzentanz, klar. Ich liebe es, mit der Kompetenz
von anderen zu arbeiten, egal ob Balletttänzer oder Volkstänzer, jedes
Wissen ist potentiell Material für Choreografie. Die Tänzer vom Bayerischen Staatsballett sind außerordentlich kompetent im Umgang mit
Spitzenschuhen, sie sind in ihnen zu Hause.
K.WEST: Bei Dante spielt Zahlensymbolik eine große Rolle. Das deckt
sich mit Ihrem Interesse an der Mathematik...
SIEGAL: Es scheint bei Dante eine Art kabbalistischer Zahlen-Mystik
zu geben. Das Werk ist Dichtung, also gibt es Rhythmus und damit
notwendig Mathematik. Mein Interesse an Mathematik ist nicht so
mystisch wie bei Dante. Mich interessieren auch algorithmische Operationen, Programmierung, nicht zu einem bestimmten Zweck, sondern
wegen des Programmierens selbst.
K.WEST: Ist es die Schönheit der Mathematik, die Sie fasziniert?
SIEGAL: Sie ist wunderschön. Gibt eine Vorstellung von Ordnung,
Vernunft in einer Welt, die so anfällig für Absurdität ist.
K.WEST: Sie haben eine choreografische Praxis entwickelt: die »Ifthen-Methode«. Wenden Sie die auch hier an?
SIEGAL: Bei dieser Methode ist die Beziehung zwischen Gesten wichtiger, als der Inhalt der Gesten. Es findet keine Bewertung der Gesten
statt. Im Kern geht es um beobachtbare, wiederholbare Phänomene.
Um die Prinzipien, wie Informationen von einem Körper zu einem
anderen übermittelt werden. Es ist pure Forschung, mehr wissenschaftlich als künstlerisch. Ihre Möglichkeiten scheinen unbegrenzt. Solange
sie zu mir spricht, werde ich sie anwenden.
K.WEST: Sie bespielen das Salzlager auf Zollverein. Darin gibt es die
begehbare Installation »The Palace of Projects« des Künstlerpaars Kabakov. Problem oder Potenzial?
SIEGAL: Alles, was man auf die Bühne stellt, kommuniziert. Und trifft
eine Aussage. Die Architektur des Raums, die Installation, die Geschichte
des Gebäudes, des Geländes – all das liefert Kontext, auch wenn ich die
Themen nicht aktiv verfolge. Aber es gibt einen interessanten Aspekt: die
Kokerei als Ort von Feuer, Asche, brutaler Schufterei, und die Leiden, die
damit einhergingen. Ein sehr passender Raum für diese Arbeit.
K.WEST: Sie waren von 1997 bis 2004 bei William Forsythe. Jetzt sind
Sie für den Rest Ihres Lebens »Ex-Forsythe-Tänzer«. Ist das ein beengendes Etikett für den Choreografen?
SIEGAL: Es gibt nun mal den Mechanismus, dass man das Neue mit
dem Bekannten vergleicht. Deshalb vergleicht man meine Arbeit mit
der von Bill. Bill war einfach das richtige Genie zur richtigen Zeit. Wer
als Tänzer in seine Nähe kam, wurde in seinen Orbit gezogen, was auch
bedeutet: Der »Ex-Forsythe-Tänzer« öffnete mir Türen, als ich als Choreograf anfing. Ich musste nur sagen: »Ballett Frankfurt« und bekam
ein Treffen. Dafür bin ich dankbar. Zudem würde ich wetten, als Bill
in den 1980er Jahren anfing, hatte er am Vergleich mit George Balanchine zu leiden. Glenn Gould spricht von der Kunst als einer Kultur
eher der Modifikation als der Neu-Erfindung. Es ist relativ neu, dass wir
der Innovation eine so große Bedeutung zuschreiben. Früher wurde die
Bedeutung der Imitation und Modifikation im kreativen Prozess wertgeschätzt. Heute wird das abgetan, aber eigentlich ist das die Art, wie
Menschen lernen. Letztlich beschäftigt mich heute dasselbe wie andere
Choreografen auch, einschließlich Bill.
K.WEST: Und das ist was?
SIEGAL: Ich bin immer noch besessen vom menschlichen Bewegungspotenzial. Seit einiger Zeit kehre ich zurück zu Fähigkeiten, die ich in
New York gelernt habe, bevor ich nach Frankfurt kam. Damals habe ich
mit absolut jedem Choreografen gearbeitet, der mich wollte. Ich war
gierig nach Stilen, war wie ein Schwamm und wollte vom klassischen
Ballett zu Capoeira, HipHop, Release Technik, Cunningham, Graham,
Limón, einfach alles aufsaugen. Das kommt heute stark zurück.
»Model«: Choreografie, Konzept, Video und Bühne: Richard Siegal
15., 16., 21., 22. August; Salzlager, Welterbe Kokerei Zollverein.
Eine Produktion der Ruhrtriennale in Koproduktion mit dem Bayerischen Staatsballett und dem Festspielhaus St. Pölten in Zusammenarbeit
mit der Muffathalle München und CCN Montpellier.
22 | RUHRTRIENNALE SPECIAL
AUSSERDEM –– SEHENS- & HÖRENSWERT
SCHÖNES RAUSCHEN
»Ritournelle« in Bochum Unter dem sophisticated angehauchten Titel »Ritournelle« setzt die
Ruhrtriennale zu Beginn einen popkulturellen Akzent. Das Lineup,
bereits in München mehrmals erfolgreich erprobt, bewegt sich im
Grenzbereich von Postrock, Indie und elektronischer Musik und vereint Liveacts mit DJ-Auftritten. Topacts sind The Notwist und Caribou,
die im Oberbayrischen beheimatete Lieblingsband des Filmemachers
Hans-Christian Schmid, so wie eines jeden kulturaffinen Indie-Hörers,
der die Genre-Überschreitung von atmosphärischem Gitarrensound
und Elektronik als Pop-Avantgarde feiert. Weiterhin bespielen das weitläufige Areal der Jahrhunderthalle Bochum der umschwärmte Kanadier Caribou, dem die Zeit bescheinigt, nicht nur ein »Ausnahmefrickler
akustischer Effekte, sondern auch ein großer Brückenbauer« zu sein;
außerdem dabei: Barnt, Pantha du Prince, Roman Flügel, Resident des
legendären Offenbacher Klubs Robert Johnson, sowie HeCTA. Letzteres ist das neue Projekt des Lambchop-Frontmannes Kurt Wagner, das
seinen ausgefuchsten Elektro-Pop-Sound als Weltpremiere präsentiert.
15. August, Bochum, Jahrhunderthalle.
LÜCKEN FÜLLEN
Drei Installationen Leer stehende Läden in den Stadt-Zentren – Zeichen des Niedergangs und
Symbole der Ratlosigkeit. In Bochum, Dinslaken und Duisburg nehmen
sich für die Projektreihe »Ausstellungsstück« junge Künstler verwaister
Schaufenster an. Kunst als Antwort auf Fragen der Leere. Mit den Lücken im
Großstadtleben beschäftigt sich auch das von fünf Künstlern aus Australien,
Schottland und den Niederlanden entwickelte »Nomanslanding« im ehemaligen Eisenbahnhafen Duisburg-Ruhrort. Für eine 30-minütige Performance
kommen Menschen aus zwei Richtungen auf dem Wasser zusammen: Was
getrennt war, wird eins. Eine Begegnung kann auch ein Schock sein, ein
Clash von Ideen und Wahrnehmung, wie ihn Julian Rosefeldt in seiner für
den Landschaftspark Duisburg-Nord konzipierten Film-Installation »The
Creation« inszeniert. Der Mensch hat sich die Erde untertan gemacht: Wurde er damit zum Schöpfer oder doch eher zum Zerstörer?
»Ausstellungsstück«, 15. August bis 26. September
»Nomanslanding«, 15. August bis 13. September
»The Creation« (working title): 28. August bis 26. September.
MORGENRÖTE
Haydns »Schöpfung«, Collegium Vocale Gent & B’Rock Or - chestra unter René Jacobs; Filminstallation: Julian Rosefeldt Die Aufklärung ist wirksam in Joseph Haydns Oratorium nach Gottfried
van Swietens Text-Bearbeitung von Miltons »Paradise Lost«. Der Weg
des Menschen, von Adam und Eva, führt darin zur Selbstbestimmung –
vom Chaos vor der Ordnung zur Morgenröte. Die Musik ist sonnenklar.
Auf den Industriehalden des Reviers und in den Atlas Filmstudios von
Marokko, wo schon mancherlei Mythen und Fantasie-Welten visualisiert wurden, hat der Filmkünstler Julian Rosefeldt gedreht, um Haydns
»Schöpfung« nicht profan zu bebildern, sondern einen Zusammenhang
zu stiften, der mit Motiven des Romantischen spielt, ohne sich darin zu
verlieren. Weniger Traum, als dessen Analyse.
27. August, Kraftzentrale, Landschaftspark, Duisburg-Nord.
DAS HERZ ALLER DINGE
»Die stille Kraft« von Louis Couperus in Essen Die von Ivo van Hove mit der Toneelgroep Amsterdam entwickelte Adaption des Romans »Die stille Kraft« von Louis Couperus ist neben dem
Zola-Zyklus die zweite Trilogie, die die Ruhrtriennale während drei
Jahren zeigt. Er habe sich, so Couperus (1863-1923) selbst, in seinem
Werk am »Fragezeichen« abgearbeitet. Auch in dieser Geschichte des
Ehepaars van Oudijck, spielend um 1900 in der niederländischen Kolonie auf Java. Es sind religiöse, philosophische und ideologische Fragen
– der Glaubenskonflikt. Unserer säkularen Gesellschaft steht mit der
asiatischen Geisteshaltung ein anderes Modell gegenüber, bei dem Gott
bzw. Allah höchsten Rang behaupten. Vielleicht erinnern die existentiellen Konflikte, die dramatischen Gefühls-Krisen und die symbolische
Behandlung der Naturerscheinungen an Graham Greene, der ebenfalls
das Herz aller Dinge zu öffnen suchte.
18. bis 24. September 2015, Salzlager, Kokerei Zollverein, Essen.
TANZ, DER BEWEGT
»Until Our Hearts Stop« & »Die Weise von Liebe und Tod« Für Freaks und Outlaws hat die US-amerikanische Choreografin Meg
Stuart eine Schwäche. Jetzt widmet sie ihnen ein Stück und zitiert in
der Ankündigung einen großen, tragischen Liebenden: den Sammler
Cornelius Gurlitt. Nichts habe er so geliebt wie seine Bilder, bekannte
der Eigenbrötler, der starb, während die Welt über den Verbleib seiner
Bilder stritt. Stuart sieht in jeder Bewegung einen Ausdruck von Begehren. Dabei ist die mit ihrem Vokabular zitter-stotternder Körper eine
Meisterin darin, im Verlangen auch immer schon die Verweigerung zu
zeigen. Leidenschaft bis zum tödlichen Ende: »Until Our Hearts Stop«.
17. bis 20. September, PACT, Zollverein, Essen.
*
Anne Teresa De Keersmaeker gastierte erstmals 2008 bei der Ruhrtriennale und dann immer wieder. Wie im vergangenen Jahr beschäftigt
sie sich mit der Umsetzung von Lyrik. Die Quelle von Bewegung sei der
Atem, meint die Choreografin. Aus Atem wird Klang, aus Klang Sprache
und aus Sprache Gesang: so auch in Rilkes Erzählung »Die Weise von
Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke«, verfasst im jugendlichen
Schaffensfieber. Liebeslust und Heldentod als Daseinssteigerung – dies
der Gedanke der Dichtung in ihrer Sprach-Rhythmisierung. Vor einigen Jahren sorgte De Keersmaeker mit ihrem Solo »One« zu Songs der
Friedens-Folkerin Joan Baez für Furore. Jetzt steht sie auf der Bühne
zu einem »Gesang«, der einst als Kriegspropaganda missbraucht wurde.
Die Künstlerin wird gewiss kühl-intellektuelle Distanz wahren.
Preview am 23.9.
24. bis 26. September, Gebläsehalle, Landschaftspark, Duisburg-Nord.
BULGARIA
Hier spielt die Phantasie
www.das-festspielhaus.de
12 – 17.09.2015
DAS RHEINGOLD 12.09.2015 19:00 Uhr
SIEGFRIED
DIE WALKÜRE
GÖTTERDÄMMERUNG 17.09.2015 17:00 Uhr
13.09.2015 17:00 Uhr
KARTENVORVERKAUF:
15.09.2015 17:00 Uhr
Hier spielt die Phantasie
www.das-festspielhaus.de
Unter der Schirmherrschaft S.E. Herrn Rosen Plevneliev, Präsident der Republik Bulgarien
Mit der besonderen Unterstützung des
Ministeriums für Kultur
Ministeriums für Tourismus
Ministeriums für Auswärtige Angelegenheiten
der Botschaft der Republik Bulgarien in Berlin
der Stadtverwaltung
von SOFIA
United Nations
(GXFDWLRQDO6FLHQWL¿FDQG
Cultural Organization
City of Film
Designated UNESCO
Creative City in 2014
Gemeinde
KAZANLAK
der Gemeinde
BANSKO
© Yun Lee, Düsseldorf
Mischa Kuball /
Konzeptkünstler
Kennen
wir uns?
www.kulturkenner.de