Rucksack KiTa

Handbuch für ErzieherInnen
Rucksack KiTa
Handbuch für Erzieherinnen
und Erzieher
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Impressum
Handbuch für ErzieherInnen
2
Impressum
Titel:
Rucksack KiTa: Handbuch für Erzieherinnen und Erzieher
Herausgeber:
Regionale Arbeitsstellen zur Förderung von Kindern und
Jugendlichen aus Zuwandererfamilien (RAA).
Anschrift:
Hauptstelle der RAA/NRW
Tiegelstraße 27
45151 Essen
Tel. 0201 / 83 18 304
Fax: 0201 / 83 28 333
E-mail: [email protected]
www.raa.de
Gestaltung:
Konzept: Monika Frei-Herrmann
E-mail: [email protected]
Redaktion:
Livia Daveri
E-mail: [email protected]
Dr. Monika Springer-Geldmacher
Magali Schüssler
Erscheinungsjahr: 2009
Inhaltsverzeichnis
Handbuch für ErzieherInnen
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
4
1. Sprachförderung von Kindern mit Migrationshintergrund
7
Halima Zaghdoud: Interkulturelle Begegnung in der Kita
7
Rosemarie Tracy: Sprachförderung in Kindertagesstätten: Natürliche
Begabungen nutzen
12
Standards für die Sprachförderung
16
Olaf Bärwald/Anne Meyer/Magali Schüssler/Monika Springer:
Methoden der Sprachförderung
20
Olaf Bärwald/Anne Meyer/Magali Schüssler/Monika Springer:
Materialien für die spezielle Sprachförderung
28
Monika Springer: Exkurs: Literacy –Erziehung
32
Reyhan Kuyumcu: Zu einer Kultur der gegenseitigen Teilhabe - im
Kindergarten mit Migrantenfamilien Literalität entwickeln
36
2. Das Programm Rucksack
44
Monika Springer: Das Konzept
44
Monika Springer: Wieso heißt der Rucksack Rucksack?
48
Isabell Schaefer: Die wesentlichen Begriffserklärungen zu Rucksack
49
Anne Meyer: Organigramm des Rucksacks
52
Halima Zaghdoud: Rucksack in der Kita - gewünschte Nebenwirkungen
53
Isabel Schaefer/Monika Springer: Prinzipien: was der Rucksack braucht
55
Monika Springer: Rahmenbedingungen für die Durchführung des
Rucksack-Projekts
60
3. Materialien der Sprachförderung
Hans H. Reich: Konzept und Prinzipien für die Kita-Aktivitäten
68
68
Anhang
76
Vereinbarung zur Durchführung des Rucksack KiTa-Projektes
76
Standards für die Umsetzung von Rucksack KiTa
79
3
Vorwort
Handbuch für ErzieherInnen
4
Vorwort Handbuch Rucksack KiTa für
Erzieherinnen und Erzieher
Im Jahre 1998 hatte der Arbeitskreis IKEEP (Interkulturelle Erziehung im
Elementar- und Primarbereich der Regionalen Arbeitsstellen zur Förderung von
Kindern und Jugendlichen aus Zuwandererfamilien (RAA) in NRW) das aus den
Niederlanden stammende Programm „Rucksack I“ adaptiert und für den Einsatz in
Deutschland übersetzt und überarbeitet. Der interkulturelle und interaktive Ansatz
wurde herausgearbeitet und der Lebensweltbezug für die Bedingungen in
Deutschland hergestellt. Seit 1998 wurde „Rucksack Kita“ zunächst in den RAAStädten, dann auch bald darüber hinaus in NRW-Kommunen ohne RAA und in
vielen anderen Bundesländern umgesetzt – Jahr für Jahr mit steigender Tendenz.
Es hat sich in der Zwischenzeit bewiesen, dass „Rucksack Kita“ ein Programm ist,
das sich gut in der Breite verwirklichen lässt.
Nach acht Jahren Arbeit mit der ersten Version „Rucksack I“ können wir Dank der
finanziellen Unterstützung durch das Ministerium für Generationen, Familien,
Frauen und Integration, NRW, und der Freudenberg Stiftung, Weinheim, nach
zweijähriger Arbeit eine überarbeitete Fassung „Rucksack Kita“ vorstellen. Bislang
gehörte zu dem Programm Rucksack Kita Elternmaterial für die Hand der Eltern,
Übungsblätter für die Aktivitäten der Eltern mit ihren Kindern und ein Handbuch
für Elternbegleiterinnen zur Vorbereitung und Begleitung des Elternprogramms.
Den am Programm beteiligten KiTas haben wir bislang verpflichtend aufgegeben,
das Programm der Eltern zu parallelisieren, im Regelbereich, wann immer sich
situativ das Thema, das die Eltern aktuell bearbeiteten, einbeziehen lässt oder in
Sprachfördergruppen durch Sprachfördermaterialien, die die Themen des
Rucksacks auch enthielten und daher thematisch zum Rucksack kompatibel
waren.
Einige Erzieherinnen und Erzieher haben sich mit viel Phantasie dieser Aufgabe
der zweigleisigen Sprachförderung gewidmet, anderen fiel es im KiTa-Alltag
schwer, den Faden der Parallelisierung aufzunehmen, einige haben gar das
Elternmaterial als Sprachfördermaterial eingesetzt, ein Missverständnis das es
auszuräumen gilt. Denn das Elternmaterial ist kein Sprachfördermaterial für die
Zweitsprache Deutsch, sondern ein Elternbildungsmaterial, das den Eltern die
Kompetenz vermittelt, Ihre Kinder in der Regel mithilfe ihrer Muttersprache in ihrer
sprachlichen und allgemeinen Entwicklung zu fördern.
Die Zweigleisigkeit des Rucksack Programms ist vor dem Hintergrund vieler
Sprachfördermaterialien, die in den letzten Jahren entstanden sind,
hervorzuheben, weil es nicht nur ein Element für die Entwicklung der Kinder mit
Zuwanderungsgeschichte anpackt sondern zwei: nämlich die Parallelisierung der
Arbeit der Eltern mit der Zweitsprachenförderung durch die Erzieherinnen und
Erzieher.
Vorwort
Handbuch für ErzieherInnen
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Die Schwierigkeiten, die einige Erzieherinnen und Erzieher mit der parallelisierten
Aufnahme des Rucksack-Programms für eine Förderung der Zweitsprache
Deutsch hatten, haben uns bewogen, nun auch ein Handbuch für Erzieherinnen
und Erzieher aufzulegen, in dem wir neben der Wichtigkeit des Programms für die
Eltern die Sprachförderung der Erzieher und Erzieherinnen in den Vordergrund
rücken:
1. Es soll die Notwendigkeit der Sprachförderung von Kindern mit
Migrationshintergrund im Regelbereich und in gezielten Sprachfördergruppen
aufgezeigt werden. In enger Verknüpfung mit der interkulturellen Erziehung
werden Standards und Methoden der Sprachförderung dargelegt. Es werden
Materialien vorgestellt, die aufgrund der Themennähe zum RucksackElternprogramm kompatibel für eine zweigleisige Förderung sind. Es wird ein
besonderer Schwerpunkt auf die Literacy-Erziehung gelegt, die das Ziel hat,
den Kindern die Sprache der Literalität zu vermitteln, die sie benötigen, wenn
sie in der Schule erfolgreich sein wollen.
2. Es
wird
das
Rucksack-Programm
in
seinen
Prinzipien
und
Rahmenbedingungen dargestellt und der Anteil der Erzieherinnen und Erzieher
hervorgehoben.
3. Es werden das Konzept und die Prinzipien für die neu erstellten RucksackSprachförderaktivitäten vorgestellt.
Kern
des
dritten
Kapitels
dieser
Handreichung
sind
einundsiebzig
Sprachförderaktivitäten, die fünf der Rucksack-Elternthemen durch jeweils ca.
fünfzehn Sprachförderaktivitäten aufnehmen.
Zu diesem Zweck hatten wir zunächst Sprachförderaktivitäten durch die
Spielpädagogin Petra Geukes nach dem Prinzip der Ganzheitlichkeit entwickeln
lassen. Wir ließen uns von der Überzeugung leiten, dass das wichtige Prinzip der
Wiederholung als Handlungsleitung für sprachfördernde Aktivitäten ausreichen
würde. Aus spracherwerbstheoretischer Sicht standen in den Aktivitäten die BICS
(Basic Interpersonal Communicative Skills) im Vordergrund. Es machten uns aber
die Experten und Expertinnen für Deutsch als Zweitsprache darauf aufmerksam,
dass Wiederholung alleine nicht ausreiche, um Kindern die Struktur der zweiten
(oder dritten) Sprache zu vermitteln, Struktur, die sie benötigen, um über Sprache
im Sinne von CALP (Cognitive-Academic Language Proficieny) als Voraussetzung
für schulisches Sprachverstehen zu verfügen.
Wir haben uns bei der Bearbeitung der Spielvorschläge der Spielpädagogin der
Expertise von Prof. Hans H. Reich und seiner Mitarbeiterin Magali Schüssler
vergewissert, die uns mit einem handlungsleitenden Konzept halfen, die
Aktivitäten so zu bearbeiten, dass sie neben dem Wortschatz, der
Erzählkompetenz auch die Struktur der Zweitsprache Deutsch berücksichtigten –
immer nach dem Prinzip der Parallelisierung zum Elternmaterial und dem Prinzip
der Wiederholung. Neu eingeführt wurde das Prinzip der Berücksichtigung von
unterschiedlichen Leistungsniveaus der Kinder, um dem Primat der
individualisierten Förderung des Kindes Rechnung tragen zu können. Wir haben
die Förderaktivitäten für Kinder im Alter von vier Jahren gestaltet. Dies schränkt
Vorwort
Handbuch für ErzieherInnen
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die Parallelisierung zwischen Elternmaterial und Sprachförderaktivitäten streng
genommen auf dieses Alter ein, ist aber aufgrund der Empfehlung zu
rechtfertigen, Kinder so früh wie möglich in ihrer Mehrsprachigkeit zu fördern.
Diese frühe Förderung sollte spätestens im Kindergarten im Alter von vier Jahren
einsetzen, um den Kindern Zeit zu geben, ihre zweite Sprache gut zu entwickeln
und sich in ihr dem Leistungsstand von einsprachigen Kindern anzunähern.
Es sollte sicherlich möglich sein, die Sprachförderaktivitäten in der Zweitsprache
Deutsch auch für ältere Kinder, die im Aneignungsprozess des Deutschen am
Anfang stehen, anzuwenden. Die Anwendungsmöglichkeiten sollen in der
kommenden Zeit wissenschaftlich evaluiert werden. Die Ergebnisse werden den
Anwendern auf der Intranetseite dargestellt, die den Zugang zum Materialpaket
Rucksack KiTa für berechtigte Nutzer ermöglicht.
Im Teil „Materialien der Sprachförderung“ wird von Prof. Hans Reich das Konzept
für den Aufbau der Kita-Aktivitäten dargelegt, im „Materialpaket Kita-Aktivitäten für
die parallele Förderung der Kinder in der Zweitsprache Deutsch“ wird das Format
der einzelnen Aktivitäten von Magali Schüssler beschrieben. Diese Darlegung soll
der Erzieherin/dem Erzieher als Folie dienen, weitere Sprachförderaktivitäten
selber zu erstellen.
Uns ist es sehr wichtig zu vermitteln, dass eine gute Sprachkompetenz, die den
Kindern in ihrem späteren schulischen Leben eine erfolgreiche Teilhabe
verspricht, sich nicht von selber einstellt. Um eine Sprache auf hohem Niveau zu
erlernen, brauchen die Kinder laut Reich (s. S. 68 ff.) kommunikative Beteiligung,
Redegelegenheiten, Rückmeldung auf Redebeiträge und Zeit zur Verarbeitung
von Gehörtem. Dies sollte zum einen in der Familie erfolgen, die wir mit dem
Elternmaterial für diese Aufgabe fit machen wollen. Dies soll zum anderen im
Bildungsbereich geschehen. In den Kindertageseinrichtungen sind - um diese Ziel
zu erreichen - kleine Gruppen notwendig, in denen eine konzentrierte
Sprachförderung in diesem Sinne bewerkstelligt werden kann. Die RAA wird
bemüht sein, Weiterbildungsangebote für Erzieherinnen und Erzieherinnen für
eine gute Parallelisierung des Rucksack Elternmaterials anzubieten.
Die Regionalen Arbeitsstellen zur Förderung von Kindern und Jugendlichen aus
Zuwandererfamilien (RAA) wünschen Ihnen viel Freude bei der Sprache
fördernden Arbeit mit den Kindern und wir hoffen, dass dieses Handbuch Ihnen
dabei Unterstützung gibt. Über Rückmeldungen, Korrekturen und Ergänzungen
aus der Praxis würden wir uns jederzeit freuen.
Wir möchten Dank sagen all jenen, die an der Erarbeitung des Handbuchs
„Rucksack Kita“ für Elternbegleiterinnen mitgearbeitet haben: Olaf Bärwald und
Jasmin Steffens, beide ehemals RAA Remscheid, Christiane Bainski und Livia
Daveri, Hauptstelle RAA, Tanja Biermann und Jutta Polzius, RAA Leverkusen,
Nurhan Dogruer-Rütten, RAA Bochum, Petra Geukes, Doris Frickemeyer, RAA
Dortmund, Maike Hoeft, Monika Kostewitz, RAA Hagen, Martina Kleinewegen,
RAA Mülheim, Reyhan Kuyumcu, Anne Meyer, RAA Wuppertal, Heike Münker und
Halima Zaghdoud, RAA/Interkulturelles Büro Essen, Hans H. Reich, Isabell
Schaefer, RAA Düsseldorf, Magali Schüssler, Rosemarie Tracy, Anke Wagner,
Vorwort
Handbuch für ErzieherInnen
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RAA Köln, Ingmar Zerbin-Melcher, RAA Solingen, Songül Dogan, Wilma Osuji,
Beatrix Peschke, Ute Scheffler und Iskender Yildirim, die letzten fünf von der RAA
Duisburg.
Dr. Monika Springer-Geldmacher, Hauptstelle RAA
Programm Rucksack
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1. Sprachförderung
von Kindern mit
Migrationshintergrund
Halima Zaghdoud
Interkulturelle Begegnung in der
Kindertageseinrichtung
Eine Zuwanderungsgeschichte zu haben, ist nicht länger Merkmal einer
Minderheit, sondern ist mittlerweile gesellschaftliche Normalität. Jede fünfte Ehe
in Deutschland ist heute binational, jedes vierte Neugeborene hat mindestens
einen Elternteil mit Zuwanderungsgeschichte und jeder dritte Jugendliche in
Westdeutschland hat einen Migrationshintergrund. 1
Durch die zunehmende Internationalisierung erweitern sich nicht allein die
Bewegungs- und Informationsräume der Kinder und Jugendlichen; ihre
Lebenswelten entwickeln sich im Zuge von demografischen Entwicklungen und
transnationalen
Wanderungsprozessen
zunehmend
zu
interkulturellen
2
Beziehungs- und Wissenswelten.
Da davon auszugehen ist, dass sich diese Entwicklung in Zukunft fortsetzt, stehen
Institutionen wie Kindertageseinrichtung, Schule und andere Bildungs-,
Betreuungs-, und Erziehungseinrichtungen vor einer großen Herausforderung. Die
heranwachsende Generation muss in die plurale Gesellschaft hineinwachsen und
1
Presseerklärung der Beauftragten für Migration, Flüchtlinge und Integration der
Bundesregierung, Frau Staatsministerin Prof. Dr. M. Böhmer vom 06.06.2006
2
Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Zwölfter Kinder- und
Jugendbericht, 2006
Programm Rucksack
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mit den entsprechenden Fähigkeiten und Kompetenzen ausgestattet werden. Zu
den Grundkompetenzen gehören eine kulturelle Aufgeschlossenheit und ein
kulturelles Selbstbewusstsein, damit sich die Kinder in interkulturellen
Sozialräumen bewegen und bewähren und letztlich die Lern- und
Bildungschancen, die sich aus dieser pluralen Gesellschaft ergeben, nutzen
können.
Diese Vielfalt der Erfahrungswelt- und Bildungsmöglichkeiten steht jedoch nicht
allen Kindern gleichermaßen offen. Die Teilhabe an den Bildungsmöglichkeiten,
so zeigt es der "Zwölfte Kinder und Jugendbericht", ist abhängig von der sozialen
und ethnischen Herkunft. Schon die IGLU–Studie aus dem Jahr 2003 zeigte auf,
dass Schüler mit Migrationshintergrund in den Grundschulen im Vergleich zu ihren
deutschen Mitschülern überproportional schlecht abgeschnitten haben3. Das setzt
sich an den weiterführenden Schulen fort. Hier sind die Kinder mit
Migrationshintergrund überwiegend an den Hauptschulen vertreten. Dort machen
41% der Jugendlichen mit Migrationshintergrund ihren Abschluss, während fast
jeder fünfte Jugendliche mit Migrationshintergrund die Schule ohne einen
Abschluss verlässt.
Um die gesellschaftliche Benachteiligung abzubauen und um die kulturelle Vielfalt
produktiv nutzen zu können, muss angemessen auf dieses Ungleichgewicht
reagiert werden. In besonderem Maße gilt es Barrieren und Mechanismen, die zur
Benachteiligung oder zum Ausschluss bestimmter Gruppen führen oder führen
können, abzubauen und Bildungschancen zu erhöhen.
Kindertageseinrichtungen haben als erste Erziehungs- und Bildungsinstitution den
wichtigen Erziehungs- und Bildungsauftrag, Entwicklungspotentiale von Kindern in
ihrer frühen Lebensphase zu fördern und sie bei ihren individuellen Lebens- und
Lernaufgaben
zu
unterstützen.
Darüber
hinaus
kommt
den
Kindertageseinrichtungen bezogen auf die Aktivierung und Einbindung von Eltern
mit Migrationshintergrund eine besondere Rolle zu.
Für viele nicht-deutsche Eltern ist die Kindertageseinrichtung der erste Kontakt zu
einer deutschen Bildungsinstitution. Die Qualität und der Verlauf dieser ersten
Begegnung stellen Weichen für die zukünftige Zusammenarbeit zwischen
Elternhaus und Bildungseinrichtungen. Diese Vorerfahrungen prägen den
zukünftigen Umgang mit den anderen Institutionen wie z.B. der Schule.
Kindertageseinrichtungen
bieten
als
Bildungs-,
Erziehungsund
Betreuungseinrichtung
allen
Beteiligten
die
Möglichkeit
für
intensive
Begegnungen. Hier treffen unterschiedliche Kulturen aufeinander, die von und
miteinander lernen können. Außerhalb der Kindertageseinrichtungen sind
Möglichkeiten, sich in dieser Form zu begegnen, eher selten gegeben.
Was bedeutet jedoch „Interkultur“ bezogen auf den Alltag in Kindertagesstätten?
Welche Auswirkungen hat die Vielfalt der Kulturen auf die pädagogische Arbeit?
„Inter“ ist lateinisch, heißt „zwischen“ und weist auf das, was zwischen den
unterschiedlichen Orientierungssystemen (Kulturen) entsteht. Die interkulturelle
3
Bos u.a. Hrsg., Erste Ergebnisse aus IGLU, Schülerleistungen am Ende der vierten
Jahrgangsstufe im internationalen Vergleich, Hamburg 2003
Programm Rucksack
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Pädagogik will den Dialog und den Austausch zwischen den Kulturen
unterstützen, sie verlangt von allen Kommunikationspartnern eine offene Haltung
und begreift alle Beteiligten als Lernende.
Wenn wir also von Inter-Kultur sprechen, geht es nicht um etwas, was die
Migranten in die Mehrheitsgesellschaft "herein tragen"; sondern darum, was
innerhalb dieser interkulturellen Begegnung entsteht. Alle Kinder lernen bei dieser
Begegnung im Kindergarten dazu und profitieren voneinander.
Dem kulturellen Hintergrund der Kinder ist im Alltag der Kindertageseinrichtung
Rechnung zu tragen, ohne dass ihnen jedoch aufgrund der Tatsache, dass ihre
Eltern oder Großeltern ursprünglich aus einem anderen Land kommen, etwas
zugeschrieben wird, das nicht ihrer Lebenswirklichkeit entspricht. Es ist daher
wichtig, sich ein Bild von der Lebenswelt der Kinder zu machen. Das erfordert
einen Dialog mit echtem Interesse und einer wertschätzenden Haltung.
Hier bieten sich Gespräche im Stuhlkreis mit den Kindern an wie z.B.:
- „Wenn ihr zuhause ein großes Fest feiert, wie feiert ihr das?“
- „Was ist dein Lieblingsfest?“
- „Wie feiert ihr eure Geburtstage?“
Diese oder ähnliche Fragen können für die gesamte Gruppe spannend sein und
bilden eine gute Ausgangslage für interessante Projekte, wo Sie die Eltern als
Experten ihrer Kultur einbeziehen können.
Für eine „erfolgreiche“ Begegnung mit Kindern und Eltern aus anderen
Kulturkreisen ist es wichtig, Kenntnisse über den Migrationshintergrund der
Familien zu haben. So ist die Chance groß, Eltern als Projektpartner zu gewinnen.
Es sollte darum gehen, gemeinsame Interessen und Ziele herauszufinden und
Eltern als Erziehungspartner und Experten ihrer Kinder wahr - und ernst - zu
nehmen.
Nur über den direkten Austausch mit den Eltern bekommen Sie die für Ihre Arbeit
wichtigen Informationen. Dieser Austausch hilft Ihnen, die Kultur der Familie zu
verstehen, eventuell vorhandene Vorurteile abzubauen, Vorstellungen und
Meinungen zu revidieren.
Erfahrungen der Erzieherinnen aus Essener Kindertagesstätten bestätigen dies:
„Seitdem wir mit unseren Fragen direkt auf die Eltern zugehen, sind diese viel
offener geworden und erzählen gerne“. 4
Ebenso bedeutsam wie der Dialog sind Hausbesuche, die als wichtiger
Bestandteil der pädagogischen Arbeit mit in die Konzeption aufgenommen werden
sollten.
Der oft verpönte Hausbesuch gewinnt unter dem interkulturellen Aspekt eine
andere Bedeutung als den ursprünglichen Beigeschmack eines „Kontrollbesuchs“.
Es zeugt von Interesse und Aufmerksamkeit den Familien und ihrer Kultur
gegenüber.
4
Aussage einer Essener Erzieherin im Rahmen eines Workshops zum Thema “Interkulturelle
Pädagogik“
Programm Rucksack
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Hinterlässt die kulturelle Vielfalt in Ihrer Einrichtung Spuren und können sich die
Kinder und die Eltern damit identifizieren?
Dies kann schon bei der räumlichen Gestaltung beginnen, indem die Kinder und
Eltern Gegenstände aus ihrem kulturellen und häuslichen Umfeld mitbringen. Es
ist für das selbstverständliche Miteinander der verschiedenen Kulturen wichtig,
dass Kinder Gegenstände und Gebrauchsobjekte aus ihrem Alltag in der
Einrichtung wiederfinden, wie z.B. eine „Djelaba“ (marokkanisches Gewand) für
die Umkleidekiste, oder sich in den Räumen die unterschiedlichen Schriftkulturen
wieder finden lassen.
Ebenso wichtig für das Wohlempfinden sind z.B. Medien wie zweisprachige
Kinderbücher, hierfür können Sie die Eltern, Großeltern oder andere Personen als
Lesepaten gewinnen, die regelmäßig in den jeweiligen Sprachen vorlesen können.
Hierbei machen die muttersprachlich deutschen Kinder eine interessante
Erfahrung mit den fremden Sprachen und werden hierfür sensibilisiert. Die nicht
muttersprachlich deutschen Kinder erleben so eine Wertschätzung ihrer
Muttersprache, was wiederum ihr Selbstbewusstsein stärkt und ihre Sprechfreude
anregt.
Durch solche Projekte oder Bestandteile des KiTa-Alltags lassen Sie den
Sprachen in Ihrer Einrichtung eine gleichwertige Wertschätzung zukommen, was
für die Kinder auf der Beziehungsebene ein wichtiges Signal ist.
Welchen Einsatz verlangt dieser Ansatz?
Diese Form der Arbeit und die damit zusammenhängende wertschätzende
Haltung setzt eine interkulturelle Kompetenz bei den Erzieherinnen und Erziehern
voraus.
Zur Empathie, das meint die Fähigkeit sich in die Situation der Kinder und Eltern
hineinversetzen zu können, gehört auch die kommunikative Kompetenz und die
Bereitschaft, sich offen und möglichst vorurteilsfrei auf das Neue oder Fremde
einzulassen.
Sich auf wandelnde und ungewohnte Situationen einzustellen erfordert ein hohes
Maß an Flexibilität, ohne dabei die eigenen Grenzen des Möglichen zu
überschreiten.
Begegnungen mit dem Anderen oder Fremden verlaufen nicht immer konfliktfrei.
In diesem Zusammenhang bedeutet interkulturelle Kompetenz, den Konflikt bzw.
die Irritation anzusprechen und grundsätzlich Konflikte zu thematisieren, um
gemeinsam nach einer Lösung zu suchen. Wichtig ist hier, dass eine gesunde und
faire Streitkultur nicht durch eine falsch verstandene Toleranz verdrängt wird.
Der interkulturelle Dialog verlangt eine intensive Auseinandersetzung aber auch
das Aushalten und Austragen von Konflikten. 5
Die Auseinandersetzung mit dem „Fremden“ setzt eine Sicherheit in der eigenen
Kultur voraus. Die bewusste Wahrnehmung und Wertschätzung der eigenen
5
D. Böhm, R. Böhm, B. Deiss-Niethammer, Handbuch Interkulturelles Lernen- Theorie und Praxis
für die Arbeit in Kindertageseinrichtungen, 2. Auflage, Freiburg im Breisgau, Herder 1999
Programm Rucksack
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Entwicklung, ermöglicht die Wertschätzung von Fremdem und das Lernen
voneinander.
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