Impress Magazin Winter 2016 (Januar–März

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Im.press
Ein Imprint der CARLSEN Verlag GmbH
© der Originalausgabe by CARLSEN Verlag GmbH, Hamburg 2015
Text © Felicitas Brandt, Valentina Fast, Mirjam H. Hüberli, Julia K. Stein,
Rebecca Wild, Ann-Kathrin Wolf, Jennifer Wolf 2015
Gastbeitrag © Julia Kathrin Knoll, Amelie Murmann, Tanja Voosen 2015
Redaktionsteam: Pia Cailleau, Nicole Boske, Malena Brandl, Marlene
Uhlenberg, Christin Ullmann, Konstanze Bergner, Julia Przeplaska
Innenillustrationen: Jana Goldbach
Umschlagbild: © shutterstock.com / © Kevin Kozicki / © TijanaM / © Lisa
Alisa / © Mark Carrel / © David M. Schrader
Umschlaggestaltung: formlabor
Gestaltung E-Book-Template: Gunta Lauck
Schrift: Alegreya, gestaltet von Juan Pablo del Peral
Satz und E-Book-Umsetzung: readbox publishing, Dortmund
ISBN 978-3-646-60230-2
www.carlsen.de
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Inhaltsverzeichnis
Das erwartet Dich im Impress-Magazin!
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Leseproben
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Das sind wir! Es stellt sich vor: Malena Brandl aus dem Business
Development
Leseprobe aus Julia K. Steins »Leda & Silas, Band 1:
Regenbogenzeit«
Hinter den Kulissen: Wenn Lektoren die Buchmesse erobern …
Leseprobe aus Jennifer Wolfs »Nachtblüte. Die Erbin der
Jahreszeiten«
Mythos und Wahrheit in Julia Kathrin Knolls »Elfenblüte«-Reihe
Leseprobe aus Felicitas Brandts »Tracy. Zwischen Liebe,
Hoffnung und Erinnerung« (Spin-off der Lillian-Reihe) mit
Illustrationen von Jana Goldbach
Tops & Flops bei Blogtouren von Amelie Murmann und Tanja
Voosen
Leseprobe aus Valentina Fasts »Princess. Der Tag der
Entscheidung« (Royal-Spin-off)
Autoreninterview mit Mirjam H. Hüberli
Exklusivinhalt: »William Grimm 1.5« (Bonusgeschichte zu AnnKathrin Wolfs Märchenherz-Reihe)
Preview unseres Winterprogramms: Alle kommenden ImpressRomane auf einen Blick!
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© Nicole Boske
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Heizung zu verkriechen und in ferne Welten zu fliehen. Und zwar am
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findet Ihr im neuen Impress-Magazin jede Menge exklusiver Leseproben
5
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von Impress. Autoren plaudern aus dem Nähkästchen, erzählen ihren
Schreibprozess und geben Bloggertipps. Das Impress-Team berichtet aus
seinem Arbeitsalltag auf der Messe und im Verlag. Dazu gibt es exklusive
Illustrationen, Schauplatzfotos und eine Bonusgeschichte.
Einfach das Impress Magazin herunterladen und in eine neue Welt
eintauchen!
Eine lauschige Lesezeit wünscht Euch
Pia Cailleau
Programmleiterin Impress
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Magazins Winter 2016.
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Gewinnspiel ist der 01.02.2016.
Dein Team von Impress wünscht Dir viel Erfolg!
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Rebecca Wild: »1001 Kuss. Djinnfeuer«
Erscheinungsdatum: 07. Januar 2016
Inhalt
Rani wurden schon früh Geschichten über die Djinn, deren Grausamkeit
und List ins Ohr geflüstert. Kein Wunder also, dass ihr Herz zu rasen
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beginnt, sobald sie irgendwo ein goldfarbenes Glühen wahrnimmt. Für
eine Piratentochter ist sie extrem abergläubisch. Doch dann fällt ihr bei
einem Beutezug ein verwunschenes Fläschchen in die Hände. Rani kann
ihr Glück kaum fassen, schließlich muss der Djinn, der darin gefangen ist,
ihr nun drei Wünsche erfüllen. Das klingt zu gut, um wahr zu sein – und
das ist es auch. Denn der Geist ist nur an einem interessiert: seine Freiheit
wiederzuerlangen. Und als Anführer der Djinn ist er es gewohnt, seinen
Willen durchzusetzen …
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Leseprobe
Rani dachte, sie hätte einen von ihnen gesehen, kurz bevor der Sturm
losging. Ein goldfarbenes Glühen knapp unterhalb der Wasseroberfläche.
Haare, die mit der Steigung der nächsten Welle nach oben getragen
wurden.
Die Ellbogen auf die Schiffsreling gestützt, lehnte sie sich weiter vor,
aber bevor sie mehr als einen flüchtigen Blick erhaschen konnte, war die
Erscheinung schon wieder verschwunden.
Ihr Herz schlug bis zum Hals. Abgesehen von dem verzauberten Falken
Aziz war sie einem Djinn noch nie so nahe gekommen.
Die Djinn waren magische Geisterwesen. Sie waren körperlos, die
starken unter ihnen konnten jedoch alle möglichen Formen annehmen.
Genaugenommen wusste Rani gar nicht, wie die ursprüngliche Gestalt
eines Djinns aussah, dennoch war sie fast sicher, dass sie eben einen von
ihnen gesehen hatte. Was für ein Wesen sollte sich sonst unterhalb der
schlagenden Wellen verstecken? Wie ein Fisch hatte es auf jeden Fall nicht
ausgesehen.
Kazim, der neben ihr Taue verband, sah sie fragend an. Erst da fiel Rani
auf, dass sie angefangen hatte, ihren rechten Fuß oberhalb der
Schiffsplanken kreisen zu lassen. Die silbernen Glöckchen, die an einer
feingliedrigen Kette um ihren Knöchel gebunden waren, klirrten
aneinander und ließen einen hohen, klaren Ton erklingen. In jedes
Glöckchen war ein anderes Symbol eingraviert, Rani hatte aber keine
Ahnung, was sie bedeuteten. Doch die Tänzerin aus Nadia, von der ihre
Mutter es gekauft hatte, hatte gesagt, dass jedes einen Schutzbann gegen
die Djinn enthielt.
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»Irgendwas Spannendes im Wasser?«, fragte Kazim und schmunzelte.
Rani hielt inne und trat von der Reling zurück. Auf gar keinen Fall
würde sie zugeben etwas gesehen zu haben. Kazim zog sie immer auf, weil
sie so abergläubisch war und böse Geister hinter jedem Luftzug vermutete.
Schuld war ihre Mutter, die ihr schon als Säugling Geschichten über die
Djinn, ihre Grausamkeit und List ins Ohr geflüstert und sie zum Schutz
mit Silberamuletten behangen hatte.
»Gar nichts«, sagte Rani und streckte die Glieder, um etwas
unauffälliger zu wirken. Für eine Piratentochter war sie eine entsetzliche
Lügnerin.
In derselben Sekunde erfasste eine hohe Welle die Schiffsflanke. Das
ganze Schiff schwankte gefährlich zur Seite, Rani geriet aus dem
Gleichgewicht und taumelte. Einzig Kazim war es zu verdanken, dass sie
nicht hinfiel. Er hatte einen Satz nach vorn gemacht und sie aufgefangen.
»Was war das?«, fragte Rani und klammerte sich mit beiden Händen
an ihm fest. Eigentlich war das unnötig, sie hatte sich schon wieder
gefasst, aber sie mochte das Gefühl seiner Muskeln unter dem rauen
Leinenstoff.
Kazims Miene verdüsterte sich, er deutete in die Ferne. Eine steile Falte
hatte sich zwischen seinen Augenbrauen gebildet. »Siehst du das?«
Eine schwarze Gewitterfront braute sich am Horizont zusammen. Eine
brodelnde Masse, in dessen Mitte Blitze zuckten. Rani stockte der Atem.
Vor ein paar Sekunden war noch keine einzige Wolke am Himmel zu sehen
gewesen, das konnte kein normaler Sturm sein. Sie dachte an die Gestalt
in den Wellen und ein Schauer überkam sie.
»Das sieht übel aus«, sagte Rani. »Glaubst du, wir schaffen es noch
rechtzeitig nach Safina?«
»Wir sind nicht mehr weit von der Küste entfernt, aber so schnell, wie
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das Ding sich bewegt …« Ungläubig schüttelte er den Kopf. Eine vom
Schweiß des Tages gekringelte schwarze Locke fiel ihm in die Stirn. »Es
kommt genau auf uns zu. Du solltest unter Deck gehen. Hier wird es
ungemütlich.«
Die ersten Rufe wurden laut. Männer kletterten an den Webleinen
zwischen den Wanten rauf in die Takelage, um die Segel einzuziehen.
Kazim löste sich von Rani, um mit anzupacken. Das Schiff schwankte
immer stärker und Rani musste sich an der Reling festhalten, um auf den
Beinen zu bleiben. Eine Hand immer am Holz, bewegte sie sich langsam
auf das Heckkastell zu, von wo aus ihr Vater das Treiben an Bord
überblickte und lenkte.
In der Ferne rollten die ersten Donnerschläge über das Meer.
Regentropfen klatschten ihr ins Gesicht. Anfangs nur tröpfelnd, dann
immer stärker, bis sie ihr Gesicht mit der Hand abschirmen musste, um
überhaupt noch etwas sehen zu können. Als sie das Heckkastell erreichte,
war sie bis auf die Haut durchnässt.
Durak, ihr Vater und Kapitän des Schiffs, stand an der Reling und
schrie Befehle gegen den Wind, neben ihm Kazim, der ihren Vater lange vor
ihr erreicht hatte. Er hielt einen Seekompass, die Augen immer auf die
zuckende Nadel gerichtet, während er sich mit Durak beriet.
Als Durak sie entdeckte, wurde sein Blick dunkel. »Was zum Teufel
machst du noch hier draußen? Siehst du nicht, was –«
»Ich habe etwas gesehen!«, fiel Rani ihm ins Wort. »Vorhin – im
Wasser.«
»Sag bloß«, höhnte Kazim. »Was war es denn? Eine Meerjungfrau?«
Rani spürte das Blut in ihre Wangen steigen und kniff die Lippen
zusammen. »Das hättest du wohl gerne«, zischte sie. »Es war ein Djinn!«
Durak schüttelte den Kopf. »Die Djinn am Meeresgrund kommen nicht
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an die Oberfläche. Du musst dich getäuscht haben.«
»Aber der Sturm –«
»Wir sind auf dem Meer, schnelle Wetterumschwünge sind nicht
selten.« Durak sah ihr fest in die Augen. Er musste dazu seinen ganzen
Kopf drehen, weil er links blind war. Dickes Narbengeschwür schlängelte
sich von der Braue bis über die Stelle, wo einmal sein Augapfel in der Höhle
gelegen hatte – lange Kratzer bis zum Kinn, die Vogelkrallen in sein Gesicht
gekerbt hatten.
Derjenige, der ihm das Augenlicht geraubt hatte, saß mit angelegten
Flügeln auf seiner Schulter. Trotz des schweren Regens hielt er still. Aziz
trug die Gestalt eines Falken, aber die brennenden gelben Augen verrieten
die Anwesenheit des Djinns, den ein verrückter Magier in den Vogelkörper
gesperrt hatte. Durak hatte Aziz während eines Beutezugs von einem
Edelmann geraubt, der den verzauberten Falken in einem silbernen Käfig
gefangen gehalten hatte. Aziz hatte ihrem Vater das linke Auge genommen,
aber seitdem waren sie miteinander verbunden und er folgte ihm überall
hin. Wenn die Männer an Bord etwas getrunken hatten, erzählte man sich,
dass Aziz auch das zweite Auge wollte und deshalb bei Durak blieb. Als
Rani ihrem Vater einmal von diesem Verdacht erzählt hatte, hatte er
gelacht. Bestritten hatte er es nicht.
Rani sah dem Falken in die Augen, um ihm zu beweisen, dass sie keine
Angst vor ihm hatte, und ließ ihre Fußschellen läuten. Aziz fauchte.
Erschrocken sprang sie einen Schritt zurück, während Kazim in Gelächter
ausbrach.
»Hör auf, Aziz zu ärgern, und geh unter Deck«, befahl Durak. Er war
sehr empfindlich, was Aziz betraf. Obwohl er den Djinn fast wie ein
Haustier hielt, ließ er niemand anderen in seine Nähe.
Als kleines Mädchen hatte sie einmal versucht ihn zu streicheln. Es war
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das einzige Mal gewesen, dass ihr Vater, der sie und ihre Mutter sonst sehr
gut behandelte, sie geschlagen hatte.
Eine besonders hohe Welle prallte gegen das Schiff, Meerwasser
schwappte über Deck und spritzte bis hinauf in ihre Gesichter. Rani
schmeckte Salz und ihre eigene Angst auf der Zunge. Ein wütender Wind
peitschte um ihre Ohren; fast glaubte sie, Stimmen darin zu hören. Ihre
Silberglöckchen schepperten und das Tuch, das sie als Schutz vor der Sonne
um ihren Kopf gewickelt hatte, begann sich zu lösen. Sie hielt es mit einer
Hand fest, während sie sich mit der anderen an die Reling klammerte. Es
wurde immer schlimmer, trotzdem zögerte sie noch, sich Duraks Befehlen
zu beugen. Ihr Blick war auf die schlagenden Wellen gerichtet. Das Wasser
schäumte zu stark, um zu erkennen, ob sich etwas darunter verbarg.
Ihr Vater hatte natürlich Recht. Die Djinn, die im Meer lebten, scheuten
den Kontakt zu Menschen und bewohnten die tiefen Felsspalten auf dem
Grund, wo sie ungestört blieben. Normalerweise kamen sie nicht rauf.
»Aber was, wenn sie etwas nach oben getrieben hat?« Rani sprach zu sich
selbst, trotzdem antwortete Kazim.
»Nichts wurde nach oben getrieben«, sagte er. »Es ist nur ein Sturm,
aber ein starker.« Kazim und ihr Vater wechselten einen Blick. Dann ergriff
er ihren Oberarm. »Komm jetzt. Ich helfe dir nach unten.«
Helfen. Als wäre sie ein kleines Kind! Wütend entriss sie ihm ihren Arm.
»Das kann ich wohl alleine!«
Rani kämpfte sich allein die schmale Treppe aufs Hauptdeck hinunter.
Der Boden war rutschig vom Meerwasser; jeder Schritt war gefährlich,
während das Schiff von einer Seite auf die andere geworfen wurde. Sie
hätte auf ihren Vater hören und sich sofort unter Deck begeben sollen, aber
etwas hielt sie zurück. Die Erinnerung an ein Glühen, ein flüchtiges Bild
zwischen den Wellen.
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Rani schaffte es bis zum Vormast am Bug des Schiffs. Dort klammerte
sie sich an den Tauen fest und sah auf die schäumende See hinaus.
Schwarze Gewitterwolken verdeckten die Sonne, machten den Tag zur
Nacht. Hin und wieder brach ein Blitz durch die Dunkelheit, grollender
Donner übertönte jedes andere Geräusch. Die Wellen schlugen höher. Eine
besonders große schlug direkt über dem Schiffsbug zusammen.
Meerwasser überschwemmte Rani und etwas davon geriet in ihren Mund.
Sie hustete, würgte. Eine weitere Welle. Zwei knapp hintereinander. Rani
packte die Taue fester, klammerte sich mit ihrem ganzen Gewicht daran,
um nicht von den Wellen fortgerissen zu werden. Ihre Handflächen
brannten, sie spürte kaum noch ihre Finger.
Jetzt wünschte sie doch, ihrem Vater gehorcht zu haben, aber es war zu
spät. Wenn sie jetzt losließ, würde sie fortgespült werden. Ihr ganzer
Körper zitterte, machte es ihr noch schwerer, ihren unsicheren Halt zu
bewahren.
Als die nächste Welle über das Deck schwemmte, rutschte sie ab. Der
Schrei blieb ihr im Hals stecken – zu groß war das Entsetzen. Sie wurde von
der Welle nach hinten gerissen.
Wie aus dem Nichts erschien Kazims Arm. Er packte sie grob um die
Taille und drängte sie zurück an den Vormast, wo er sich wie ein
Schutzschild zwischen ihr und dem Meer aufbaute.
Rani war er noch nie größer vorgekommen.
»Wieso bist du nicht unter Deck gegangen?«, schrie er sie an und
fluchte lauthals.
Sie antwortete nicht, sondern vergrub ihr Gesicht an seiner Brust; eine
Hand um seine Hüfte, die andere in den Tauen. Sie wollte nur noch, dass
der Sturm vorbei war, doch er schüttelte ihre Schebecke wie ein Spielzeug in
den Händen der Götter. Aber Kazim ließ sie nicht los. Wie eine Mauer ragte
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er über ihr auf, so unbändig wie das Meer selbst.
Ganz plötzlich, so schnell, wie er gekommen war, hörte der Sturm auf.
Gerade wurde das Schiff noch von den Wassermassen zur Seite gestürzt
und im nächsten Moment lichtete sich der Himmel und der Donner
verhallte. Der Regen stoppte abrupt, der Wind klang ab.
Eine unheimliche Stille legte sich über das Meer.
Alle auf dem Schiff hielten den Atem an. Niemand wollte die Ruhe
stören. Rani reckte den Kopf, um etwas erkennen zu können, und
flüsterte: »Glaubst du, es ist jetzt vorbei?« Sie war eingeklemmt zwischen
dem Mast und Kazim und jetzt, wo der Sturm vorbei war, begann sie die
Position zu mögen.
Langsam löste Kazim seine Hände von ihrer Taille. Rani wollte sich an
ihm vorbei drängen, um vor an die Reling zu laufen, aber bevor sie einen
Schritt machen konnte, packte er sie an der Schulter. Sein Gesicht war
wutverzerrt. »Was hast du dir nur gedacht? Bist du komplett wahnsinnig
geworden?«
Rani verschränkte die Arme. »Ich wollte die Djinn sehen.«
»Da waren keine Djinn!«, schrie er. »Du hättest ertrinken können!«
»Bin ich aber nicht.« Sie grinste. »Du warst doch da.«
Für einen Moment dachte sie, Kazim würde sie schlagen.
»Feuer!«, rief der alte Ohmar vom Bug aus. »Da hinten brennt ein
Schiff!« Rani und Kazim drehten sich um. »Das ist die Flagge des Königs
von Rabiyah!«
Als Rani sich diesmal an Kazim vorbeischob, hielt er sie nicht zurück.
Das Meer lag spiegelglatt unter einer strahlenden Sonne. Am Horizont
blitzten die Masten einer schweren Brigantine auf. Die Segel standen in
Flammen.
»Die hat der Blitz erwischt«, sagte ein anderer aus der Mannschaft.
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»Arme Schweine.«
»Das war kein Blitz.« Wie gebannt hing Ranis Blick am Horizont. Sie
deutete auf die Segel. »Seht nur! Das Feuer – es … es raucht nicht!«
Rauchloses Feuer. Einen stärkeren Beweis für Djinnmagie gab es nicht.
Ihr Vater erschien neben ihr an der Reling, sein Mund war grimmig
verzogen. Selbst Aziz wirkte unruhig, schlug die Flügel, ohne abzuheben,
und grub seine Krallen so tief in Duraks Schulter, dass der Hemdstoff riss.
»Und du bist dir sicher, dass du vorhin etwas gesehen hast?«, fragte er.
»Nein, sicher nicht. Aber – es macht Sinn, oder? Nur die Djinn können
das getan haben. Und der Sturm –«
»Sinn? Nein«, sagte Durak. »Die Djinn greifen nicht so einfach Schiffe
an. Aber du hast Recht.« Er trat von der Reling zurück und zog mit dem
Daumen die Narbe in seinem Gesicht nach. »Das ist ein schlechtes Omen.«
Rani sah überrascht zu ihm auf. Normalerweise war es ihre Mutter, die
von Omen sprach.
»Wie lauten die Befehle?«, ertönte Kazims Stimme aus dem
Hintergrund.
»Segel setzen und dann Kurs auf das Schiff. Djinn hin oder her, es ist
das Schiff eines Königs.«
Die Mannschaft zögerte nur einen kurzen Augenblick – lange genug, um
ihre Angst zu zeigen. Niemand wollte sich mit den Djinn anlegen, aber den
Befehlen des Kapitäns war Folge zu leisten.
Ein Rascheln von Silberamuletten verriet zuerst die Anwesenheit ihrer
Mutter. Wie ein Geist erschien sie hinter Durak und legte eine zierliche
Hand auf seine Schulter. »Der Sturm war eine Warnung«, sagte sie. »Die
Djinn wollen nicht, dass wir uns einmischen. Wir sollten wieder Kurs auf
Safina nehmen.« Ihre Stimme klang dünn, ihr Gesicht war blass. In letzter
Zeit wurde sie immer öfter krank, wenn sie auf See waren, und der Sturm
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hatte ihr sichtlich zugesetzt. Emine war eine zarte Frau, nicht wirklich
geschaffen für das raue Leben auf hoher See. Sie war die Tochter eines
reichen Kaufmanns aus Shihar und in seinem palastgleichen Anwesen
hatte sie ein Leben voller Annehmlichkeiten geführt, hatte in den teuersten
Ölen gebadet und Pflaumen und Birnen gespeist. Ein Kriegsherr aus
Radwa war auf seiner Durchreise auf sie aufmerksam geworden und
wollte sie zur Frau. Sie sollte auf einem Schiff zu seinem Landsitz gebracht
werden, doch unterwegs wurden sie von Piraten überfallen. Durak nahm
sie als Geisel und wollte eine hübsche Summe dafür, dass er sie ihrem
Verlobten wiederbrachte. Der Kriegsherr war bereit zu zahlen, aber bevor es
zur Übergabe kommen konnte, hatten Ranis Eltern sich längst verliebt. Sie
heirateten auf dem Schiff.
Durak nahm nun Emines Hand in seine und drückte sie sanft. »Das
Meer ist ruhig. Die Djinn sind fort.«
Ihre Augen waren groß und mit einem feuchten Glanz bedeckt. Sie
starrte hinaus auf das Wasser. »Da irrst du dich.«
Inzwischen waren sie nah genug, dass sie Menschen auf dem Schiff
hätten sehen sollen, aber alles war ruhig. Die Flagge des Königs von
Rabiyah, dem nächstgelegenen Festland, hing träge herunter – ein Löwe,
der über die Sonne ragte, auf rotem Hintergrund. Einzig die Flammen
bewegten sich, züngelten bis zu den Rahen empor, an denen die Segel
befestigt waren, aber keinen Fuß weiter. Djinnfeuer verhielt sich nicht wie
gewöhnliches Feuer, es breitete sich nicht aus und verursachte kein
Geräusch, nicht einmal ein leises Knistern. Es gehorchte dem Willen der
Djinn und konnte ewig brennen.
Nur weil Kazim noch in ihrer Nähe stand, unterdrückte Rani das
Verlangen, ihre Fußschellen läuten zu lassen.
»Holt mir das Schiff heran!«, befahl Durak.
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Die Männer gehorchten, aber sie verrichteten ihre Arbeit ungewöhnlich
schweigsam. Keine Scherze, kein Ausdruck freudiger Erwartung, obwohl
das Schiff die Flagge eines Königs trug und wahrscheinlich einige
Kostbarkeiten barg. Einige murmelten Schutzgebete oder berührten ihre
Amulette, aber Durak tat nichts dergleichen. Starr beobachtete er das
Geschehen und tippte Aziz auf den Schnabel, als dieser anfing zu schreien.
Durak hatte noch nie Angst vor den Djinn gezeigt. Ranis Mutter sagte oft,
das sei seine größte Schwäche.
Als das Schiff nah genug an ihrem war, warfen die Männer Taue mit
mehrarmigen Ankern über Bord. Die Haken verfingen sich an der Reling,
dem Bugspriet und an den Masten. Vereinzelte Anker verfehlten ihr Ziel,
fielen ins Meer und mussten wieder hochgezogen werden. Mit vereinten
Kräften zogen sie an den Tauen und holten das Schiff näher heran, bis es
parallel zu ihrer Schebecke stand. Dann herrschte plötzlich Stille.
»Wer geht mit mir an Bord?«, rief Durak ins Schweigen hinein.
Die Männer starrten ihn an, als hätte er den Verstand verloren. Kazim
meldete sich als Erster. »Ich gehe mit.«
Darauf brüllten auch andere Männer zustimmend, ein wenig zu laut, zu
hastig. Rani las die Angst in ihren Gesichtern, niemand wollte wohl als
Feigling gelten. Entschlossen packten sie die Taue mit beiden Händen –
die Entermesser zwischen den Zähnen für den Fall, dass sie sich
verteidigen mussten – und schwangen sich über Bord.
Da die Schiffswand der Brigantine höher war als die ihrer Schebecke,
konnte Rani nicht über die Reling auf das fremde Deck spähen. Doch die
anhaltende Stille beunruhigte sie. Keine Rufe, nicht einmal ein Flüstern.
Niemand verteidigte das Schiff.
Ihre Nackenhaare stellten sich auf. Auf keinen Fall wollte sie, dass ihr
Vater und Kazim, der noch immer neben ihr stand, da raufgingen. Er griff
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sich gerade eines der Taue, das eben frei geworden war, und Ranis Hals
schnürte sich zu.
»Warte!« rief Rani und wollte nach seinem Arm greifen, doch Kazim
hatte nur ein schiefes Grinsen für sie übrig. Genau wie Durak kannte er
keine Angst. Der Idiot.
»Vergiss nicht, deine Glöckchen läuten zu lassen«, sagte er
augenzwinkernd und zog sich mit einer kräftigen Bewegung nach oben.
Seine Fersen stießen gegen die Schiffswand der Brigantine, dann begann
er zu klettern.
Rani beobachtete ihn mit zusammengepressten Lippen. Manchmal
vergaß sie, wieso sie ihn überhaupt mochte, aber er hatte wunderschöne
Augen und wurde nie betrunken oder peinlich wie der Rest der
Mannschaft. Sie wollte nicht, dass er sie für ein verängstigtes Mädchen
hielt. Inzwischen war sie siebzehn Jahre alt – »heiratsfähig«, wie ihre
Mutter es nannte, trotzdem behandelte Kazim sie nach wie vor wie eine
kleine, lästige Schwester.
Es wurde Zeit, ihm zu beweisen, dass sie erwachsen geworden war.
Bevor irgendjemand sie aufhalten konnte, schnappte Rani sich ebenfalls
ein Tau und zog sich die Schiffswand nach oben. Die Rufe ihrer Mutter
ließ sie unbeantwortet im Hintergrund verhallen.
Sie schob sich bäuchlings über die Reling und rammte fast Kazim, der
sich, nachdem er oben angelangt war, anscheinend noch keinen Fuß
bewegt hatte. Er drehte den Kopf, als er sie an Bord der Brigantine
bemerkte.
»Rani! Geh wieder runter.« Sein Grinsen von vorhin war verschwunden.
»Was? Wieso?« Rani streckte die Schultern durch. »Ich habe keine
Angst.« Seine beklommene Miene begann sie zu ängstigen und sie spähte
an ihm vorbei. »Was ist los?«
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Zuerst sah sie den Arm, dann den Rest des Körpers. Da lag ein Mann,
gekleidet ganz in Weiß mit einem roten Turban auf dem Kopf – die
traditionelle Kleidung, mit welcher König Sharad von Rabiyah seine Garde
ausstattete. Seine Augen starrten blicklos ins Leere, es war offensichtlich,
dass er tot war. Und er war nicht der einzige. Nachdem sie es an Kazim
vorbei geschafft hatte, sah Rani noch mehr Männer in der gleichen Tracht.
Die gesamte Mannschaft. Alle lagen sie am Boden und rührten sich nicht.
Das Djinnfeuer flackerte über ihren Köpfen und tauchte die Toten in
einen roten Schein.
Aziz hatte sich in die Lüfte geschwungen und entließ ein schrilles
Kreischen.
Ihr Mund war wie ausgetrocknet. »Was hat sie umgebracht?«, fragte
Rani und benetzte ihre Lippen.
»Keine Ahnung, aber die Körper sind unversehrt«, antwortete Kazim.
»Keine Stichverletzungen. Kein Blut.«
»Also Djinn?«
Kazim sah ihr fest in die Augen. Es geschah nicht oft, dass sie ihn
nervös erlebte. »Sieht so aus, als hättest du doch Recht gehabt.«
»Aber wieso? Wieso haben sie dieses Schiff angegriffen?« Kazim ging
weiter über das Deck und Rani folgte ihm. »Sie haben sogar die Körper
zurückgelassen. Was kann sie so wütend gemacht haben?« Um an die
Körper von Menschen zu kommen, war der einzige Grund, der Rani
eingefallen wäre, wieso eine ganze Mannschaft von Djinn überfallen
worden war. Die Djinn waren nicht an irdischen Reichtümern wie Gold
oder Schiffen interessiert, aber nicht alle waren mächtig genug, einen
eigenen Körper zu formen, und nisteten sich deshalb in denen von
Menschen ein.
»Ich weiß es nicht.«
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»Aber –«
Kazim drehte sich so abrupt um, dass Rani beinahe in ihn
hineingelaufen wäre. »Ich weiß es nicht«, erwiderte er scharf. »Okay?«
Als sie daraufhin eine beleidigte Schnute zog, legte er seine Hand auf
ihre Schulter. Sie waren nun hinter dem Großmast, abgeschirmt von den
Blicken der restlichen Mannschaft. Das Gewicht seiner Hand entfachte ein
Kribbeln in ihr.
»Ich hab mich noch gar nicht richtig für vorhin bedankt«, sagte Rani
und schenkte ihm ein schüchternes Grinsen.
Kazim lehnte sich vor, um ihr ins Ohr zu flüstern. Sein Atem auf ihrer
Haut entfachte ein Kribbeln, das sie bis in ihre Zehen spürte. »Du kannst
mir danken, indem du das nächste Mal tust, was man dir sagt.« Dann ließ
er sie los und ging davon.
Rani sah ihm nach. Kazim würde noch ihr Herz brechen, das wusste sie.
Irgendwie machte es das Ganze umso aufregender.
Sie holte ihn ein. »Was wollen wir hier dann noch?«
»Das fragst du? Es ist ein Schiff des Königs – wir prüfen, ob sie
irgendetwas Wertvolles mit sich führen, und dann verschwinden wir so
schnell wie möglich. Ich sag's nicht gerne, aber die Sache mit den Toten
fängt an, mir Angst zu machen.«
»Ach, im Ernst?« Rani ging absichtlich schneller, damit ihre Fußschellen
mehr Lärm verursachten. »Aber sie sind fort, oder? Die Djinn? Der Sturm
hat sich gelegt.«
»Ein bisschen zu plötzlich, findest du nicht?«
Schaudernd stieg sie über eine junge Frau, die ausgestreckt am Boden
lag. Sie war besonders auffällig, weil sie die einzige Frau an Bord war und
nicht die Farben des Königs trug. Sie hatte lange nachtschwarze Haare
und ein hübsches Gesicht. Um Hals und Fesseln trug sie schwere
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Silberamulette, geschmiedet, um sie vor Djinngeistern zu schützen. Sie
hatten ihr wohl nicht helfen können, aber Rani beschloss trotzdem, eines
davon für ihre Mutter mitzunehmen. Das an ihrem Handgelenk war
besonders fein gearbeitet. Eine Reihe von Symbolen umrundete die
Zeichnung einer geflügelten Schlange. Ein Sanddrache? Es schillerte im
Glanz der Sonne und Rani ging in die Hocke. Als sie den Arm der Frau
anhob, rollte ein Fläschchen aus dem weiten Ärmel und fiel zu Boden. Es
war ganz zart, aus einem Material, das an Glas erinnerte. Und es war
dunkel – fast schwarz. Die Flasche war am Boden gewölbt und verlief nach
oben hin immer schmaler, ein silberner Stöpsel hielt sie verschlossen. Es
war feinste Handarbeit, auf dem Markt in Ahmar könnte sie dafür sicher
einen hübschen Preis erzielen.
Rani schob den Ärmel der Frau zur Seite. Behutsam hob sie das
Fläschchen mit zwei Fingern auf, doch kaum hatte sie die glatte Oberfläche
zu fassen bekommen, riss die Frau die Augen auf. Sie schlug nach ihr. Ihre
Hände formten Klauen, das hübsche Gesicht eine wütende Grimasse.
Rani schrie auf und sprang zurück. Sie stieß gegen Kazim, der schon
herumgewirbelt war. Als die Frau mit ausgestreckten Armen auf sie
zugekrochen kam, zog er sein Entermesser aus der Scheide.
»Sie ist nicht –« Rani verschluckte sich beinahe. »Sie ist nicht tot!«
»Gib es zurück!«, schrie die Frau außer sich. Ihre Augen glühten wie
Djinnfeuer. »Du hast keine Ahnung, was –«
»Was? Das Fläschchen?« War es sogar wertvoller, als sie gedacht hatte?
Interessiert, was sich wohl darin verbergen könnte, zog sie den Stöpsel ab
und schielte hinein.
Entsetzt riss die Frau die Augen auf, ihre Wangen wurden aschfahl.
»Nein!«
Ihr Schrei wurde von einem plötzlichen Donner verschluckt, ein Sturm
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traf sie ohne Vorwarnung. Innerhalb eines Augenblicks färbte sich der
Himmel dunkel und Regentropfen prasselten wie Pfeilspitzen auf sie
herab, Wellen türmten sich zu Riesen. Eine davon rammte das Schiff
seitlich, als wollte sie es im Meer versenken. Rani wurde gegen die Reling
geworfen und hätte dabei fast das Fläschchen verloren. Sie war so sehr
damit beschäftigt, es sicher in ihrer Tasche zu verstauen, dass sie gar nicht
bemerkte, wie sich die nächste Welle über ihnen aufbaute. Erst Kazims
Warnruf ließ sie aufblicken, aber da war es schon zu spät. Er versuchte zu
ihr zu gelangen und streckte die Hände nach ihr aus … Doch als die Welle
über sie hereinbrach, war niemand da, um sie zu retten. Rani wurde von
den Wassermassen gepackt, ihre Finger rutschten auf der glatten
Holzoberfläche ab. Sie wurde fortgetragen und wie Schmutz über die
Reling gespült.
Eiskaltes Wasser schlug über ihrem Kopf zusammen. Mühsam kämpfte
sie sich an die Oberfläche, Wellen schleuderten sie hin und her. Mit
strampelnden Armen und Beinen versuchte sie wenigstens ihren Kopf über
Wasser zu halten, aber das Meer war zu wild. Es wollte sie sinken sehen.
»Hil-« Der Rest ging in Gurgeln unter. Nase, Ohren und Mund füllten
sich mit Salzwasser.
»Rani!« Durch das Tosen der Wellen hörte sie, wie sie ihren Namen
riefen. Einer musste ihr Vater gewesen sein, denn kurz darauf glitt Aziz
knapp über der Wasseroberfläche auf sie zu. Seine Klauen krallten sich in
ihrem Hemd fest, natürlich war er nicht stark genug, um sie rauszuziehen.
Immerhin half er ihr aber, oben zu bleiben.
»Rani!« Das war Kazim. Etwas landete mit einem lauten Platschen
neben ihr im Wasser, ein Fass. Um seinen Bauch war ein Tau gewickelt,
das Ende führte aufs Schiff zurück. Zitternd vor Kälte und Grauen
klammerte Rani sich mit beiden Armen fest. Ein Ruck ging durch ihren
24
Körper, als die Männer an Bord versuchten, sie mit vereinten Kräften aus
dem Wasser zu ziehen. Aziz ließ sie los, Rani spürte ihr Hemd unter seinen
Krallen reißen. Er flog ein Stück höher, wo das Tau zwischen ihr und dem
Schiff im Wind schlingerte. Seine Krallen schlossen sich darum. Erst
dachte Rani, er wollte ihr helfen, doch dann sauste sein spitzer Schnabel
plötzlich wie ein Beil auf das Tau hinab. Fransen lösten sich.
Panisch vor Angst schrie Rani und schlug mit einem Arm um sich,
während sie sich mit dem anderen weiter an das Fass krallte. Sie versuchte
den Vogel zu verscheuchen, aber es war zwecklos. Nach drei Hieben war der
Strick durchtrennt und sie wurde mitsamt dem Fass von der nächsten
Welle fortgetragen. Weit weg von dem Schiff, das ihre Heimat war. Rani
wollte um Hilfe winken, dabei rutschten ihre Finger am Fass ab. Sie bekam
gerade noch den letzten Rest vom Tau zu fassen, als das Wasser sie erneut
nach unten drückte und sie jede Orientierung verlor.
***
Rani wurde vom Geschrei der Möwen wach. Möwen – das bedeutete
Festland. Sie mussten bereits in Hafennähe sein. Fester Boden nach
eineinhalb Monden auf hoher See, endlich. Sie schlug die Augen auf, um
sich aus ihrer Hängematte zu befreien, und stieß einen spitzen Schrei aus.
Ein fremder Mann kniete über ihr. Sein Blick war hasserfüllt und sein
Mund eine harte Linie. In seinem Kiefer zuckte ein Muskel.
»Du lebst.« Er seufzte schwer, als wäre ihr Überleben das Tragischste,
was er sich vorstellen konnte.
Was bei den Göttern …?
Irritiert setzte Rani sich auf und kroch rücklings von ihm weg, wie eine
Krabbe auf der Flucht. Ihre Hände versanken in feuchtem Sand. Das war
25
nicht ihre Hängematte. Nicht einmal ihr Schiff.
Dann kehrte alles zurück – der Djinn im Wasser, der Sturm. Brennende
Segel und ein rauchschwarzes Fläschchen. Der Schrei der Frau, kurz bevor
der Sturm aufs Neue losging und die Wellen sie mitgerissen hatten.
Mächtiger Djinn. Rani konnte nicht glauben, dass sie das überlebt
hatte. Auf der Suche nach Verletzungen klopfte sie Arme und Beine ab, aber
sie schien tatsächlich unversehrt zu sein. Sogar dieses dämliche Fläschchen
hatte sie noch in einer Tasche unter ihrem Hemd bei sich. Wie durch ein
Wunder hatte sie es nicht verloren.
Der Mann starrte sie immer noch an. Er hatte ein junges, kantiges
Gesicht. Bartlos, was unter den Männern hierzulande sehr ungewöhnlich
war. Woher kam er? War er vielleicht auf dem Schiff des Königs gewesen
und mit ihr über Bord gegangen? Aber dafür waren Kleidung und Haare
zu trocken und glänzten wie frisch gewaschen. Um sie herum war nichts
außer Meer, Sand und Felsen. Kein Ackerbau, keine Zivilisation. So weit
draußen lebten sonst nur Beduinenstämme, aber nach einem Beduinen
sah er auch nicht aus, die Kleidung war ganz anders. Er trug eine weite
Beutelhose und ein Hemd mit einer schlichten Weste darüber. Ohne die
üblichen Stickereien, doch der Stoff sah teuer aus. Ein Kaufmann auf
Abwegen vielleicht? Aber wo war seine Karawane? Sein Kamel?
»Wer bist du?«, fragte sie und machte keinen Hehl aus ihrem
Misstrauen.
Er antwortete nicht und starrte sie bloß finster aus schwarzen Augen
an. Als Tochter eines Piraten war Rani an hasserfüllte Blicke gewöhnt, aber
sie waren die einzigen Menschen hier draußen im Nirgendwo; sie war
gerade erst aus ihrer Bewusstlosigkeit erwacht und ziemlich sicher, dass
sie sich noch nie zuvor begegnet waren.
»Ich habe dich vorhin gehört. Ich weiß, dass du sprechen kannst.«
26
Die Hände des Fremden ballten sich zu Fäusten. Rani blinzelte,
überrascht von so viel Feindseligkeit. Wieso versuchte sie überhaupt, ein
Gespräch anzufangen? In der Wüste lebten sowieso nur Djinn und
Verrückte.
Rani stand auf und sah sich um. Sie war an einem verlassenen Strand,
die rote Abendsonne verschwand gerade im Westen hinter den
Gebirgsausläufen von Jabaal Ahmar, sie musste also östlich von Safina
sein, der südlichen Hafenstadt von Rabiyah. Sie hatten Rabiyah
angesteuert, bevor der Sturm aufgezogen war. Das Fass, an dem sie sich
festgehalten hatte, lag ein paar Fuß von ihr entfernt halb im Wasser. Aziz
saß darauf und beobachtete sie und den Mann an ihrer Seite wachsam.
Algenschlacke hatte sich in Ranis Haaren verfangen, angewidert zog sie
sie heraus und klopfte Sand und Muschelreste von ihrer Kleidung. Sie war
komplett durchnässt und stank nach Fisch. Ihr Mund war trocken, ihr
Rachen fühlte sich rau an von dem vielen Salzwasser, das sie unfreiwillig
geschluckt hatte. Sie lechzte nach einem Schluck Quellwasser.
Dafür, dass sie von Bord gespült worden war, ging es ihr aber
erstaunlich gut. In Gedanken schickte Rani ein Gebet zu Daga ins Meer
hinaus und bedankte sich. Sie hätte ertrinken können. Nein, sie hätte
ertrinken müssen. So einen Sturm hatte sie noch nicht erlebt. Von
plötzlicher Angst ergriffen suchte sie den Strand mit den Augen ab, um zu
sehen, ob irgendwo Treibholz oder verloren gegangene Ware verstreut
lagen, aber nichts. Ihr wurde etwas leichter zumute. Wenigstens das Schiff
schien den Sturm überlebt zu haben. Keine Segel weit und breit.
Rani rannte ins Wasser, salzige Gischt spritzte ihre Beine hinauf. Sie
watete bis zu den Oberschenkeln hinein. Dann blieb sie stehen, verharrte
eine Weile, den Blick konzentriert auf den Horizont gerichtet, um zu sehen,
ob sie das Schiff ihres Vaters irgendwo zwischen den Wellen ausfindig
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machen konnte. Nichts. Nicht einmal ein Fischerboot.
Frustriert trat sie gegen das Wasser.
Aziz hatte sich in die Lüfte erhoben und zog seine Kreise knapp über ihr.
Der elende Vogel. Vor Wut ballte sie die Fäuste zusammen. Einem Djinn
durfte man natürlich nicht trauen, trotzdem konnte sie nicht fassen, dass
Aziz tatsächlich versucht hatte, sie umzubringen.
»Was sollte das, verflucht?«, rief sie ihm nun zu. Was tat er überhaupt
noch hier? Hatte wahrscheinlich Angst, ihr Vater könnte nun doch genug
von ihm haben und ihm den Hals umdrehen, wenn er zurückflog. Ihre
Mutter lauerte schon lange darauf, aus dem Vogel eine Suppe zu kochen.
Würde ihm ganz recht geschehen.
Aziz ignorierte sie und flog in die untergehende Sonne in Richtung der
glühenden Bergspitzen. Er krächzte kurz, flog eine Schleife und steuerte
dann abermals die Berge von Jabaal Ahmar an. Wenigstens schien er den
Weg zu kennen, obwohl Rani ihm durchaus zutrauen würde, sie mitten in
die Wüste zu führen und dort verhungern zu lassen. Die Djinn hatten
diese Art von Humor.
Nur anhand der Gebirgsformation war es jedoch schwer zu sagen, wie
weit Safina tatsächlich entfernt lag – Rani sah zermürbt auf ihre bloßen
Füße hinunter und hoffte, dass es nicht allzu weit war. Aber was für eine
Wahl hatte sie denn?
Sie hatte erst wenige Schritte gemacht, als sie das Rascheln von
Kleidung hinter sich vernahm. Der Fremde war ihr mit verbissener Miene
gefolgt.
Rani blieb stehen. »Was soll das? Willst du irgendwas?« So wie sie
aussah, konnte er doch wohl nicht glauben, dass es irgendwas zu klauen
gab.
Der Fremde blieb ebenfalls stehen. Wartete er auf etwas?
28
Ein bisschen weniger grimmig, wäre er vielleicht gutaussehend
gewesen. Er hatte dichte schwarze Haare bis zum Kinn und einen schön
geschwungenen Mund. Nett anzusehen, aber nicht wirklich ihr Typ. Dafür
war seine Mimik zu düster.
Rani dachte an Kazim und die Grübchen, die sich in seine Wangen
gruben, wann immer er lächelte. Sie hoffte, es ging ihm gut.
»Ich bin unterwegs nach Safina. Musst du auch dorthin?«, versuchte sie
es noch einmal.
Wieder keine Antwort. Schnaubend drehte sie sich herum. Ihre Fersen
wirbelten Sand auf, der um ihre nackten Waden schlug. Rani setzte ihren
Marsch fort. Als sie Schritte hinter sich vernahm, blieb sie nicht mehr
stehen. Sollte er doch machen, was er wollte.
Rani ging am Strand entlang, nahe am Wasser, wo die Flut den Sand
abgekühlt hatte. Kleine Steine und Muscheln pieksten in ihre Fußsohlen.
Die Abendsonne schien ihr direkt ins Gesicht, so dass sie die Augen
zusammenkneifen musste und kaum mehr sah, wo sie hinging.
Die Silberglöckchen um ihr Fußgelenk klimperten munter bei jedem
Schritt. Aziz flog höher, wohl um dem Klang zu entfliehen. Rani entging
nicht, dass er den Fremden argwöhnisch im Blick behielt.
Die Sonne sank tiefer, ohne dass die blauen Kuppeldächer von Safina in
Erscheinung traten. Im Hellen würden sie es nicht mehr schaffen.
Gänsehaut kroch ihre Arme hinauf, als ihr bewusst wurde, was das
bedeutete. Sie würde Rast machen müssen und nachts war keine gute
Zeit, um allein und ohne Schutz in der Wüste zu sein.
Während sie weiterging, hielt Rani Ausschau nach verschiedenen
Gegenständen. Dabei sammelte sie eine Möwenfeder, einen Stein,
Muschelschalen und ein trockenes Stück Treibholz auf. Als sie das letzte
Teil gefunden hatte, war die Sonne ganz verschwunden, die Ränder am
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Himmel färbten sich dunkelblau und ihre Bewegungen wurden hastiger.
Aziz ließ warnende Töne von oben erklingen.
Für ihr Lager wählte sie ein steiniges Fleckchen Sand etwas weiter die
Düne hinauf, das am Morgen nicht von der Flut überschwemmt werden
würde. Dort zog Rani mit dem Fuß einen Kreis in den Sand, groß genug,
dass sie gemütlich darin liegen konnte, ohne die Linie beim Umdrehen zu
durchbrechen. Dann begann sie die Gegenstände zu verteilen, die sie
gesammelt hatte. Jeweils einen in jeder Himmelsrichtung. Wo welcher
Gegenstand platziert wurde, hing mit dem jeweiligen Element
zusammen – hoffentlich hatte sie alle noch richtig im Kopf. Sie verfügte
über keine Zauberkräfte und kannte keine Schutzformeln oder magischen
Symbole, welche sie zusätzlich geschützt hätten. Ihr Kreis war ziemlich
jämmerlich, aber er war alles, was Rani hier draußen fertigbrachte.
Aziz landete auf einem abgebrochenen Ast, der wie ein Arm aus dem
Sand herausragte, und machte ein Geräusch wie ein Schnauben. Als ob sie
seinen Kommentar gebrauchen könnte.
Als Rani fertig war, setzte sie sich in das Innere des Kreises und sah zu
dem Fremden auf, der wie erwartet stehen geblieben war.
»Es wäre dämlich, im Dunkeln weiterzulaufen«, sagte sie im
Plauderton, als würden sie sich schon eine ganze Weile unterhalten. »Das
lädt nur Ghule und alles mögliche andere Ungeziefer dazu ein, zum Spielen
rauszukommen. Setzt du dich zu mir?«
Der Fremde reagierte nicht und blieb auf Abstand. Schulterzuckend
löste Rani den Verschluss, der ihre Silberglöckchen am Knöchel
zusammenhielt. Sie hob sie in ihre Handfläche, wog sie ab, den Fremden
im Blick.
Rani grinste. »Fang«, rief sie, schwang ihren Arm und warf die
Glöckchen. Sie hatte auf sein Gesicht gezielt, aber bevor das Kettchen ihn
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treffen konnte, riss er die Hand nach oben und schloss die Finger um die
Silberschellen zur Faust.
Seine Züge verzogen sich zu einer schmerzerfüllten Grimasse. Zischend
ließ er die Glöckchen zu Boden fallen.
»Tut weh?«, fragte Rani unschuldig.
Seine Mundwinkel zuckten kaum merklich. Die erste Gefühlsregung, die
er abseits von Hass in ihrer Gegenwart bisher gezeigt hatte. Seine Augen
glommen golden auf. »Was hat mich verraten?« Seine Stimme war tief und
rau. Die Wüste verbarg sich darin, Feuer und Wind; etwas, das so alt war
wie das Meer.
Rani zog ihre Beine im Schneidersitz an, die Hände um die Knöchel
geschlossen, und wippte leicht vor und zurück. »So ziemlich alles«, sagte
sie. »Für einen Djinn hast du deine Form ganz gut drauf. Ich habe schon
von welchen gehört, die Ohren oder Fingernägel vergessen haben. Aber du
atmest nicht regelmäßig und du bewegst dich zu gleichförmig. Menschen
ermüden bei langen Märschen rasch und werden langsamer. Nicht zu
vergessen, dass du ein ziemlich gut gekleideter Typ mitten in der Einöde
bist. Mal ehrlich, für wie blöd hältst du mich?«
»Blöd genug.« Der Djinn sah auf ihren Bannkreis hinunter. »Das würde
mich nicht aufhalten.«
»Was hält dich dann auf?«
Er riss die Zähne auseinander und entließ ein Fauchen, das mehr
tierisch war als menschlich.
Kalter Schweiß perlte ihr den Nacken hinunter. Rani versuchte keine
Angst zu zeigen, aber das war nicht so einfach, wenn man ganz allein in
der Wildnis war und einem Djinn gegenüber saß.
»Wieso verfolgst du mich?«, fragte sie.
Der Djinn ließ sich ebenfalls im Schneidersitz in den Sand sinken. Seine
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Augen glühten vor Hass. »Glaub nicht, dass es mein Wunsch ist.«
»Was dann?«
Doch er schwieg.
»Antworte!«
In dem Moment geschah etwas. Ein Ruck ging durch den Körper des
Djinns. Seine Mundwinkel verzogen sich gequält und er kniff die Augen
zusammen wie unter Schmerzen. Als er sie wieder öffnete, glänzte Schweiß
auf seiner Stirn. »Du hast die Flasche. Ich folge.« Die Worte klangen
gepresst, als wollte er sie im gleichen Atemzug wieder zurücknehmen.
»Die Flasche?« Rani zog das Fläschchen aus ihrer Hemdtasche. »Diese
hier?« Verwundert hielt sie inne. Die Flasche war nicht mehr schwarz,
sondern klar und durchsichtig wie Glas.
Dann erst begriff sie.
»O Daga«, flüsterte sie und zuckte zurück. Fast hätte sie dabei ihren
Schutzkreis durchbrochen. Aziz kreischte unheilvoll. »Du warst
eingesperrt – in der Flasche! Deswegen hat auch die Frau …« Sie geriet ins
Stammeln. »Und ich habe dich befreit!« Fassungslos drehte Rani die
Flasche in ihrer Hand hin und her. Erst jetzt fielen ihr die vielen Symbole
auf, die in die Oberfläche eingearbeitet waren. Bannzauber, da war sie sich
sicher. »Aber – das sind nur Märchen. Kindergeschichten. Die Djinn sind
nicht da, um Menschen zu helfen oder Wünsche zu erfüllen.«
»Nein. Das sind wir nicht.« Der Djinn neigte seinen Kopf zur Seite.
Etwas an der Geste ließ ihn noch unmenschlicher erscheinen. »Aber die
meisten Märchen haben einen wahren Kern. Zu alten Zeiten war es Sitte,
dass jeder große Herrscher einen Djinn an seiner Seite hielt und über ihn
befehligte.«
Ein Djinn als Diener. Der Gedanke war aufregend und erschreckend
zugleich. Wer konnte verrückt genug sein, ein solches Geschöpf bändigen
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zu wollen? Die Flasche in ihrer Hand fühlte sich warm an, fast lebendig.
Am liebsten hätte Rani sie weggeworfen, aber was wurde dann aus dem
Djinn? Auf keinen Fall wollte sie das kleine bisschen Macht, das sie über
ihn hatte, verlieren und sich ihm schutzlos ausliefern. Er würde sie
zerfetzen und das, so wie er sie ansah, auch noch mit Freude.
»Und heute?«, fragte Rani.
Ein tückisches Glitzern erschien in den Augen des Djinns.
»Jahrhunderte sind vergangen. Die Menschen haben ihre Lektion gelernt.«
Sie erschauderte.
»Wer hat dich eingesperrt?«
»Jemand sehr Einfältiges«, sagte er grollend. »Sie wird ihre
Entscheidung früh genug bereuen.« Wütend starrte er auf sein Gefängnis
in Ranis Hand, als könnte er allein mit der Wucht seines Zorns die Flasche
zum Bersten bringen.
Schnell stecke Rani sie weg.
Die Schatten wurden dichter. Die Züge des Djinns waren inzwischen
kaum noch zu erkennen. Ein kühler Wind wehte die Küste entlang und ließ
sie zittern.
Rani rieb über ihre Arme und stellte sich auf eine lange, kalte Nacht ein.
»Also, wie läuft das? Du musst meinen Befehlen gehorchen und mir
folgen, solange ich die Flasche habe?«
Sein Schweigen war Antwort genug.
»Ich kann dich zwingen zu reden, nicht wahr?«
»Ich würde es dir nicht empfehlen.« In seinen dunklen Augen blitzte es
golden auf und Rani musste an das Djinnfeuer denken. Die vielen Toten.
»Du weißt nicht, mit wem du es zu tun hast.«
»Wieso sagst du es mir dann nicht? Wie heißt du und wie werde ich
dich wieder los?« So verlockend diese Dienersache auch klang, aber Rani
33
wollte nun wirklich keinen Djinn, der sie für den Rest ihres Lebens
verfolgte und auf Rache sann. Vielleicht, wenn er süß wäre und ab und an
mal lächelte. Aber nicht so. Nicht, wenn er sie ansah, als würde er sie
liebend gerne in der Luft zerreißen und ihre Überreste in der Wüste
verstreuen.
»Mein Name ist Jaal und wenn du tust, was ich dir sage, verschone ich
dein Leben.«
Es war leichtsinnig, aber Rani konnte nicht anders. Sie fing an zu
lachen. »Du bist mein Diener, nicht umgekehrt. Schon vergessen? Du
kannst mich gar nicht töten.«
»Gib mir genug Zeit und ich finde einen Weg.«
Das brachte sie wieder zur Vernunft und das Grinsen verging ihr.
»Schön … Jaal. Dann sag mir die Regeln.«
Einer direkten Aufforderung schien er nicht ausweichen zu können. Er
sprach mit zusammengepresstem Kiefer. »Drei Wünsche. Bis der letzte
Wunsch erfüllt ist, bin ich gebunden, an deiner Seite zu bleiben und
deinem Wort zu folgen.«
Drei Wünsche. Das klang nun doch nicht so schlecht. »Und ich könnte
mir wirklich alles wünschen? Gold, Schiffe, Wasser? Alles?«
»Es gibt Regeln. Aber Silber, Schiffe, Wasser – das liegt im Bereich des
Möglichen. Wieso Wasser?«
»Mein Mund klebt vor Salz. Im Moment wäre ich bereit, so ziemlich alles
für einen Schluck klares Wasser zu tun.«
»Ist das dein erster Wunsch?«, knurrte Jaal, bevor er sich unter Kontrolle
brachte und sogar ein halbes Lächeln schaffte. »Ich erfülle sie dir alle gleich
hier. Ohne Spielchen, ohne Tricks, wenn du mich anschließend befreist.«
»Befreien? Wie?« Nicht, dass Rani es vorhatte – einen ungebundenen
Djinn mit einem Grund, sie zu hassen, wollte sie unter keinen Umständen
34
in ihrer Nähe haben. Aber sie war neugierig.
»Frei werde ich nur, wenn die Flasche zerstört wird. Das vermag nur
derjenige, der mich gebannt hat.« Jaal lehnte seinen Oberkörper vor, das
Grollen verschwand aus seiner Stimme, stattdessen nahm sie einen
weichen, fast schmeichelnden Unterton an. »Hilf mir die Frau zu finden,
die das getan hat, und du wirst die Djinn für immer auf deiner Seite
haben.«
Seine Züge verschoben sich. Sein Kinn wurde spitzer und die Nase
kleiner. Zuerst dachte Rani, es wäre ein Trick der Schatten, aber dann
entdeckte sie Grübchen, die zuvor mit Sicherheit nicht da gewesen waren.
Er begann, wie Kazim auszusehen.
Der Schuft.
Glühender Zorn durchfuhr Rani und machte sie mutiger, als sie sich
fühlte. »O nein. Das lässt du bleiben!«
Jaal blinzelte. Als er seine Lider wieder aufschlug, hatte er seine
ursprünglichen Züge angenommen. »Ich dachte, vielleicht wäre dir dieses
Gesicht lieber. Nein?«
Sie krallte ihre Finger in den Sand. »Ich weiß genau, was du dachtest –
und es funktioniert nicht! Ich kenne euch Djinn – die Geschichten. Ein
hübsches Gesicht, schmeichelnde Worte, gesprochen mit gespaltener
Zunge. Und ehe man sich versieht, hat man sich in einem Netz geschickter
Lügen verfangen, aus dem man nicht mehr entkommen kann.«
»Du kennst vielleicht die Geschichten.« Jaal rammte beide Hände in den
Sand, grub tiefer, bis sein halber Unterarm im Boden verschwand. Der
Sand glühte golden, erhellte für einen Moment seine Züge und die rohe
Wut, die darin kämpfte. Die Dünen bewegten sich, erst sanft, kaum
merklich. Dann formten sie hohe Wellen, ein Auf und Ab wie auf hoher See
im Sturm. Aziz wurde von seinem Ast geworfen und flatterte schrill
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kreischend über ihr. Eine der schlagenden Dünen riss Rani von den Füßen
und warf sie auf den Rücken. Ihr Kreis wurde durchbrochen. Sie sammelte
Atem, um einen Befehl zu brüllen, aber bevor sie dazu kam, legte sich eine
warme Hand auf ihren Mund. Ihr Puls schnellte in die Höhe.
»Aber du weißt nichts über die Djinn.«
Ende der Leseprobe
Rebecca Wild wurde am 21. Juni 1991 in Salzburg geboren, verbrachte
jedoch einen Teil ihrer Kindheit in München. Schon früh zeigte sich ihre
kreative Seite. So hat sie sich dem Zeichnen und dem Schreiben zugewandt
und den Kern der Mathematik nie ganz verstanden. Heute lebt sie wieder
in Salzburg, hat dort ihr Studium MultiMediaArt abgeschlossen und
widmet sich dem Niederschreiben und Ausformulieren ihrer Tagträume.
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Drei Fragen an Rebecca Wild
© Jürgen Sperrer
Was hat dich zu deinem neuen Roman inspiriert?
Ich fand den Orient und die alten Märchen aus 1001 Nacht schon immer
faszinierend und wollte unbedingt eine Fantasygeschichte schreiben, die
in so einem Setting spielt. Als ich im Internet etwas über Piraten gelesen
habe, hat es in meinem Kopf endlich Klick gemacht und ich hatte meine
Idee für »Djinnfeuer« im Kopf.
Viel Inspiration für die Geschichte habe ich mir aus arabischen Märchen
und dem Disney-Film »Aladdin« geholt. Ich bin großer Disney-Fan und
wer den Film ebenfalls kennt, wird sogar einige Szenen in abgewandelter
Form daraus wiedererkennen.
Meine Faszination für den Orient hat mich schließlich nach Jordanien
getrieben, wo ich eine Woche lang durchs ganze Land gereist bin. Ich habe
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eine Nacht in einem Beduinenzelt in der Wüste verbracht, bin auf einem
Kamel geritten und konnte die verschiedensten Eindrücke für meine
Geschichte gewinnen. Die jordanische Felsenstadt Petra ist zudem Vorbild
für »Ahmar«, dem Hauptschauplatz meiner Geschichte. Die Vorstellung
einer Stadt inmitten von rosafarbenen Felsen, die nur durch den Eingang
einer schmalen Schlucht zu erreichen ist, fand ich wahnsinnig romantisch.
Welche Figur aus deinem neuen Roman ist dir besonders ans Herz
gewachsen und warum?
Wer mir wirklich ans Herz gewachsen ist, ist Amare, mein hübscher, eitler
Wüstenprinz. Zu Beginn wirkt er wie ein sehr oberflächlicher Charakter,
der nur auf seichte Vergnügungen aus ist, aber während des Verlaufs der
Geschichte hat er es doch immer wieder geschafft, mich zu überraschen,
und hat bewiesen, dass mehr in ihm steckt, als der erste Blick vermuten
lässt, aber das werdet ihr später im Roman noch selbst erfahren. ;-)
Auf welches Buch in deinem Bücherregal oder auf deinem EReader könntest du niemals verzichten und warum?
Puh, davon gibt es viele, aber wenn ich mich auf einen Roman beschränken
müsste, wäre das »Wuthering Heights« von Emily Brontë. Die
Liebesgeschichte von Catherine und Heathcliff ist wunderschön und
gleichzeitig erschütternd. Ich lese den Roman alle Jahre wieder und kann
ihn stellenweise auswendig.
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Das sind wir!
Es stellt sich vor: Malena Brandl aus dem Business
Development
© Vanessa Eggers
Malena Brandl ist seit März 2015 im Business Development des Carlsen
Verlags tätig. Das ist sozusagen die Innovationsabteilung des Verlags.
Hier beobachtet das Team alle Entwicklungen auf dem Buch- und
Digitalmarkt und erarbeitet neue Ideen und Konzepte für CarlsenProdukte. Im Moment ist sie vor allem für Carlsens Crowdfunding-Projekt
Graphicatessen zuständig und koordiniert die Produktion der Impress-EBooks.
Guten Morgen, jetzt gibt's erst mal 'nen Kaffee.
39
Und dann schauen wir mal, was sich über Nacht
so getan hat in der digitalen Welt. Was machen
meine laufenden Crowdfunding-Projekte, gibt es
Pinnwandeinträge oder Mails von Unterstützern,
die beantwortet werden wollen? Und während ich
im Feierabend war, hat die Konkurrenz sicher
nicht geschlafen – was gibt's Neues bei Startnext
& Co.?
Nach einem Überblick werden Mails
beantwortet – ein Hauptteil meiner Arbeit ist die
Koordination verschiedener Arbeitsschritte von
unterschiedlichen Teammitgliedern, im Moment
sogar über Ländergrenzen hinweg. Es ist also von
Vorteil, dass ich mich wohl dabei fühle, auf
Englisch zu kommunizieren.
Aber heute ist vor allem Impress-Tag, die
Datenabgabe unserer Novitäten steht an und ich
betreue die Produktion. Das bedeutet, dass ich
gestern schon alles vorbereitet habe und die
Impress-Lektorinnen alle relevanten Daten zur
Gestaltung der neuen E-Books bereits
formgerecht (hoffentlich) abgelegt haben. Sobald
ich alle Details kenne – »Bitte die Kronen-Vignette
für Royal in einem hellen Coverblau« oder
»Können wir diese Illustration der Autorin bitte
noch vor der Vita einbauen?« –, stelle ich mit
Photoshop die relevanten Assets her und wende
ich mich an unsere Produzentin.
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Heute liegt außerdem die Produktion von
Impress-E-Boxen an, also das Bündeln mehrerer
Romane in einem E-Book-Bundle mithilfe eines
speziellen Online-Tools. Die E-Boxen übernehme ich
immer selbst. Hierbei ist höchste Konzentration
gefragt, denn schon ein einziger Fehler kann
dafür sorgen, dass ich alles noch einmal
produzieren muss. In solchen Situationen ziehe ich
mich gerne »in the zone« zurück, indem ich
Kopfhörer aufsetze und Musik höre. So kann ich
die Bürogeräusche ausblenden und mich ganz auf
meine Aufgabe konzentrieren.
Zurück aus der »zone« beschäftige ich mich
noch mit ein paar Lern-Apps für Kids – testen,
screenen, vergleichen.
Über mangelnde Abwechslung kann man sich bei
uns echt nicht beklagen!
41
Julia K. Stein: »Leda & Silas, Band 1:
Regenbogenzeit«
Erscheinungsdatum: 07. Januar 2016
Inhalt
Maisfelder bis zum Horizont und kein Hochhaus weit und breit. Ihre
42
Sommermonate bei einem Schlachthauspraktikum mitten im Nirgendwo
Deutschlands zu verbringen, hätte die 17-jährige Leda unter normalen
Umständen niemals in Erwägung gezogen. Doch genau hier ist ihre
Mutter vor einem Jahr ums Leben gekommen und Leda ahnt, dass sich
hinter der Idylle ein düsteres Geheimnis verbirgt. Erst als sie dem jungen
Amerikaner Silas über den Weg läuft, bekommt der Sommer einen Hauch
flirrender Romantik. Aber auch der attraktive Silas trägt ein Geheimnis
mit sich und zwar ein nicht weniger dunkles als Ledas …
43
Leseprobe
Vielleicht hatte meine Mutter vor etwas über einem Jahr im gleichen Zug
gesessen. Der Gedanke kam so schnell, dass ich ihn nicht verhindern
konnte, und sofort schien sich mein Herz zusammenzuziehen. Nein, es
schien sich nicht zusammenzuziehen, es zog sich wirklich zusammen, bis
es klein und hart war wie ein Stein. Ich schloss die Augen, atmete tief
durch und schüttelte den Kopf. Ich war schon immer gut darin gewesen,
Gedanken zu verdrängen. Schließlich übte ich seit meinem siebten
Lebensjahr. Im letzten Jahr war ich meisterhaft darin geworden.
Der Regionalzug hatte türkise Polster, die mit Edding beschmiert
waren. Das Abteil wurde von einer Klimaanlage so stark heruntergekühlt,
dass ich in meinem Spaghettiträger-Top fröstelte. Aber kein Fenster ließ
sich öffnen. Anscheinend sollte man sich nicht aus dem Fenster lehnen
und sich den warmen Fahrtwind ins Gesicht wehen lassen. Man könnte ja
die Klimaanlage durcheinanderbringen. Ich strich mir eine Haarsträhne
aus dem Gesicht. Es war immer noch ungewohnt, wie dunkel meine Haare
waren, und der neue Pony klebte an meiner Stirn.
Die Landschaft draußen änderte sich schnell. Es wurde ländlich und die
Bahnhöfe wirkten altmodisch, als würde man nicht von Berlin weg,
sondern in der Zeit zurückfahren. Was machte man eigentlich den ganzen
Tag, wenn man in einem dieser Dörfer wohnte?
Die Zugfahrt würde noch über eine Stunde dauern. Um mich
abzulenken, sah ich mir nochmals die Notizen meiner Mutter an, die ich
mit meinem Smartphone abfotografiert hatte, damit ich nicht immer den
großen Faltplan aus meinem Rucksack holen musste. Alle hielten mich für
verrückt und behaupteten, ich wolle einfach nicht wahrhaben, dass meine
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Mutter gestorben war. »Es war ein Unfall«, hatte mein Vater beharrt und
an meinen Schultern gerüttelt. Auch die dämliche Psychologin, die ich
ständig treffen musste, hatte mich mitleidig angesehen, als ich andeutete,
dass der Tod meiner Mutter vielleicht gar kein Unfall gewesen war. Dass
man die Schuldigen endlich stellen und zur Rechenschaft ziehen sollte.
Deshalb hatte ich ihnen auch weder die Karte gezeigt, die ich gefunden
hatte, noch die sich darauf befindenden Notizen erwähnt. Sie hätten mich
ganz sicher nie dieses Praktikum machen lassen, wenn sie wüssten, dass
ich herausfinden wollte, woran meine Mutter als Letztes gearbeitet hatte.
Sie dachten, ich sei in Potsdam bei einem kleinen Verlag. Stattdessen
würde ich mit den Mitarbeitern des Schlachthofs reden und herausfinden,
was damals genau passiert war. Vielleicht wäre ja zumindest meine
Mutter stolz auf mich gewesen, wenn sie noch am Leben wäre. Ich
klammerte mich an den Gedanken, dass sie irgendwie sehen würde, dass
ich etwas Sinnvolles tat. Denn wenn es einen Schuldigen gab, würde ich
ihn finden.
Die Minuten in der glühenden Hitze am Bahnhof, bis der Bus kam,
dehnten sich scheinbar unendlich. Die Sonne prickelte in meinem Nacken.
Dann stieg ich in einen Bus, der für eine weitere halbe Stunde über die
Dörfer schlich. Immerhin gab es jetzt keine Klimaanlage. Ich mochte es
heiß und fühlte mich wohl, wenn die Gehirnzellen zu schmelzen begannen
und der Kopf vor Hitze surrte. Vielleicht erinnerte die Sonne mich auch an
die langen Sommer, die ich als kleines Kind mit meinen Eltern verbracht
hatte. Damals waren wir stets nach Sylt oder nach Südfrankreich zu
meiner Großmutter gefahren und ich hatte mit meiner nur elf Monate
jüngeren Schwester Ella Sandburgen mit Unmengen an Festungsgräben
gebaut. Wir bauten sie immer zu nah an der Brandung, so dass wir sie
ständig ausbessern mussten, stundenlang, bis wir nach Hause gingen
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und die Sandburg wieder dem Meer überließen. Mein Vater und meine
Mutter lasen unentwegt. In den kurzen Lesepausen versuchten mein
Vater, Ella und ich Krebse zu fangen. Die Leute dachten damals, Ella und
ich seien Zwillinge, so ähnlich sahen wir uns. Wir waren schmal wie meine
Mutter und im Sommer wurden unsere Haare so blond wie die ihren, dazu
hatten wir beide die dunklen Augen von meinem französischen Vater. Nur
unsere Hautfarbe war völlig anders. Ihre Haut wurde im Sommer
goldfarben, meine blieb weiß und wurde höchstens rot. Jetzt waren meine
Haare wegen der künstlichen Farbe einfarbig dunkelbraun. Ich hatte sie so
lang gelassen, wie sie waren, aber mit dem markanten Pony sah ich jetzt
sogar noch blasser und irgendwie französischer aus.
Meine Eltern hatten nur im Sommer Zeit für uns gehabt, der Rest des
Jahres war für ihre Schreibtische an der Uni reserviert gewesen. Sie
besuchten Konferenzen, schrieben Aufsätze über den Einfluss von
Voraussagen über die Zukunft auf die wirklich eintreffende Zukunft oder
über die Auswirkung von Nahrungsknappheit auf geschlossene Systeme.
Ella und mir war das egal gewesen. Wir hatten ja uns gehabt. Später, als
Ella nicht mehr dabei war, hatten wir abgesehen von den Besuchen bei
meiner Großmutter in Südfrankreich kaum noch Urlaube gemacht,
sondern die Sommerferien mit Sozialprojekten verbracht. »Man muss Gott
einen Grund geben, dass er einen am Leben lässt«, hatte meine Mutter
stets geantwortet, wenn jemand sie fragte, warum sie die ganzen Ferien
damit verbrachte, Häuser für ärmere Menschen zu bauen. Vielleicht hat
Gott es ihr nicht abgenommen.
Am Nachmittag erreichte ich Wözen. Das Dorf war eng an die
Hauptstraße gebaut, so als hätten die Erbauer nicht damit gerechnet, dass
hier mal Autos, geschweige denn Busse durchfahren würden. Laut Google
Earth gab es einen Bäcker, einen Supermarkt, einen Frisör und einen
46
Geschenkeladen, der Duftkerzen im Fenster ausstellte. Das war's. Der Bus
machte einen Schlenker und hielt auf einer Art Marktplatz mit
Kopfsteinpflaster. Mit mir stiegen noch drei weitere Fahrgäste aus, die sich
schnell entfernten, als hätten sie Angst vor mir. Wenn ich mir die
Häuserfront ansah, war ich überrascht, dass überhaupt jemand
ausgestiegen war. Wözen war möglicherweise der trostloseste Ort, den ich
je gesehen hatte.
Erschöpft zog ich meinen schwarzen Rollkoffer hinter mir her, aber die
Rollen verfingen sich ständig im Kopfsteinpflaster. Dann betrat ich den
Bäckerladen mit der abgeblätterten Fassade und der altmodisch
geschwungenen Leuchtschrift. Ich brauchte ein Zimmer. Hinter der Theke
standen eine ältere Frau und ein Junge, vielleicht achtzehn, beide schielten
und hatten dünne braune Haare, wahrscheinlich Mutter und Sohn.
»Kann ich dir helfen?«, fragte der schlaksige Junge eifrig und mit einem
freundlichen Lächeln. Er schielte so stark, dass ich fast hinter mich geblickt
hätte. Ich hatte keine Ahnung, wo ich in seinem Gesicht hinschauen sollte,
um seinen Blick zu treffen. Stattdessen konzentrierte ich mich auf die
Auslagen, die spärlich bestückt waren, als würde man ohnehin nicht mit
vielen Verkäufen rechnen, und deutete auf ein großes, aber schon durch
die Glasscheibe trocken aussehendes Croissant.
»Ich nehme das.«
»Das ist gut«, sagte der Junge überzeugt. »Bist du zu Besuch hier?«
Seine Augen sprangen hin und her, als wollte er zumindest versuchen,
mein Gesicht zu treffen. Er tat mir leid. Er hatte seine mausfarbenen
Haare mit Gel nach oben gestrichen und sich eindeutig über die Auswahl
seines T-Shirts Gedanken gemacht. Seine Mutter schlurfte in
Badeschlappen in den hinteren Teil der Bäckerei, ohne mich weiter zu
beachten.
47
»So ähnlich. Ich mache ein Praktikum bei Kleine Farm.«
»Beim Interfector?«
Ich war zu überrascht, um etwas zu sagen. Wie schnell ihm doch ein
Name über die Lippen kam, den ich normalerweise nur leise dachte, voller
Hass.
»Ist dasselbe. Du bist nicht von hier.«
»Nein, aus, äh, Berlin«. Ich wollte nicht die lange, komplizierte
Geschichte erzählen, dass ich zwar ursprünglich aus Berlin kam, aber schon
seit Jahren mit meinen Eltern in den USA wohnte, wo sie als Professoren
an einer Universität unterrichteten und ich ein Internat besuchte. Ich war
nur für den Sommer nach Deutschland gekommen, wie fast für jeden
Sommer. Er sah mich für meinen Geschmack sowieso viel zu neugierig an.
Ich wollte keine Aufmerksamkeit erregen und vor allem nicht erkannt
werden. Schließlich hatte ich mir nicht umsonst die Haare gefärbt und mir
einen Pony geschnitten. Wahrscheinlich konnte sich niemand an mein
Aussehen erinnern, aber ich wollte kein Risiko eingehen.
»Warum suchst du dir einen Job in unserem Kaff, wenn du in Berlin
sein könntest?« Er blickte mich verständnislos an, beziehungsweise sah es
immer noch so aus, als blickte er hinter mich, aber weil niemand in meiner
Nähe stand, musste er mich meinen. Dabei fasste er das Croissant mit
einer Zange und ließ es bedächtig in eine braune Papiertüte plumpsen. Er
schien alle Zeit der Welt zu haben.
»Mhh?«, fragte er.
Ich zuckte mit den Schultern, überwand mich aber zu einem Lächeln.
Vielleicht konnte er mir helfen. »Ich brauche ein Zimmer. Hast du eine
Idee, wo ich hier eins finden kann?«
»Zum Schlafen?«, fragte der Junge. »Ach so, klar, natürlich.« Er wurde
rot.
48
»Für die nächsten sechs Wochen.«
»Aber du bist hübsch, was willst du beim Interfector?« Er lächelte schief.
Er hatte relativ große Schneidezähne.
Meine Güte, keine Ahnung, was hier los war. Ich legte einen Euro auf
den Tresen, murmelte: »Gut. Danke. Also tschüss dann!«, und machte,
dass ich davonkam. Draußen merkte ich, dass ich immer noch keine
Ahnung hatte, wo ich jetzt ein Zimmer finden konnte.
Hinter mir bimmelte die Schelle an der Tür und ich sprang erschrocken
zur Seite.
»Frag beim Färber nach. Der vermietet manchmal ein Zimmer.« Der
Junge lächelte und fuhr mit der Hand durch seine Gel-Haare. »Wir sehen
uns bestimmt noch mal. Ich bin übrigens der Niko.«
»Ja, danke.«
Vielleicht war es doch ein Fehler gewesen, nach Wözen zu kommen.
Gerade kam mir alles vor wie eine dumme Idee. »Wer ist Färber?«
»Da drüben, der Wirt vom Heimatheim.« Er zeigte auf die Kneipe ein
paar Häuser weiter.
Ich wandte mich in die Richtung, in die er gewiesen hatte. Nein, es war
keine dumme Idee. Der Täter musste seine Strafe bekommen. Das war ich
meiner Mutter schuldig.
»He, und wie heißt du?«, rief Niko mir hinterher.
»Leda«, rief ich wahrheitsgemäß zurück und eilte weiter, bevor er auf
die Idee kam, noch weitere Fragen zu stellen. Mein Vorname musste zum
Glück kein Geheimnis bleiben.
Das Heimatheim war im vergeblichen Versuch, Fröhlichkeit
heraufzubeschwören, gelb angestrichen worden. Aber die Zeit hatte das
Gebäude verfärbt. Einige Putzstellen waren herausgebrochen und hatten
rötliche Wunden hinterlassen. Das Wasser, das bei schlechtem Wetter aus
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den Regenrinnen an der Hausmauer herunterlief, hatte graue Schlieren
gezogen. Von außen sah man nur zerschlissene Gardinen und verstaubte
Yucca-Palmen im Schaufenster, aber erstaunlicherweise öffnete sich die
Tür, als ich die Klinke herunterdrückte.
Nachdem sich meine Augen an das plötzliche Dämmerlicht gewöhnt
hatten, erkannte ich eine Theke aus dunkler Eiche, Holztische mit beigen
Tischdecken und Plastikpflanzen. Auf den Barhockern saßen drei ältere
Männer und zwei Frauen mit glasigen Augen, die eine Reihe Pilsgläser vor
sich aufgebaut hatten. In den Raum fiel kaum Licht von draußen.
Wahrscheinlich sollten die Besucher vergessen, dass sie mitten am Tag mit
dem Trinken anfingen. Der Mann, der hinter dem Tresen gerade ein
weiteres Pils zapfte, trug einen braunen, melierten Strickpullover, der in
Berlin-Mitte wahrscheinlich hip war. Er trug ihn ohne Hipness. Er blickte
mich mit hervorstehenden Augen an, als würde ich ihn stören. Vielleicht
war es ihm eine Spur unangenehm, dass ich ihn dabei ertappte, wie er Geld
an diesen armseligen Wichten verdiente. Auch die Personen auf den
Barhockern richteten ihre zusammengesunkenen Schultern minimal auf
und blickten mich neugierig an. Ihre Blicke waren freundlicher als die des
Wirts, selig vom Alkoholpegel im Blut. Ich kannte diesen Ausdruck nur
allzu gut.
»Wie verirrt sich denn so ein hübsches Mädchen zu uns?«, sagte der
eine, dem Pilsschaum am Bart hing. Vielleicht lächelte er. Viel war von
seinem Gesicht hinter dem fusseligen Bart nicht zu erkennen. Dafür war
sein Kopf fast kahl. So oft hintereinander war ich selten als hübsch
bezeichnet worden. Es lag bestimmt nicht an meiner neuen Frisur.
Wahrscheinlich eher daran, dass die Konkurrenz hier eher klein war und
alle dankbar ein neues Gesicht anschauten. Niemand, dem ich bisher
begegnet war, hatte fröhlich ausgesehen.
50
»Guten Tag. Ich suche den Färber.«
»Ahh, den Färber sucht sie«, sagte der bärtige Mann und spielte
enttäuscht. »Ich dachte, du suchst mich. Ein Glückspilz, unser Färber.« Er
ließ seinen Blick über mein Shirt gleiten, vielleicht las er den Schriftzug
darauf, aber dann brauchte er sehr lange fürs Lesen. »Da drüben, das ist er,
unser Chef«, sagte er.
»Ich suche ein günstiges Zimmer und mir wurde in der Bäckerei gesagt,
dass Sie eins hätten?«, fragte ich den Wirt, dessen heruntergekommene
Kneipe nichts Gutes über den Zustand des Zimmers verheißen ließ. Die
Gaststättenbesucher blickten von mir zum Wirt. Sie taten nicht einmal so,
als würden sie nicht genau zuhören, was das fremde Mädchen wollte. Eine
der Frauen fixierte mich mit zusammengekniffenen Augen. Aber wenn ich
nicht in der Sammelunterkunft der Schlachterei schlafen oder täglich von
Berlin aus pendeln wollte, war dieses Dorf die einzige Möglichkeit.
Der Wirt musterte mich von oben bis unten und kratzte sich dabei an
seinem stoppeligen Kinn. »Eigentlich schon, aber das Zimmer ist schon
weg.«
Ich hatte das Gefühl, dass die Gruppe am Tresen unruhig die
Sitzposition wechselte. »Okay, danke«, sagte ich schnell und irgendwie
erleichtert. Ich drehte mich um, um diesen beklemmenden Raum
schnellstmöglich zu verlassen.
»Warte mal, Mädchen, nicht so schnell«, rief Färber hinter mir her, als
hätte er nicht damit gerechnet, dass ich so schnell aufgeben würde. Ich
drehte mich wieder um und wünschte mir, ich hätte mehr an als mein
dünnes Top, das vom vielen Waschen besonders weich war, aber auch
schon fast durchsichtig. Ich spürte die Blicke der Kneipenbesucher, die
mich neugierig musterten, direkt auf der Haut, als würden sie mich
anfassen. Verstohlen schaute ich an mir herunter und legte einen Arm
51
instinktiv schräg über meine Brust.
»Meine Frau vermietet das alte Kinderzimmer unserer Tochter«, sagte
der Wirt. »Es ist nicht sonderlich groß und es sind noch ziemlich viele alte
Sachen drin. Aber wenn das in Ordnung für dich ist, kannst du es haben.«
Während er das sagte, blickte er so stur an mir vorbei, als hätte er an
diesem Gespräch plötzlich das Interesse verloren.
Die Frau an der Theke, die ein auffallend pinkes T-Shirt trug, das ihre
braunen, aus laschen Hautfalten bestehenden Arme entblößte, sah den
Wirt überrascht an und ihre glasigen Augen fokussierten mich für einen
Moment mit unverhohlener Verwunderung. Auch ihre Nachbarn
wechselten nervös die Position. Aber wahrscheinlich bildete ich mir das ein.
»Ja?«, fragte ich.
»Geh einfach die Treppe im Flur nach oben. Nikole ist da.«
»Okay, danke«, sagte ich und da die Gruppe weiterhin unruhig auf ihren
Stühlen herumrutschte, ging ich schnellen Schrittes in die Richtung, in
welche der Wirt gedeutet hatte.
Durch eine Art Saloon-Tür gelangte ich in ein gelbes Treppenhaus. Die
Stufen waren aus grauem Kunststoff und das Treppengeländer wirkte
abgenutzt. Immerhin dürfte das Zimmer billig sein. Ich klopfte an die
erstbeste Wohnungstür, weil es keine Klingel gab.
»Hallo, ist da jemand?«, rief ich, als niemand kam.
Eine Frau mit kurzen, feuerrot gefärbten Haaren öffnete die Tür einen
Spaltbreit. Sie trug eine Bluse, auf der vorne ein Schmetterling aus
Strasssteinen prangte, und eine schwarze Hose.
»Ja, bitte?«, fragte sie.
»Ihr Mann hat mich geschickt. Ich suche ein Zimmer für sechs Wochen.
Er hat gesagt, Sie würden das von Ihrer Tochter vermieten.« Ich konnte mir
gerade zwar kaum vorstellen, länger als drei Tage hier zu bleiben, aber
52
abfahren konnte ich dann ja immer noch.
Sie blickte mich misstrauisch an, zog die Tür aber weiter auf. »Das hat
er gesagt?«
Ich nickte und wartete.
Sie überlegte einen Moment, dann zuckte sie mit den Schultern. »Es
kostet achtzig Euro im Monat.«
»Achtzig Euro?« Ich versuchte meine Überraschung darüber zu
verstecken, dass man für so wenig Geld überhaupt irgendwo wohnen
konnte, aber es gelang mir nicht.
»Ja, bei Vorabzahlung.«
Ich nickte.
»Warum willst du denn hier wohnen?«
»Ich mache ein Praktikum beim Interfector.« Ich übernahm die
Bezeichnung des Bäckerjungen und es hatte den gewünschten Effekt. Sie
milderte ihren kritischen Blick und betrachtete mich nicht mehr wie einen
fremden Eindringling.
»Natürlich«, sagte sie. »Beim Interfector. Du willst nicht in die Kolonie.«
Kolonie. Damit meinte sie wohl die Container für die Arbeiter neben
dem Gelände, die ich auf Google Earth gesehen hatte. »Darf ich das
Zimmer mal sehen?«
Sie musterte mich noch mal, dann drehte sie sich ruckartig um und
ging voran. Von hinten sah sie jünger aus. Sie war jugendlich schlank und
hatte einen energischen Gang. Ihr gegerbtes Gesicht mit den dunklen
Augenringen hatte sie viel älter gemacht. Der Flur war schmal und
schmutzig beige, der Boden gefliest, die Zimmertüren aus dünnem Holz.
Nicht sehr hübsch, aber alles sah einigermaßen aufgeräumt aus. Ich folgte
ihr ein weiteres Stockwerk nach oben über schmale Stufen, die mit
braunem, fusseligem Teppich belegt waren. Das Zimmer, in das sie mich
53
führte, war klein und schlauchartig mit Dachschräge, aber nicht braun,
sondern wieder gelb. Es sah aus, als würde ihre Tochter noch darin
wohnen. Das Bett war gemacht und mit einer gehäkelten Decke abgedeckt.
Über dem Bett hing ein Foto von Justin Bieber. Okay, das konnte ich
vielleicht abnehmen. Daneben lag ein kleines Duschbad mit braunen
Kacheln. Irgendwie hatte ich mir die Unterkünfte dieses Sommers anders
vorgestellt, als ich noch unsere große Europareise mit Oma plante. Aber das
hier hatte ich mir selbst ausgesucht.
Abends setzte ich mich in die Kneipe, weil der kleine Supermarkt schon
um sechs Uhr zu war. Die Kneipengäste hatten gewechselt, nur die Frau
mit den labbrigen Armen saß immer noch da. Neben der Bar waren nur
wenige Tische besetzt. Die Leute aßen Linsensuppe, Hühnerbrust mit
Erbsen und Karotten, Schnitzel und Blutwurst. Jedes Gericht hatte die
gleiche gräuliche Nicht-Farbe. Meine Wirtin stand in der Küche und
kochte, beziehungsweise bediente sie die Mikrowelle. Ich setzte mich an
einen der Tische und bemerkte, dass das Tischtuch aus Plastik war und
nur so aussehen sollte wie eine bestickte Decke. Das Hühnchen, das ich
bestellt hatte, sah sogar gebraten fahl aus, aber ich konzentrierte mich auf
meinen Teller, weil ich die Augen der anderen Gaststättenbesucher auf
meinem Rücken spürte. Immerhin hatte ich mir ein Sweatshirt angezogen.
Ich hatte extra zwei Bücher mitgebracht, die ich beim Essen
abwechselnd las, damit niemand auf die Idee kam, mich anzusprechen.
Einmal einen Gedichtband von Matthew Zapruder und dann noch »Eating
Animals« von Jonathan Safran Foer. Letzteres hatte ich bei meiner Mutter
gefunden. Ich las gern Gedichte und besuchte Poetry Slams. Es faszinierte
mich, wie man Dinge sagen konnte, die sich in normalen Sätzen nicht
ausdrücken ließen, wie man Worte fand, wenn man sie in anderer Art und
Weise anordnete.
54
Im Nebenzimmer spielte jemand Billard. Als ich den Jungen aus der
Bäckerei erkannte, ließ ich erschrocken meine Haare nach der VorhangMethode ins Gesicht hängen und beugte mich über meinen Teller. Mein
Pony war aber jetzt zu kurz, um mein Gesicht dahinter zu verstecken, und
ich konnte ja schlecht meine Sonnenbrille aufziehen. Natürlich, in so einem
Dorf konnte man sich nicht einfach aus dem Weg gehen. Was für
tragische Wendungen unerwiderte Liebe nehmen musste, wenn man sich
ständig begegnete. Ich fühlte eine Beklemmung in mir aufsteigen, als
würden die Gaststättenbesucher nicht an ihren Tischen sitzen, sondern als
würden alle dicht um mich herumstehen und mich mustern. Ob meine
Mutter wohl mal in dieser Kneipe gewesen war? Wahrscheinlich nicht, sie
war schließlich nur zum Arbeiten gekommen und hatte nicht in der
Gegend übernachtet. Wieder kam es mir völlig verrückt vor, dass ich an
einem schmuddeligen Tisch in einem Dorf namens Wözen saß statt auf
der Terrasse eines italienischen Luxushotels mit Oma. Ich wischte das Bild
zur Seite.
Als ich hochsah und wieder vorsichtig zum Billardtisch herüberblinzelte,
fiel mein Blick auf den Rücken des zweiten Spielers und blieb sofort an
ihm haften. Irgendetwas war anders an dem Spieler. Er passte nicht
hierhin. Von hinten sah ich nur seine dunklen, glänzenden Haare, die ihm
bis in den Nacken fielen. Seine Jeans waren gerade und schmal, aber
hingen locker. Er trug ein grünes T-Shirt, das über seinen breiten Schultern
spannte, aber um die Taille herum schlackerte. Jetzt spielte er eine Kugel,
warf den Kopf zurück, sagte etwas und lachte. Es wirkte so, als würde er
den Witz für sich selbst machen. Plötzlich wurde mir klar, dass er Englisch
sprach. Er wandte sich an den Bäckerjungen und redete mit abgehackten
Worten, wie man das tut, wenn man glaubt, dass der andere einen nicht
versteht. Er untermalte seine Worte mit Gesten. Der Bäckerjunge hing an
55
seinen Lippen. Er hatte mich noch nicht bemerkt. Ich war ebenfalls wie
hypnotisiert von dem Jungen und konnte meinen Blick nicht abwenden,
auch wenn ich ihn nur von der Seite und von hinten sah. Ich versuchte zu
verstehen, was er sagte, und herauszufinden, ob ich mich getäuscht hatte.
Plötzlich drehte er sich zu mir um und mir stockte der Atem. Er schaute
mich direkt an. Seine Augen leuchteten grün in seinem gebräunten
Gesicht. Er hatte mich ertappt.
Ich riss meinen Blick los, schaute stattdessen auf mein Hühnerbein
und begann es mit Gabel und Messer zu bearbeiten. Ich konnte mich
getäuscht haben, vielleicht schielte er wie der Bäckerjunge und hatte ganz
woanders hingeschaut. Doch als ich vorsichtig wieder hochsah, stand er so
nah vor mir, dass ich zurückzuckte. Er schielte natürlich kein bisschen,
sondern sah mir von oben direkt in die Augen. Seine Mundwinkel
kräuselten sich zu einem Lächeln und eine Augenbraue hatte er
hochgezogen. Seine Haut hatte einen warmen, karamelligen Ton und seine
Haare waren nicht dunkel, sondern schwarz. Er war vielleicht so alt wie ich
oder ein wenig älter.
»Hey«, sagte er. Er lächelte mit leicht geschlossenen Lippen, als fände er
die Situation amüsant.
»Hey«, erwiderte ich und versuchte meine Gesichtszüge unter Kontrolle
zu bringen und möglichst entspannt auszusehen, auch wenn ich mein
Herz deutlich in der Brust schlagen hörte.
»Du interessierst dich für Billard?«, fragte er lächelnd auf Englisch mit
einem amerikanischen Akzent. Er zeigte auf den Bäckerjungen, der am
Billardtisch stand. Der Bäckerjunge winkte schüchtern. Ich hatte schon
wieder seinen Namen vergessen.
»Wir könnten noch einen Mitspieler gebrauchen. Und jemanden, der
übersetzt.« Er zog fragend eine Braue noch oben.
56
»Woher weißt du, dass ich Englisch kann?«
Er zuckte mit den Schultern. »Eingebung«, sagte er und blickte mich
weiter so direkt an, dass ich seinem Blick nicht standhalten konnte und
nach meinem Wasserglas griff. »Man lernt das hier doch in der Schule und
vielleicht hast du besser aufgepasst als mein neuer Freund da drüben«,
fügte er hinzu. »Mädchen sind meistens braver in der Schule, oder nicht?«
Es wurmte mich, dass er mit allem Recht hatte und das genoss.
»Und warum glaubst du, dass ich Billard spielen kann?«, fragte ich
zickiger, als ich vorgehabt hatte.
Er grinste unbeirrt weiter. Seine Lippen waren voll und von einem
dunklen, himbeerfarbenen Rot. Eine Farbe, die Lippenstiftfirmen
wahrscheinlich vergeblich zu kreieren versuchten. Aber natürlich trug er
keinen Lippenstift. Ich wandte schnell den Blick ab. Vielleicht hatte er
südamerikanische Vorfahren oder indianische, seine Haut war bestimmt
auch im Winter gebräunt.
»Das glaube ich nicht. Ich fürchte sogar, dass du überhaupt nicht
spielen kannst. Aber ich könnte es dir beibringen, Leda.« Wieder zog er
fragend seine lange schwarze Augenbraue nach oben. Ich zuckte
zusammen, als er meinen Namen sagte. Er sagte ihn betont, so als würde
es ihm Spaß machen, ihn auszusprechen. Als würde er mit dem Namen
spielen.
»Wie nett von dir.«
»Ja, finde ich auch. Ich bin Silas.«
Ich war zu überrascht, um einen klaren Gedanken zu fassen. Das
Unangenehme war, dass ich das Gefühl hatte, dass er genau wusste, wie
verwirrt ich war, und mich in meiner Verwirrung beobachtete. Ihm schien
nichts zu entgehen. Vielleicht hatte er wirklich indianische Vorfahren. Er
erinnerte mich an einen Jäger. Außerdem gingen mir die bescheuertsten
57
Gedanken durch den Kopf, nämlich dass meine Haare ungewaschen an
meiner Kopfhaut klebten und mein Sweatshirt das älteste war, das ich
besaß. Ich stocherte im Essen herum, ohne auf meinen Teller zu schauen,
nur um etwas mit den Fingern zu tun zu haben.
»Woher kennst du meinen Namen?«
Er schien eine winzige Sekunde überrascht. Dann warf er einen Blick in
Richtung des Bäckerjungen. »Hier spricht sich alles ziemlich schnell herum.
Komm doch gleich rüber«, sagte Silas und machte sich bereit zu gehen.
»Wer konnte ahnen, dass in diesem Kaff kaum jemand Englisch spricht.«
Okay. Ich blickte ihn herablassend an. Das war einfach so unglaublich
amerikanisch, anzunehmen, dass alle Englisch sprachen. »Vielleicht solltest
du dich dazu bequemen, Deutsch zu lernen, statt anzunehmen, dass die
Welt deine Sprache spricht?«
Er zögerte und blickte auf meinen Teller. Dann beugte er sich zu mir
herunter und sagte nah an meinen Haaren: »Ich würde das nicht essen,
wenn ich du wäre. Du hast übrigens zwei englische Bücher auf dem Tisch
liegen. Da kann man annehmen, dass du Englisch sprichst. Zapruder.
›April Snow‹ ist gut.« Und so schnell war er wieder weg von meinen Haaren
und von dieser Nähe, die meinen ganzen Kopf in ein Rauschen versetzt
hatte.
Ende der Leseprobe
Julia K. Stein wuchs in einer Kleinstadt im Ruhrgebiet auf, bis sie mit
achtzehn zum Studieren nach Berkeley in Kalifornien zog. Sie studierte
Literatur und Philosophie und promovierte später in Deutschland. Sie liebt
Poetry Slams und schreibt neben Romanen für Erwachsene und
Jugendliche auch Gedichte. Heute lebt sie in München.
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Drei Fragen an Julia K. Stein
© Jannette Kneisel
Was hat dich zu deinem neuen Roman inspiriert?
Oh, bei diesem Roman sind viele Dinge zusammengekommen. »Leda &
Silas« basiert zum Teil auf einer tragischen Geschichte zweier
kalifornischer Geschwister, die mich nicht mehr losgelassen hat. Silas ist
optisch von einem Freund inspiriert, der indianischen Ursprungs ist und
dessen Namen ich nicht nennen kann, damit er nicht zu eingebildet wird.
;) Es handelt sich dabei nicht um meinen Mann, aber diesen sehe ich
(glücklicherweise) jeden Tag, über ihn muss ich also keinen Roman
schreiben … Zudem fasziniert mich die Nahrungsmittelindustrie mit all
ihren grotesken Auswüchsen, daher ist viel Recherche in den Roman
reingeflossen. Aber vor allem glaube ich an die alles verändernde Kraft der
Liebe. Manchmal denke ich, dass Jugendliche das besser wissen als
Erwachsene, die ihre Gefühle zu oft auf Sparflamme schalten. In der Liebe
geht es um alles und in gewisser Hinsicht kann sie sogar den Tod
überwinden.
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Welche Figur aus deinem neuen Roman ist dir besonders ans Herz
gewachsen und warum?
Neben den beiden Hauptfiguren Leda und Silas, die mir natürlich sehr
nahestehen, ist mir, und es hat mich selbst überrascht, insbesondere
Damian ans Herz gewachsen. Er tut verabscheuungswürdige Dinge und
ist erst mal nicht sonderlich sympathisch. Aber bei der Frage, was ihn
antreibt, musste ich mich mit seiner Geschichte befassen und dabei wurde
er mir überraschenderweise vertraut. Auch wegen ihm wollte ich am Ende
dieser Geschichte unbedingt weiterschreiben, so dass es noch weitergehen
wird, obwohl dieser Band erst als in sich abgeschlossen geplant war.
Auf welches Buch in deinem Bücherregal oder auf deinem EReader könntest du niemals verzichten und warum?
Glücklicherweise wechselt dieses eine unverzichtbare Buch immer wieder!
Als ich fünfzehn war, war es »Die Nebel von Avalon« – ein brillantes Buch,
das mich damals verändert zurückgelassen hat. Vor allem die starken
Frauenfiguren hatten es mir angetan. Später wurde es die »Insel der
blauen Delfine«. Ich denke, das »unverzichtbare Buch« spiegelt wider, was
man selbst empfindet oder gerade sucht. Insofern sind Bücher ein Spiegel
der eigenen Entwicklung. Und ja: »Harry Potter« und »Twilight« haben
irgendwie immer Saison. Momentan sind es aber vor allem die Gedichte
von Mark Strand – sie sind überraschend und machen mich glücklich. Wie
man sieht, bin ich der Frage klammheimlich ausgewichen …
60
Ein Blick hinter die Kulissen
Wenn Lektoren die Buchmesse erobern …
Vom 14. bis zum 18. Oktober 2015 fand in Frankfurt am Main die
alljährliche weltgrößte Bücher- (und E-Book-)Schau statt: die Frankfurter
Buchmesse. Und natürlich war auch das Impress-Lektorat, bestehend aus
Pia Cailleau (Programmleitung) und mir (Nicole Boske), wieder vor Ort.
Aber was genau bedeutet das eigentlich? Wie sieht so ein Messealltag für
eine Lektorin aus? Wir verraten es euch!
Die Spannung steigt …
Nach monatelanger Planung und Organisation sowie zahlreichen
Meetings und Bastelstunden in der Vorbereitungsphase ist es endlich
soweit. Nur noch ein Mal schlafen und dann geht es los, mit dem Zug
Richtung Frankfurt. Zu der kribbeligen Vorfreude, die wir ImpressLektorinnen sicherlich mit allen Anreisenden und Besuchern der Messe
teilen, gesellt sich eine leichte Nervosität: Wie sieht der Stand am Ende
aus? Hat alles beim Aufbau geklappt? Wie wirkt das Plakat auf die
Besucher, das man selbst nur auf dem Computerbildschirm bewundern
konnte? Und natürlich die wichtigste Frage von allen: Wird die Deutsche
Bahn es ausnahmsweise schaffen, ohne Verzögerungen ihr Ziel zu
erreichen? ;-) Fragen über Fragen, die einen quälen und gleichzeitig die
Vorfreude auf ein paar aufregende und erfolgreiche Messetage schüren.
61
Und dann geht es los …
Ankunft am Frankfurter Hauptbahnhof, ein letzter prüfender Blick auf das
Handydisplay, von dem die Uhrzeit leuchtet, und ein glückliches Seufzen:
Die Bahn hat ihr Ziel fast pünktlich erreicht. Da bleibt uns sogar noch
62
genug Zeit, die Koffer ins Hotel zu bringen, bevor wir die Messe erobern.
Im Hotel angekommen, werfen Pia Cailleau und ich einen letzten Blick
auf unsere bevorstehenden Termine, die wir grob thematisch sortiert
haben. Heute geht es los mit dem »Agenturdonnerstag«. Es folgen der
»Autorenfreitag« und der »Veranstaltungssamstag«.
Und dann sind wir auch schon auf der Messe. Zielsicher steuern wir
den Carlsen-Stand an und können einfach nicht anders, als ihn zu
bestaunen. Wie jedes Jahr hat das Messeteam wieder ganze Arbeit
geleistet. Als wir dann auch noch das wunderschöne, riesige ImpressPlakat entdecken, seufzen wir ein zweites Mal an diesem Tag erleichtert
auf.
Fun Fact: Auch die Fachbesucher nehmen oft
einen langen Anreiseweg in Kauf, um zur
Frankfurter Buchmesse zu gelangen. Da nutzen
viele die letzten Minuten, bevor der Zug in den
Bahnhof einfährt, um sich für die Messe fertig
zu machen: Kostüm richten, Schminke
auffrischen oder die Krawatte neu binden …
Solltet Ihr Euch also jemals in einem Zug Richtung
Frankfurt befinden, wenn die Buchmesse ansteht,
solltet Ihr bedenken, dass spätestens eine halbe
Stunde vor Ankunft ausnahmslos jedes WC im
Zug belegt sein wird. ;-)
Jetzt heißt es aber sputen, denn auf der Messe hat man die meisten
Termine in einem halbstündigen Takt. Das sind also 25 bis 27 Minuten, in
denen man sich mit seinem Gegenüber austauschen und alle wichtigen
63
Themen abhandeln kann, bevor man zum nächsten Termin lossprintet.
Nicht selten muss man dafür die Halle wechseln, was auf dem riesigen
Messegelände leichter gesagt als getan ist.
Auf der Suche nach dem Besonderen …
Für den ersten Termin muss das Impress-Lektorat ins »Agency Center«.
Ein Ort, in dem ausschließlich Fachbesucher Zutritt haben und auch das
nur mit Termin. Sobald man die Standnummer und den Geschäftspartner
am Eingang aufsagt, erhält man den Agency-Pass. Diesen gilt es bei jedem
weiteren Besuch vorzuzeigen.
Es ist, als würde man eine andere Welt auf der Messe betreten, wenn
man ins Agency Center kommt. Plötzlich sieht man deutlich mehr
Menschen im Anzug oder Kostüm, häufig eine dunkle Aktentasche unter
dem Arm. Es ist nicht mehr laut und bunt, sondern weiß und kahl. Tische
reihen sich streng durchnummeriert aneinander, an ihnen sitzen die
Agenten.
Fun Fact: In der Regel versuchen alle
Fachbesucher ihre Termine innerhalb der ersten
Messetage unterzubringen. Denn sobald
Wochenende ist und die Messe für alle Besucher
geöffnet wird, muss man für jeden Termin gleich
eine statt einer halben Stunde einplanen.
Glücklicherweise gibt es nämlich so viele
buchbegeisterte Menschen in Deutschland, dass es
in dieser Zeit nahezu unmöglich ist, von einer
Messehalle zur nächsten in unter einer halben
Stunde zu gelangen. =D
64
Es ist allerdings ein Mythos, dass auf der Messe tatsächlich Verträge für
teure Lizenzen abgeschlossen werden. Die Termine ermöglichen uns, neue
Agenturen kennenzulernen und den Kontakt zu altbekannten Agenturen
zu pflegen. Die Agenten stellen uns ihre Autoren und deren Projekte vor
und wir überlegen, welcher Text so interessant ist, dass wir ihn für unser
Programm prüfen werden. Oft wissen die Agenturen schon, wonach der
jeweilige Verlag im Groben sucht. Da wir aber alle nur eine bestimmte
Anzahl an Programmplätzen pro Halbjahr zu vergeben haben, kann man
auf der Messe noch mal die Feinheiten der Suche absprechen. Welche Art
von Texten ist für uns gerade uninteressant? Oder welcher Geschichtentypus ist bei unserer Zielgruppe derzeitig total im Trend?
© Carlsen Verlag
(Das Impress-Cover-Selfie: Links Pia Cailleau und die Autorin Stefanie
Hasse / Rechts Nicole Boske und die Autorin Johanna Danninger)
65
Neue Projekte werden uns allerdings nicht nur von den Literaturagenturen
vorgestellt, sondern auch von den Autoren selbst. Sowohl Pia Cailleau als
auch ich haben uns am Freitag – ebenfalls im halbstündigen Takt – mit
Autorinnen getroffen, die bereits E-Books bei Impress veröffentlicht haben.
Da redet man natürlich über bestehende Projekte, aber vor allem wurden
uns von den Autorinnen auch zahlreiche neue Roman-Ideen vorgestellt. Das
ist jedes Mal wieder ein Fest! :-)
Aber wer glaubt, neben der ganzen Arbeit gibt es auf der Messe kein
Vergnügen … weit gefehlt. Auch wir haben es uns natürlich nicht nehmen
lassen, ein Impress-Cover-Selfie mit den Autorinnen zu machen! Und nie
im Leben hätten wir uns den heißen Kakao mit Marshmallows und Sahne
beim Impress-Blogger-Brunch am Samstag entgehen lassen. ;-)
Und das ist längst nicht alles …
Zusätzlich zu den vielen interessanten Gesprächen und der Suche nach dem
nächsten, ganz besonderen Text ist der Lektor natürlich auch bei den
unterschiedlichsten Veranstaltungen auf der Messe dabei, fiebert mit, wenn
Preise verliehen werden, und betreut die Autoren bei ihren Lesungen,
Signierstunden oder Interviews und, und, und … Da ist man natürlich auch
froh, wenn die Messe wieder vorbei ist. Denn vor allem bedeutet die Messe
VIEL: viel Hektik, viel reden, viele neue Informationen! Aber genau das ist
es auch, was die Messe jedes Jahr wieder aufs Neue spannend macht und
warum man ihr voller Vorfreude entgegenblickt. Denn wer weiß schon, was
die nächste Messe alles für einen bereithält?
TEXT: Nicole Boske
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Jennifer Wolf: »Nachtblüte. Die Erbin
der Jahreszeiten«
Band 3 der Reihe »Geschichten der Jahreszeiten«
Erscheinungsdatum: 04. Februar 2016
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Inhalt
Ilea Sola Sommerkind ist eine Jahreszeitentochter. Sie kann Licht brechen
und eine warme Brise herbeirufen. Wenn sie ihre Sommerkräfte einsetzt,
verwandelt sich ihr sonst brünettes Haar in ein strahlendes Blond. Sie ist
nicht das einzige Jahreszeitenkind, seit die Göttin Gaia ihren Söhnen
erlaubt hat, sich unter die Menschen zu mischen, und dennoch ist sie
etwas Besonderes, denn nur sie stammt von Sommer ab. Und so ist ihr
Heim auch dasjenige, das sich der Sommergott diesmal für seinen
Aufenthalt ausgesucht hat. Doch als er dabei schwer verunglückt, muss sie
einen weiteren Gott beherbergen: Aviv, den Frühling. Den einzigen
Jahreszeitengott, der seit fünfhundert Jahren den Frauen entsagt und die
Erde gemieden hat …
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Leseprobe
Ich sehe von meiner Näharbeit auf und schaue in die teichgrünen Augen
meines besten Freundes. Yannis sucht meinen Blick, nur um dann wieder
versonnen die Handarbeit in meinem Schoß zu betrachten, während er
zufrieden an einem Grashalm kaut. Der Bach plätschert leise neben uns
und die Sonne verschwindet hinter den Häusern und Bäumen Hemeras.
»Lass mich raten«, sagt Yannis, »du machst wieder etwas ganz anderes
als bestellt.«
Ich lächele die Nadel an und blicke durch die Wimpern zu ihm hoch.
»Was denkst du?«, gebe ich zurück und Yannis lacht.
»Eines Tages bringst du deinen Vater mit deinem Sturkopf noch ins
Grab.« Er stockt. »Verzeih, Ilea.«
»Schon in Ordnung, Yannis. Mutter hatte einen Unfall. Niemand kann
etwas dafür.« Ich seufze und widme mich wieder meiner Näharbeit. »Aber
ich habe sie schon ein wenig verrückt gemacht, oder?«
»Ein wenig – vielleicht«, bestätigt er und seine Stimme trieft nur so vor
Sarkasmus. Ich sehe erneut zu ihm auf. Er hat die Augen geschlossen und
hält sein Gesicht in die letzten Sonnenstrahlen. Yannis ist ein attraktiver
Mann mit seinem pechschwarzen Haar und den Gesichtszügen einer
klassischen griechischen Statue. Wenn er sich nur öfter rasieren würde …
Ich frage mich ernsthaft, warum er sich noch keine Frau gesucht hat.
»Wir sollten so langsam aufbrechen, sonst verpassen wir das
Abendessen«, reißt er mich aus meinen Gedanken und ich stimme ihm
nickend zu. Wenn ich ihn nicht hätte, würde ich vermutlich die Zeit
vergessen. Zum Glück ist auf Yannis' Hunger immer Verlass.
»Wie kann man nur so schlank und gleichzeitig so verfressen sein?«,
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frage ich mich laut, woraufhin Yannis grinst.
»Guter Stoffwechsel.« Er zwinkert mir zu.
»Ich komme später wieder und arbeite die Nacht durch«, sage ich
seufzend und lege das Kleid, an dem ich gerade nähe, vorsichtig in meinen
großen Weidenkorb. Ich habe ihn immer dabei, wenn ich am Bach arbeite,
weil er so praktisch ist. Darin hat alles Platz, was ich so brauche.
»Ich wünschte, ich könnte mir auch jederzeit draußen Licht machen«,
grübelt Yannis. Er steht auf und reicht mir eine Hand.
Ich ergreife sie und lasse mir von ihm auf die Füße helfen, kann mir
dabei aber ein freches Grinsen nicht verkneifen. »Tja, da hättest du dir ein
paar Götter-Gene besorgen sollen.« Ich zwinkere ihm zu und hake mich bei
ihm ein.
»Das Glück hat nicht jeder, Ilea Sola Sommerkind.«
Als er meinen Namen sagt, rufe ich einen kleinen warmen Wind, der
ihm kräftig ins Gesicht pustet. Meine von Natur aus brünetten Haare
leuchten kurz hellblond auf und die Locken wehen mir ins Gesicht. Ich
stecke sie wieder hinter die Ohren und hoffe, dass sie wenigstens ein paar
Sekunden lang dort bleiben.
»Daran werde ich mich nie gewöhnen«, sagt Yannis.
Ich lehne mich beim Gehen vorsichtig an seine Schulter. Als Kind habe
ich es gehasst, den Namen Sommerkind zu tragen. Ich habe nie verstanden,
warum wir Kinder der Jahreszeiten einen anderen Namen haben müssen
als unsere Familien. Ich wollte eine Nachtblüte sein – so wie meine Mutter
und mein Vater. Doch Großmutter hat sich in ihrer Jugend mit Sol
eingelassen und eine Tochter bekommen. Meine Mutter. Sie besaß jedoch
keine Fähigkeiten. Die hat sie freundlicherweise an mich weitergegeben
und somit bin ich das einzige Sommerkind in Hemera. Es gibt noch einige
Herbstkinder, die von Jesien und Dahlia abstammen, doch ihr Erbe liegt
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schon viele Generationen zurück. Sol für seinen Teil hat immer gut
aufgepasst, keine Nachfahren zu zeugen. Meine Mutter ist der einzige
Unfall. Meinen göttlichen Großvater habe ich jedoch bisher noch nie
gesehen. Ihm ist es zu verdanken, dass ich mich als Kind im Labor auf den
Kopf stellen lassen musste. Man hat mir Blut abgenommen und an mir
geforscht. Dafür habe ich Sol verflucht. Man wollte herausfinden, was ich
alles kann und inwiefern ich mit den Herbstkindern verwandt bin. Das
Ergebnis: keinerlei Verwandtschaft. Offensichtlich sind die vier
Jahreszeiten nur im weitesten Sinne Brüder. Gaia, die Mutter aller Dinge,
hat vier eigenständige Wesen erschaffen. Mit unterschiedlichen Kräften.
»Bist du heute mit deiner Arbeit fertig geworden?«, frage ich Yannis.
»Ja, es war nicht viel zu tun. Ich habe das Dach der alten Kirschbaum
gemacht. Dafür hat sie mir Apfelkuchen gebacken.«
Ich halte an und boxe seinen Oberarm. »Und du hast mir kein Stück
davon mitgebracht?« Ivetta Kirschbaum macht den besten Apfelkuchen
der Welt, ich bin immer froh, wenn es Herbst wird.
»Meine Geschwister sind wie Holzwürmer darüber hergefallen und
haben nicht mal Sägespäne hinterlassen.« Yannis gluckst.
»Magst du später nicht noch mal zum Bach kommen?«, frage ich.
»Soll ich für dich spielen?«
Ein Lächeln breitet sich über mein ganzes Gesicht aus. »Ja, bitte.«
Yannis spielt Geige wie kein Zweiter und es ist ein Hochgenuss, ihm
dabei zuhören zu dürfen.
»Wenn mich deine braunen Augen so anfunkeln, kann ich nicht Nein
sagen«, jammert Yannis und sieht kurz weg. »Na schön.«
Ich zupfe ihn freudig am Ärmel und stelle mich auf die Zehenspitzen,
um ihm einen Kuss auf die Wange zu geben.
»Bis später«, trällere ich fröhlich.
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»Bis später, Sommerkind.«
»Vergiss mich nicht, Tagwind«, schicke ich noch hinterher.
»Niemals.« Er grinst mich an und ich fühle mich wieder, als wäre ich
noch acht Jahre alt – wie damals, als wir beste Freunde wurden. Vielleicht
strecke ich ihm auch deswegen noch schnell im Weggehen die Zunge raus.
Seit wir uns kennen, verbringen wir jeden Tag zusammen. Wir lachen,
zanken und spielen, als wären wir keinen Tag älter geworden. Ich liebe es,
dass ich bei ihm wieder Kind sein darf. Besonders seit Mutter nicht mehr
bei uns ist und die Erwartungen an mich gewachsen sind. Doch ich kann
nicht aus meiner Haut. Die achtjährige Ilea lebt noch in mir und verlangt
gelegentlich ihr Recht – auch wenn ich inzwischen zehn Jahre älter bin.
Yannis verschwindet in die Veilchengasse und ich schlendere weiter
über das Kopfsteinpflaster zur Schneiderei meines Vaters. Unsere kleine
Wohnung ist im selben Haus. Direkt über dem Laden. Als meine Mutter
vor zwei Jahren starb, ist meine Großmutter zu uns gezogen, um meinem
Vater zu helfen. Doch sie ist mittlerweile etwas gebrechlich geworden und
gibt immer mehr Aufgaben an mich ab. Das hält mich aber nicht davon ab,
vor dem Haus noch schnell ein Spiel aus dem Kopfsteinpflaster zu machen
und darüber zu hüpfen. Vor der Tür halte ich an und richte meine
Kleidung. Meinen Lockenkopf bändige ich mit einem Haarband, das ich
um den Arm getragen habe. Ich betrete die Schneiderei, wo mich bereits
eine glückliche Braut erwartet. Vater steht hinter ihr und betrachtet mich
mit einem tadelnden Blick. Seine Augen strahlen jedoch auch Stolz aus und
er wirkt gut gelaunt, weswegen ich nicht übermäßig getroffen bin.
»Es ist so schön geworden, Ilea«, schwärmt Jelanda und dreht sich in
dem weißen Kleid.
»Ja, und das Beste ist, mit dem breiten gestickten Gürtel bleibt das
Kleid deiner Mutter unter dem weiten Rock unversehrt.« Ich gehe zu ihr
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und ziehe das Kleid ein wenig zurecht, bis es richtig sitzt. Vor einigen
Jahren waren noch kurze, enge Brautkleider modern, doch jetzt tragen die
Bräute wieder ausladende Röcke. Jelanda wollte eigentlich, dass ich das
Oberteil des Kleides ihrer Mutter abtrenne und es mit einem weiten Rock
kombiniere, doch ich fand diese andere Lösung. Die Brautmutter stellt sich
zu meinem Vater und sieht glücklich aus. Ihr Kleid liegt in meinem Korb
am Bach. Auch daran habe ich ein paar persönliche Änderungen
vorgenommen.
»Nach der Trauungszeremonie kannst du den Rock abnehmen und im
Kleid deiner Mutter feiern«, sage ich und Jelanda betrachtet sich mit
großen, glücklichen Augen im Spiegel.
»Es sieht wundervoll aus, Ilea. Man sieht gar nicht, dass der Rock nur
drübergezogen ist.«
»Meine Nachtblüte macht zwar nie, was man ihr sagt, aber was sie
anfasst, gelingt ihr«, meldet sich Vater zu Wort. Ich liebe es, wenn er mich
seine Nachtblüte nennt. Auch wenn ich mich mittlerweile mit meinem
tatsächlichen Nachnamen abgefunden habe.
»Es ist wirklich wundervoll, Herr Nachtblüte.« Die Brautmutter sieht zu
mir. »Erstklassige Arbeit, Kind. Dein Vater muss sehr stolz auf dich sein.«
Er räuspert sich amüsiert.
»Ihr Kleid habe ich morgen fertig«, verspreche ich und verschweige
vorerst, dass ich auch daran meinen eigenen Kopf durchgesetzt habe. »Ich
habe so lange für den Gürtel gebraucht.«
»Keine Sorge, wir haben noch genügend Zeit«, sagt Jelandas Mutter. »Es
hieß doch, dass die Kleider erst am Mittwoch fertig sind, und wir waren
ganz verblüfft, dass wir das Brautkleid schon heute abholen konnten.«
Wir sehen alle zu Jelanda, die offensichtlich in Gedanken schon vor der
Hüterin steht und Ja sagt.
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»Ich gehe Großmutter mit dem Abendessen helfen«, entschuldige ich
mich. Vater nickt und unsere Kundinnen bekommen es nicht einmal mit,
weil Braut und Brautmutter in ihrem Hochzeitstraum schwelgen. Mit
einem zufriedenen Lächeln im Gesicht steige ich die Treppen hinauf und
mir weht der Duft von Großmutters Kochkünsten in die Nase.
Augenblicklich läuft mir das Wasser im Mund zusammen.
»Hey, Nanny«, begrüße ich sie.
»Ilea, Kind, da bist du ja. Kannst du den Tisch decken?«
Ich gebe ihr einen Kuss auf die raue faltige Wange und schnappe mir
die Teller, die sie bereits aus dem Schrank geholt hat.
»Was gibt es Neues bei dir?«, will sie wissen.
»Der Braut gefällt das Kleid. Und der Gürtel auch.«
Meine Großmutter schnauft leise amüsiert. »Was sagt dein Vater
dazu?«
»Ich glaube, er reißt mir nachher den Kopf ab, Nanny«, scherze ich und
hole Besteck und Gläser.
»Das werde ich zu verhindern wissen! Der ist nämlich viel zu hübsch.«
***
»Ich hoffe, du hast dich an die Vorgaben für das Kleid der Mutter
gehalten«, hakt Vater beim Abendessen nach. Nanny und ich tauschen
einen Blick. Wir sitzen am großen Esstisch, der den Bereich unserer Küche
vom Wohnzimmer trennt. Die mittlere Etage unseres Hauses ist ein
großer Raum, der beides beherbergt.
»Sie wird es lieben, genau wie Jelanda ihres«, verspreche ich.
»Ilea«, seufzt Vater. Immer wenn er das tut, sieht er älter aus, als er
eigentlich ist.
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»Hey, es wird ihr viel besser stehen als das, was sie wollte!«
Vater will gerade Luft holen, als sich hinter uns der Fernseher
einschaltet. Wir drehen uns um, denn das tut er nur, wenn es wichtige
Neuigkeiten aus dem Orden gibt.
»Liebe Mitmenschen«, meldet sich die oberste Hüterin Wanja zu Wort.
Ihr schwarzer Zopf fällt ihr über die Schulter und sie trägt die offizielle
Robe des Ordens. »Ich freue mich von ganzem Herzen, euch mitteilen zu
können, dass wir das erste Mal seit fast fünfzig Jahren wieder göttlichen
Besuch in Hemera haben. Soeben ist der zweitälteste Sohn unserer Göttin
Gaia angekommen. Sol wird uns für einige Zeit hier Gesellschaft leisten.
Er …« Sie spricht noch weiter, doch meine Aufmerksamkeit gilt Nanny. Ich
glaube, dass sie die Liebelei mit dem Sommer nie ganz verarbeitet hat.
»Oh, … das …«, stammelt Vater und sieht mich an. »Er wird dich sicher
sehen wollen, Nachtblüte.«
»Was?«, entfährt es mir. »Wieso?«
»Du bist seine Enkelin«, sagt Großmutter ruhig. »Aber ich weiß nicht, ob
ihn das wirklich interessiert. Er liebt nämlich nur sich selbst. Und das mit
solcher Inbrunst, dass für niemand anderen Platz in seinem Herzen
bleibt.«
»Meinst du nicht, dass er sich geändert hat, Nandra?« Vater überlegt.
»Ich meine, euer … Zusammentreffen … das ist doch Schnee von gestern.«
»Glaub mir, Paulek, mit Schnee hat der Kerl nichts am Hut. Der schmilzt
sofort in seinem strahlenden Ego.«
Nanny bringt mich zum Lachen, ihr Gesichtsausdruck ist einfach
köstlich. Vater sieht mich jedoch ernst an und ich kämpfe mit meinen
Mundwinkeln.
»… bitten wir Ilea Sola Sommerkind, morgen Mittag in den Orden zu
kommen. Sol wünscht sie zu sehen.« Wanjas Worte aus dem Fernseher
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reißen uns aus der Unterhaltung.
»Siehst du«, triumphiert Vater. Offensichtlich scheint es ihn zu freuen,
dass Sol mich sehen will. Ich hingegen weiß noch nicht, was ich davon
halten soll. Mein Großvater, der Halbgott … Und er wird nicht einmal viel
älter aussehen als ich.
»Ich gehe mit.« Nanny wirkt entschlossen.
»Sie sprach nur von Ilea.«
»Das ist mir egal, dem Kerl wasche ich den Kopf. Mit Gallseife und
Bimsstein. Oder mit einer Drahtbürste. Ich nehme die vom Klo.«
»Nanny!«, rufe ich schockiert aus, während Vater hustet.
»Was? Der hat mich deine Mutter ganz alleine großziehen lassen und
sich einen Fiedlerfurz darum geschert, was aus uns wurde. Er hat nicht
mal mitbekommen, dass seine Tochter gestorben ist.«
»Das werden sie ihm wahrscheinlich eben erst gesagt haben.« Vaters
Gesicht verdüstert sich. »Wenn sie nicht mit ihm über unsere Familie
gesprochen hätten, wüsste er wahrscheinlich auch nichts von Ilea.«
»Wie ist Sol so?«, frage ich meine Großmutter. Vater hatte mir immer
verboten, sie auf ihn anzusprechen, aber nun wittere ich meine Chance, es
doch zu tun. Nannys Gesicht nimmt einen abwesenden Zug an.
»Er ist … imposant und … einschüchternd.«
Ich schlucke, doch sie spricht weiter.
»Aber er hat ein heiteres Gemüt. Er lacht sehr gerne und man kann viel
Spaß mit ihm haben. Zumindest wenn man kurz vergessen kann, dass er
der Sohn unserer Göttin ist. Seine Nähe macht süchtig … Ich habe mich nie
so wertvoll und beschützt gefühlt wie an seiner Seite.« Nanny schüttelt den
Kopf und sieht mich ernst an. »Er ist ein guter Schauspieler.«
»Sol will mich nur kennenlernen«, beschwichtige ich sie. »Ich bin seine
Enkelin und komme nicht als Beute in Frage.«
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»Ilea«, zischt Vater.
»Was denn?« Nanny sieht ihn an. »Das Kind hat Recht, deshalb ist er
hier: zum Beutezug.«
»Ihr solltet über einen Sohn der Göttin nicht so reden.« Vater rügt mich
erneut mit einem Blick. Verlegen nippe ich an meinem Glas Wasser und
unterdrücke verschämt den Wunsch, ein paar Blubberblasen
hineinzupusten.
»Hemera ist für Sol nichts weiter als ein großes Freudenhaus.«
Fast hätte ich mein Wasser über den Tisch gespuckt.
»Nandra!« Vater sieht mich hilfesuchend an, doch ich bin zu sehr damit
beschäftigt, das Wasser in meinem Mund herunterzuschlucken, ohne
daran vor Lachen zu ersticken. »Ich weiß schon, von wem Ilea ihren
Kindskopf hat«, seufzt er schließlich.
***
Ich lache noch, als ich am Bach ankomme, wo Yannis bereits auf mich
wartet. Mit der Geige in der Hand rutscht er nervös auf dem großen Stein
herum, auf dem er immer zum Spielen Platz nimmt.
»Ilea!« Er steht auf und sieht mich gespannt an. »Wie geht es dir? Bist
du aufgeregt?«
»Warum?«, gluckse ich amüsiert. »Weil ich meinen göttlichen Opa
treffen werde?«
»Du wirkst erstaunlich gelassen.« Yannis sieht mich ungläubig an, weil
er weiß, dass das nur rein äußerlich ist. Gemeinsam lassen wir uns am
Bach nieder und er beobachtet staunend, wie ich das Licht des Mondes so
breche, dass ich genug sehen kann. Das Kleid muss fertig werden, Sol hin
oder her. Yannis nimmt kurz meinen durch die Magie hellblond gefärbten
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Zopf in die Hand, dann setzt er die Geige an. Er hat verstanden. Ich will
nicht darüber reden. Stattdessen spielt er mein Lieblingslied. Ich stimme
mit ein und vergesse Zeile für Zeile die Aufregung in meinem Bauch.
***
Es ist schon Mittag, als ich wach werde. Meine Familie kennt das von mir.
In der Nacht kann ich am besten arbeiten, Schlaf brauche ich nur wenig.
Vier Stunden reichen vollkommen aus. Das Kleid der Brautmutter habe ich
in der Schneiderei fein säuberlich auf eine Puppe gezogen, als die Sonne
bereits flammend am Horizont aufging. Vermutlich wurde es längst
abgeholt.
Ich schlage die Bettdecke auf und stelle meine nackten Füße auf die
quietschenden Holzdielen des Schlafzimmers. Es ist zu verführerisch, ich
muss einfach mein Gewicht ein paarmal verlagern, um aus dem
Quietschen eine Melodie zu machen. Lachend schüttele ich den Kopf über
mich selbst und gehe zum Kleiderschrank. Aus dem Augenwinkel betrachte
ich mich in dem großen Standspiegel meiner Großmutter Inres. Sie hat ihn
mir vermacht, als ich sechzehn war. Das ist zwei Jahre her. Es war in dem
Jahr, als meine Mutter starb. Sie meinte damals, dass ich nun eine Frau
sei, und als Frau benötigt man einen Spiegel. Mein langes Haar habe ich
über Nacht geflochten, damit es nicht verknotet. Der Zopf reicht bis zum
Ende meiner Schulterblätter. Ich löse ihn und binde mir die Haare dann zu
einem simplen Pferdeschwanz. So trage ich sie am liebsten. Na ja,
eigentlich mag ich sie offen und wild, aber das würde Nanny nur aufregen.
Ich ziehe das vom Schlaf zerknitterte Nachtkleid aus und hole mir eine
Bluse und Reiterhosen aus dem Schrank. Den Weg zum Orden kenne ich
in- und auswendig. Als Nachfahrin des Sommers musste ich ihn oft genug
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gehen, um den Hüterinnen meine Kräfte und deren Fortschritte zu
präsentieren. Daher weiß ich, dass die Zeit drängt.
Nachdem ich mich gewaschen habe, ziehe ich mich an und gehe in die
Küche, wo mir Nanny bereits ein Frühstück auf den Tisch gestellt hat. Mit
Sicherheit ist sie unten in der Schneiderei. Ich beiße genüsslich in das
selbstgebackene Brot und streiche mir etwas von der Butter darauf, die
immer in einem kleinen Holzkasten neben dem Brotkorb steht. Sie ist
salzig und ein Genuss. Ein Blick auf die Uhr verrät mir, dass ich mich jetzt
aber wirklich auf den Weg machen muss. Ich nehme meine Reiterstiefel
aus dem Schuhschrank im Treppenhaus und schlüpfe hinein.
»So willst du doch wohl nicht gehen?«, erklingt Nannys Stimme aus der
Schneiderei. Sie trägt eines ihrer schönsten Kleider und betrachtet mich
mit aufgerissenen Augen.
»Wieso denn nicht?« Ich sehe an mir herunter.
»Zum einen triffst du heute einen Gott und zum anderen … Kind, du
kannst doch nicht in Reitersachen gehen.«
»Ich trage eine Bluse«, verteidige ich mich. »Ich wusste nicht, dass ich
mich für Sol schick machen soll. Er ist doch Familie, oder etwa nicht?«
Vater kommt aus der kleinen Kammer, in der wir die Stoffe im Dunkeln
lagern, damit die Sonne sie nicht ausbleichen kann.
»Nachtblüte, du willst doch hoffentlich nicht in Reiterhose und Stiefeln
zum Halbgott gehen, oder?«
Ich rolle mit den Augen. »Es bleibt keine Zeit mehr zum Umziehen.«
»Und ob dafür Zeit ist«, schimpft Nanny. »Ab nach oben, ich mache dir
die Haare.«
»Dann kommen wir niemals pünktlich!« Ich sehe zur Schneiderpuppe.
Das Kleid der Brautmutter ist weg.
»Ja, ja, es hat ihr gefallen«, knurrt mein Vater, der meinen Blick bemerkt
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hat. »Du hattest Recht, dein Schnitt stand ihr viel besser.«
Ich klatsche in die Hände und kann ein hämisches Grinsen nicht
unterdrücken. Meine Großmutter gibt mir einen Klaps auf den Po.
»Ab! Nach oben! Und raus aus den Bauernlumpen!«
Ich gehorche, stampfe aber extralaut die Treppe hoch. Bauernlumpen!
Also wirklich … Die Reiterhose ist zufällig sehr schick, ich habe sie selbst
entworfen.
»Sol bekommt ja einen völlig falschen Eindruck von seiner Enkelin«,
grummelt Nanny hinter mir.
»Ich dachte, du magst ihn nicht«, kontere ich oben angekommen. Ich
setze mich auf eine Stufe und zerre mir die Stiefel vom Bein. »Wieso also
der Aufwand? Man könnte glatt glauben, du legst Wert auf seine
Meinung.«
Nannys Antwort verstehe ich nicht. Sie geht in Gemurmel unter, als sie
die Wohnung betritt. Ich folge ihr grinsend, wohlwissend, dass sie
schrecklich aufgeregt ist. Wie muss sie sich fühlen? Sie hat ihn sehr geliebt
und er hat sie schwanger im Stich gelassen. Sich Jahrzehnte nicht
gemeldet. Ich habe keine Ahnung, wie ich ihm gegenübertreten soll. Was
sage ich nur zu ihm? Hallo Großvater, alles klar im Tal des Sommers? Wohl
kaum. Ich zerbreche mir den Kopf, während Nanny mir die Haare
hochsteckt. Mittlerweile trage ich eine enge Stoffhose und einen breiten
Taillengürtel aus Leder, darüber eine Hüftkette. Die sind gerade der letzte
Schrei. Lediglich die Bluse durfte ich behalten. Großmutter drückt mir noch
ihre goldenen Ohrringe in die Hand.
»Jetzt fahren wir aber wirklich auf«, sage ich erstaunt und stecke sie mir
an. Sie fallen mir fast bis auf die Schulter und dank der halben
Hochsteckfrisur sieht man sie sogar. Beim Gedanken daran, dass mir der
Wind beim Reiten die Haare wieder zerzausen wird, muss ich
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unwillkürlich seufzen.
»Dann sattele ich mal die Pferde«, sage ich.
»Nichts da, wir gehen zu Fuß.«
Ich sehe Nanny fragend an.
»Er kann warten. Konnte ich ja auch – fast fünfzig Jahre lang.« Sie
lächelt mir vielsagend zu. »Und wenn einer Zeit hat, dann ja wohl er. Er ist
unsterblich.«
Ich verstehe. Und es gibt nichts, was ich darauf erwidern könnte. Sie hat
absolut Recht.
»Komm, Kind. Wir haben Zeit.«
Lächelnd nehme ich ihre Hand und gemeinsam ignorieren wir Vater,
der uns zur Eile drängt. Die Absätze meiner Schuhe klackern ein wenig auf
dem Kopfsteinpflaster. Immer wieder begegnen wir Passanten, die den
Kopf vor mir verneigen und manche bekunden ihre Freude darüber, dass
mein Großvater auf der Erde weilt. Viele Männer und Frauen sind damit
beschäftigt, Häuser und Straßen zu reinigen. Hemera will sich dem Gott
von seiner schönsten Seite präsentieren.
Wir verlassen die engen Gassen und den Trubel und kommen auf einen
Waldweg, der zum Orden führt. Der Duft von Grillfleisch und Gewürzen,
der so typisch für Hemera ist, verfliegt. Stattdessen füllt frische Waldluft
meine Lungen. Ich atme tief durch. Ab und zu rattern Pferdekarren an uns
vorbei. Wir grüßen die Bauern, die ihre Waren in die Stadt bringen oder
Besorgungen erledigt haben. In der Landwirtschaft gibt es einige
Herbstkinder. Ob Sol auch sie kennenlernen möchte? Immerhin sind sie
Jesiens Nachfahren. Wobei … Sie sind nicht mit ihm verwandt. Zumindest
nicht körperlich. Die Tests im Labor haben das ohne Zweifel ergeben. Wie
sonst sollten die Jahreszeiten auch alle so unterschiedlich aussehen.
Nanny beginnt leise das Jahreszeitenlied zu singen und irgendwann
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falle ich mit ein.
»Bist du sehr aufgeregt?«, frage ich sie schließlich.
»Meine Hände zittern.« Sie zeigt mir ihre vom Leben gezeichneten
Finger. Schnell nehme ich sie in meine Hände und wärme sie ein wenig.
»Wie war das damals? Wo hast du ihn getroffen?«
Nanny seufzt und ihr Blick schweift in die Ferne, wo man schon den
Orden erkennen kann.
»Es war auf einem Fest in Hemera. Musik spielte und Laternen
tauchten alles in ein schummriges Licht.« Nanny bleibt stehen. »Er war so
schön, Ilea. Strahlend wie die Sonne am Himmel. Er zeigte zuerst keinerlei
Interesse. Die hübschesten Mädchen pressten sich an seine Brust, doch er
wirkte irgendwie abwesend.« Sie lächelt verträumt. »Ich gewann ihn für
mich, weil ich mit ihm Witze machte.«
Da muss ich lachen. »Das passt zu dir, Nanny.« Sanft ziehe ich sie
weiter.
»Lass dich von ihm nicht blenden, Kind«, warnt sie mich. »Denk dran,
was er mir und deiner Mutter angetan hat.«
»Ach, du weißt doch«, sage ich und beginne zu singen, während wir uns
den Mauern des Ordens nähern. »Sind die Nächte manchmal finster und die
Wege viel zu steil, wie ein Vogel finde ich meinen Weg, zielsicher wie ein Pfeil. Ich
lebe mein eigenes Leben, in dem mein Traum stets siegt. Bin so stark, wie die
Wolken hoch sind, und so stolz, wie der Adler fliegt.«
»Du hast das Gemüt deiner Mutter«, sagt Nanny und betrachtet mich
mit gütigen Augen. Ich beiße mir auf die Unterlippe und verschränke die
Hände hinter dem Rücken. Schlendernd gehe ich neben ihr weiter und
genieße den Herbstwind in meinem Gesicht. Ob Espen uns beobachtet?
Immerhin ist sein Onkel hier. Durch die erhabenen Baumkronen über uns
sehe ich zum Himmel und bemerke erst gar nicht, dass Nanny stehen
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geblieben ist.
»Gütige Mutter«, murmelt sie und ich drehe mich im Gehen zu ihr um
und … pralle gegen etwas. Jemanden.
»Hallo Ilea«, begrüßt mich eine warme, tiefe Stimme mit einem
verborgenen Lächeln darin. Ich blicke auf und sehe … das Meer. So wie ich
es von Bildern und Filmen kenne. Gefangen in einem Paar Augen. Ich
weiche erschrocken zurück.
»Ich wusste, dass du mitkommen würdest, Nanny.« Sol lächelt und sein
blondes Haar schimmert im Sonnenlicht wie gesponnenes Gold. Das Licht
blendet ihn und er blinzelt.
»Sol«, begrüßt ihn meine Großmutter. Dass er sie mit ihrem
Spitznamen angesprochen hat, irritiert mich, doch ich kann nicht lange
darüber nachdenken, weil er mir eine Hand unter das Kinn legt. Er hebt
mein Gesicht an und betrachtet es eingehend. Auch ich wage noch einen
Blick. Noch nie habe ich so ebenmäßige Gesichtszüge und so reine Haut
gesehen.
»Ich freue mich dich kennenzulernen, Ilea.«
»D-die Freude ist ganz meinerseits«, antworte ich und erröte.
»Sie kommt nach ihrem Vater, nehme ich an?« Sols Blick wandert zu
Nanny.
»Blitzmerker«, grummelt sie zurück. Ich zucke zusammen, weil sie so
mit ihm spricht, doch mein göttlicher Großvater lacht.
»Hat sie dein Temperament?«
»Sie steht vor dir, Sol! Es ist unhöflich, wenn du über sie sprichst, als
wäre sie gar nicht da.«
Meine Augen werden groß. Nanny!
»Ich hätte nicht gedacht, dass diese Augen noch größer werden
können.« Sol scheint amüsiert, doch dann tritt etwas anderes in sein
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Gesicht. Stolz? »Du bist ein wunderschönes Mädchen.«
»D-danke«, bringe ich nervös hervor.
»Zum Glück ist sie deine Enkelin und du musst die Finger von ihr
lassen.« Großmutter ist zu uns herübergekommen und schlägt Sols Hand
von meinem Kinn weg.
»Oh, ich bete zu meiner Mutter, dass du nur annähernd so
unterhaltsam bist wie deine Großmutter, Ilea. Auch wenn du fast nur halb
so groß bist.«
»Hey!«, protestiere ich. »Ich bin zwar klein, aber auch nicht so winzig!«
Sols Augen verengen sich mit einem amüsierten Schmunzeln zu
Schlitzen. Er duftet gut, fällt mir auf. Was ist das? Wenn ich ihn so
betrachte, kann ich Nanny gut verstehen.
»Würdet ihr mich mit nach Hemera nehmen? Ich möchte sehen, wie ihr
lebt«, reißt er mich aus meinen Gedanken. Ich nicke. Wie könnte ich einem
Sohn der Göttin diesen Wunsch auch abschlagen?
»Das könnte dir so passen, was?« Nanny klingt jetzt richtig wütend.
»Wo warst du die ganze Zeit, während ich deine Brut großgezogen habe?«
»Ich habe von unserer Tochter gehört«, sagt der Sommer. »Es tut mir
unendlich leid.«
»Du hast sie nie kennengelernt«, faucht Nanny. Ich hake mich bei ihr
ein, damit sie sich an mir abstützen kann.
»Ich wusste nichts von ihr, Nanny.«
»Sie hat immer nach ihrem Vater gefragt! Ständig habe ich sie auf den
nächsten Frühling, Herbst oder Winter vertröstet.«
Ich traue mich gar nicht den Halbgott anzusehen, während sich Nanny
den Frust von der Seele redet.
»Hätte ich von ihr gewusst … Aber du hast Recht und ich möchte es
wiedergutmachen«, sagt Sol und es klingt aufrichtig.
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»Zu spät, deine Tochter ist tot und deine Mutter möge ihrer Seele
gnädig sein!«
»Das ist sie. Glaube mir, da wo sie jetzt ist, geht es ihr gut.« Sol klingt
sicher. »Es wundert mich, dass ihr nicht in den Orden musstet.«
»Man hat mir die Wahl gelassen.«
Erstaunt sehe ich Nanny an. Das wusste ich gar nicht.
»Aber ein Leben im Orden wäre nichts für mich gewesen.«
Sol grinst. »Deinen Sturkopf habe ich noch gut im Gedächtnis.«
Ich betrachte diesen jungen Mann. Er sieht wirklich aus, als wäre er in
meinem Alter. Vielleicht ein wenig älter. In dem weißen Shirt und der Hose
aus Denim sieht er so normal aus. Zumindest bis man in sein Gesicht und
in die blauen Augen sieht. Es ist, als würde ein Zauber in ihnen liegen.
Etwas, das seine Göttlichkeit hier auf Erden gefangen hält.
»Wenigstens bist du jetzt hier, um Ilea kennenzulernen.« Nanny
schnalzt mit der Zunge. »Oder nimmst dir zumindest die Zeit dafür,
während du auf der Jagd nach einem anderen Rock bist.«
»Ich habe dich vermisst«, sagt Sol und lacht herzhaft. Als Nanny
einstimmt, muss auch ich schmunzeln. Meine Großmutter seufzt und
dreht sich um.
»Komm, du göttlicher Idiot«, befiehlt sie und winkt ihn zu sich.
»Ich fühle mich so … willkommen und geehrt.« Sol zieht amüsiert die
Augenbrauen hoch.
»Du meinst verehrt«, denke ich laut und beiße mir auf die Zunge. Habe
ich ihn gerade einfach so geduzt und korrigiert? Ich schlucke und sehe
unsicher zu ihm hinüber. Er legt Nanny einen Arm um die Schulter und
lächelt mich über ihren Kopf hinweg an. Ich muss an die Geschichte
denken, die mir Großmutter eben erzählt hat: Sol hat sie ausgesucht, weil
sie ihn behandelt hat wie jeden anderen auch. Die Frauen, die ihn nur
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angehimmelt haben, hat er ignoriert. Der Ehrgeiz packt mich. Ich möchte
meinem Großvater gefallen – ich will, dass er mich gern hat. Also werde ich
mit ihm reden, als sei er Yannis. Was habe ich schon zu verlieren? Und
Großmutter macht es immerhin genauso … Ich muss nur meine Nervosität
unter Kontrolle bekommen.
»Welche Fähigkeiten hast du, Ilea?«, fragt Sol und sieht mich wieder an.
»Ich kann Licht brechen und warmen Wind herbeirufen«, berichte ich
stolz. Die meisten Herbstkinder können nur eine Sache.
»Das klingt gut. Kannst du etwas wachsen lassen?«
»Nein, tut mir leid.«
»Du brauchst dich doch nicht zu entschuldigen.« Sols Meeresaugen
ruhen voller Neugier auf mir. »Ich werde einige Zeit hierbleiben. Es wäre
schön, wenn du mir zeigst, was du kannst.«
»Gerne. Vielleicht lerne ich ja sogar noch was.«
Als wir mit Sol die Stadt erreichen, wird es fast schon unangenehm. Die
Leute starren ihn an, werfen ihm teilweise sogar Blumen vor die Füße.
Mädchen rücken ihr Dekolleté zurecht, in der Hoffnung, dass er sie dazu
auserwählt, mit ihm in den ewigen Sommer zu gehen. Es ist peinlich, fast
schon traurig. Meine Augen suchen nach Yannis, doch ich sehe ihn
nirgendwo. Sicherlich wird er heute Abend wieder zum Bach kommen.
Dann kann ich ihn mitnehmen und ihm Sol vorstellen. Doch jetzt muss ich
mich auf das Hier und Jetzt konzentrieren, denn immer mehr Menschen
drängen sich um uns.
Langsam werde ich nervös. Es sind einfach zu viele und ein Mann ist
mit seinem Pferd in der Menschentraube gefangen. Ich kann hören, wie es
ängstlich schnaubt. Alle wollen den Sohn der Göttin sehen, ihn berühren
und grüßen. Immer mehr Leute werden dazu gerufen, doch dann geht
plötzlich alles ganz schnell.
86
Ein Knall hallt durch die kleine Gasse. Es klingt, als hätte jemand etwas
Großes aus Metall fallengelassen. Noch ehe einer von uns reagieren kann,
steigt das Pferd neben mir hoch. Der Schrei erstickt in meiner Kehle, als ich
einen Herzschlag später zur Seite und auf den Boden gerissen werde. Auf
mir liegt der blutüberströmte Sol. Ich kämpfe mich unter ihm hervor und
ziehe seinen Kopf auf meinen Schoß.
»Ruft einen Arzt«, schreie ich.
Überall ist Blut.
***
»Er hat starke Prellungen am Oberkörper, aber die meisten Sorgen macht
mir sein Kopf.« Der Arzt betrachtet ein Röntgenbild, auf dem sich klar
erkennbar ein Schädelbruch abzeichnet. Wanja steht weinend neben
Nanny, Vater und mir. Ich fühle mich schuldig. Sol hat mich geschützt und
die Tritte des Pferdes selbst abbekommen. Ich habe nur eine kleine Beule
am Hinterkopf.
»Das wird uns die Göttin nie verzeihen«, flüstert die oberste Hüterin
und sieht zu Sol, der an so vielen Geräten hängt, dass mir lähmende Angst
in die Glieder fährt.
»Wir müssen abwarten. Die nächsten Tage sind kritisch.« Der Arzt
seufzt und ich kann in seinem Gesicht sehen, dass er gerne mehr tun
würde.
»Jetzt verliere ich auch ihn an ein Pferd«, flüstert Nanny tonlos. Ich
muss an Mutter denken. Sie ist geritten wie der Teufel. Im Scherz haben
wir immer prophezeit, dass sie das eines Tages umbringen würde. Ironie
der Göttin, dass es wirklich so gekommen ist. Ich setze mich zu Sol ans
Bett und nehme seine schlaffe Hand in meine. Sie ist ganz warm. Ich
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wünschte, ich könnte sie streicheln, aber ein Zugang steckt im
Handrücken. Verzweifelt schließe ich die Augen. Ich wünschte, ich könnte
die Zeit zurückdrehen.
»Wenigstens hat er dich gerettet«, sagt Nanny.
Aber bin ich nicht unwichtig im Vergleich zu einem Halbgott?
Ende der Leseprobe
Jennifer Wolf lebt mit ihrem Mann und ihrer Tochter in einem kleinen
Dorf zwischen Bonn und Köln. Aufgewachsen ist sie bei ihren Großeltern
und es war auch ihre Großmutter, die die Liebe zu Büchern in ihr weckte.
Aus Platzmangel wurden nämlich alle Bücher in ihrem Kinderzimmer
aufbewahrt und so war es unvermeidbar, dass sie irgendwann mal in eins
hineinschaute. Als Jugendliche ärgerte sie sich immer häufiger über den
Inhalt einiger Bücher, was mit der Zeit zu dem Entschluss führte, einfach
eigene Geschichten zu schreiben.
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Drei Fragen an Jennifer Wolf
© Marcus Lieske
Was hat dich zu deinem neuen Roman inspiriert?
»Morgentau« war von mir ursprünglich als Einzelband geplant gewesen.
Als Inspiration dafür diente mir damals das Kinderlied »Es war eine
Mutter, die hatte vier Kinder …«
Nachdem es dann erschienen war, kamen schnell Anfragen zu weiteren
Teilen, aber für mich stand von vorneherein fest, dass ich diese nur
schreiben würde, wenn mir etwas einfällt, bei dem ich voll und ganz
dahinter stehe. »Abendsonne« entstand ungefähr 18 Monate später. Am
Ende kam mir dann die Idee für den dritten Band: »Nachtblüte«. Man
könnte also sagen, dass das Schreiben zu Band 2 mich dazu inspiriert hat.
89
Welche Figur aus deinem neuen Roman ist dir besonders ans Herz
gewachsen und warum?
Aviv. Ihn hatte ich bisher, genau wie Sol, noch ein wenig vernachlässigt.
Aber in »Nachtblüte« kommt zum ersten Mal auch einer der Männer zu
Wort, eben der Frühling, und ich glaube, deshalb ist er mir auch besonders
ans Herz gewachsen.
Aber auch Ileas Oma Nanny, die uns auch noch in Band 4 begleiten
wird. Ich mag ihre offene und ehrliche Art und wie sie die Halbgötter
herumkommandiert. Da ist allerdings noch eine Person, die ich hier noch
nicht näher beschreiben möchte. Ich mag diese Figur bereits jetzt schon
wahnsinnig gerne und freue mich wegen ihr schon auf das Schreiben von
»Tagwind«, dem vierten Band der Reihe.
Auf welches Buch in deinem Bücherregal oder auf deinem EReader könntest du niemals verzichten und warum?
Oh … nur eins? Gemein! Da gibt es soooo viele. Zum Beispiel die
»Sternenschimmer«-Trilogie, die ich schon geliebt habe, bevor deren
Autorin Kim Winter zu meiner Impress-Kollegin wurde. Im Moment hat es
mir aber sehr Isabel Shtar angetan, die Liebesromane im Gay-RomanceBereich schreibt. Ihr Buch »Froschprinz« könnte ich immer und immer
wieder lesen. Ludwig (Lulu) und sein Paul(i) sind einfach zum Niederknien
süß und Ludwigs Gedankengängen haben mich teilweise Tränen lachen
lassen. Besonders wenn es jemand gewagt hat, ihn morgens anzusprechen,
ohne dass er seinen Kaffee intus hat. Und ich möchte definitiv Ludwigs
Gardinen haben! Die sind der Hammer … :)
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Mythos und Wahrheit in Julia Kathrin
Knolls »Elfenblüte«-Reihe
Es ist alles andere als leicht, als überzeugtes Großstadtkind von Hamburg
aufs bayerische Land zu ziehen. Und das auch noch in eine Kleinstadt, in
der jeder jeden kennt und man selbst niemanden. Erst in Alahrian, dem
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Jungen mit den himmelblauen Augen und dem makellosen Aussehen,
findet die siebzehnjährige Lillian einen Vertrauten. Dabei ist Alahrian alles
andere als menschlich. Als Geschöpf der Natur kann er Blüten zum Blühen
und Gewitter zum Brodeln bringen. Aber mit den Gefühlen zu Lillian
umzugehen, steht auf einem ganz anderen Blatt …
Alle fünf Bände der Reihe in einer E-Box!
Zwei Jahrhunderte, zwei Lebensgeschichten, eine große Liebe … Am 04.
Februar 2016 erscheint »Nachtschwarz«, der Spin-off zur Bestseller-Reihe
»Elfenblüte« von Julia Kathrin Knoll.
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Dichtung und Wahrheit
Fast alle Ereignisse in »Elfenblüte« sind natürlich fiktiv. Lilly und mich
verbindet aber eine ähnliche Familiengeschichte. Nach der Scheidung
meiner Eltern zog mein Vater in das winzige Dorf Kreuzstraßl mitten im
Bayerischen Wald. Ich selbst habe dort zwar nie gewohnt, aber in den
Ferien war ich oft da. Und weil es an einem Ort mit weniger als 100
Einwohnern nicht viel anderes zu tun gibt, als sich Geschichten
auszudenken, entstanden dort viele Ideen.
Hier sind einige der Schauplätze, die mich damals zu »Elfenblüte«
inspiriert haben:
© Julia Kathrin Knoll
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Dieses Wegkreuz mit Totenbrettern mitten am Waldrand fand ich gleich
sehr geheimnisvoll und erfand dazu die Geschichte einer mysteriösen
Hexenverbrennung. Später wurde daraus dann der Prolog von
»Elfenblüte«. Und aus dem Kreuz wurde ein Steinerner Engel.
© Julia Kathrin Knoll
Einsame Kapellen mitten im Wald … Solche Orte kamen mir schon immer
sehr spannend vor. Diese hier ist das Wallfahrtskirchlein Rastbuche, das
ich als Kind gerne erkundet habe. In »Elfenblüte« steht eine solche Kapelle
direkt neben dem Steinernen Engel. Und Lilly und Alahrian geraten dort
einmal in große Gefahr.
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© Julia Kathrin Knoll
Schloss Ludwigsthal bei Lindberg. Hier wohnen zwar in Wahrheit keine
Elfen, doch in meinem Kopf war dieses halb verfallene Schlösschen immer
das Vorbild für Alahrians Villa, die im Buch aber noch um einiges
geheimnisvoller ist.
Dann gibt es noch einen Ort im Bayerischen Wald, den ich zwar noch nicht
lange kenne, der aber zufällig ganz genau zur Geschichte von »Elfenblüte«
passt: das kleine Städtchen Viechtach. Von seinen Bewohnern wird es
»Deckel zur Hölle« genannt und man behauptet, dass unter der dort zu
Tage tretenden Quarzader ein Drache schlafe.
Diese Geschichte wurde mir zwar erst erzählt, als die Rohfassung des
Romans schon stand, aber sie hat mich sofort an »Elfenblüte« erinnert. Im
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Roman gibt es zwar keinen Drachen, aber ein anderes furchteinflößendes
Wesen, das unter der Erde gefangen gehalten wird. Und die Stadt ist zwar
kein Tor zur Hölle, aber eines in die Welt der Elfen und Feen. Und so wurde
Viechtach zum inoffiziellen Schauplatz von »Elfenblüte«, obwohl der Name
des Ortes dort nie erwähnt wird.
Hier ein Bild des Stadtzentrums:
© Julia Kathrin Knoll
Links im Bild ist sogar die Eisdiele zu erkennen, in der Lilly mit AnnaMaria sitzen könnte, als sie zum ersten Mal Alahrian trifft.
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© Julia Kathrin Knoll
Und hier sieht man das Viechtacher Rathaus, in dem Anna-Marias Vater
Bürgermeister sein könnte. Den echten Bürgermeister des Ortes habe ich
tatsächlich mal kennengelernt – als die Erstausgabe des Buchs im Rathaus
vorgestellt wurde. Anders als im Buch liegt aber wohl kein Fluch auf ihm.
Hoffentlich. ;)
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© Julia Kathrin Knoll
Was in »Elfenblüte« auch noch eine große Rolle spielt, ist Lillys Kette mit
dem siebenzackigen Elfenstern. Diese Kette gibt es wirklich. Ich habe sie
mal auf einem Mittelaltermarkt gekauft. Leider hat sie bisher allerdings
noch keine magischen Kräfte gezeigt. :(
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Die Mythen hinter »Elfenblüte«
Schon als Kind habe ich Geschichten über Elfen, Elben und Feen immer
sehr geliebt. Ich habe diese Wesen nahezu überall gesucht, an nebligen
Seeufern, in lichtdurchfluteten Wäldern – und, als ich älter wurde,
schließlich nur noch in Geschichten und Mythen.
Über diese alten Elfenmythen wollte ich später sogar meine Doktorarbeit
schreiben. Aus der ist am Ende leider nichts geworden, dafür habe ich bei
der Recherche so viele spannende Geschichten entdeckt, dass ich einfach
nicht anders konnte, als daraus einen Roman zu machen.
Hier sind einige alte Mythen, die in »Elfenbüte« mit eingeflossen sind:
Elfen
… sind gefallene Engel, die nicht böse genug waren für die Hölle, aber auch
nicht rein genug für den Himmel.
Gefallene Engel und Elfen! Dass zwei so spannende Themen so sehr
miteinander zusammenhängen, war mir vor der Arbeit an meiner
Dissertation gar nicht klar. Ich fand den Gedanken jedoch sofort
faszinierend und deshalb spielt er auch in »Elfenblüte« eine große Rolle.
Alahrian zum Beispiel leidet sehr darunter, als »gefallenes Wesen« zu
gelten.
Lilith
… ist nach christlich-jüdischer Überlieferung Adams erste Frau, die sich
aber im Gegensatz zu Eva ihrem Mann nicht unterwerfen wollte. Angeblich
sind die Elfen Nachkommen von Lilith und Adam, während die Menschen
die Kinder Adams und Evas sind.
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Ich war leider nie besonders bibelfest, aber dass Adam vor Eva noch eine
andere Frau gehabt haben soll, das erschien mir dann doch irgendwie
spannend. Und so ist Lilith eine der Hauptfiguren im Roman geworden,
zuerst als Antagonistin, dann als … hhmm, das soll hier lieber noch nicht
verraten werden. ;)
Alfar
… ist ein Begriff aus der nordischen Mythologie. Im Grunde bedeutet er
nichts anderes als »Elfen«, aber ich wollte für den Roman mal eine
Bezeichnung verwenden, die neu und vielleicht nicht ganz so bekannt ist.
Liosalfar
… sind im nordischen Mythos helle, freundliche Elfenfiguren, die gerne
Sonnenlicht mögen. In »Elfenblüte« habe ich daraus Wesen gemacht, die
Licht sogar zum Leben brauchen und in der Dunkelheit nicht überleben
können. Fun Fact: Die Inspiration dafür war, ganz unphilosophisch, eine
meiner Topfpflanzen ;)
Döckalafar
… sind im Buch einfach nur »Dunkelelfen«. Wörtlich bedeutet der Begriff
eigentlich so etwas wie »graue Elfen«, »Elfen des Zwielichts«. Für die
Geschichte allerdings brauchte ich einen etwas deutlicheren Gegensatz zu
den »Liosalfar«. »Grau« war dann etwas, das mir trotzdem nicht mehr aus
dem Kopf gegangen ist, und so entstand »der Graue«, ein Wesen, das
weder Licht noch Schatten ist, sondern alle Gegensätze in sich vereint.
Fenririm
… sind in »Elfenblüte« Wolfswesen, die den »Erloschenen« dienen, jenen
100
Liosalfar, die dem Licht entsagt haben und in die Schatten stürzten. Der
Begriff »Fenririm« ist zwar rein fiktiv, lehnt sich aber an den Fenris-Wolf
an, der laut nordischem Mythos am Ende der Welt Sonne und Mond
verschlingen wird. Eine Geschichte, die, wie ich fand, einfach perfekt zu
den »Erloschenen« passt!
Sidhe
… sind in der keltischen Mythologie hohle Hügel, in die sich die Elfenwesen
zurückziehen mussten, nachdem die Menschen sich in ihrer Welt
breitgemacht hatten.
Als ich ein Kind war, habe ich überall nach diesen Hügeln gesucht. Ich habe
sogar meine Eltern überredet, nach Irland zu fahren, weil sich dort
angeblich viele davon befinden. Gesehen habe ich trotzdem noch keinen,
aber in »Elfenblüte« befinden sie sich tief unter dem Dorf, in das Lilly am
Anfang der Geschichte zieht, und werden von Alahrian und seinem Bruder
Morgan streng bewacht.
Der Elfenstern
… ist ein siebenzackiger Stern und im Buch ein Symbol für alle Völker des
Elfenreichs, das als eine Art Tattoo von allen Elfen auf dem Handgelenk
getragen wird. Einer Freundin habe ich mal versprochen, dass ich mir so
ein Tattoo auch stechen lassen würde, wenn »Elfenblüte« tatsächlich bei
Carlsen Impress erscheinen würde. Dieses Versprechen ist … ähhh … bisher
noch nicht eingelöst. ;)
TEXT: Julia Kathrin Knoll
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Felicitas Brandt: »Tracy. Zwischen
Liebe, Hoffnung und Erinnerung« mit
Illustrationen von Jana Goldbach
Spin-off der Lillian-Reihe
Erscheinungsdatum: 03. März 2016
102
Inhalt
Mit dem Verschwinden von Lillian bricht für die 18-jährige Tracy eine Welt
zusammen. Verzweifelt versucht sie ihre beste Freundin zu erreichen, doch
die ist wie vom Erdboden verschluckt. Ganz im Gegensatz zu Baco, der mit
seinen karamellfarbenen Augen und den schokobraunen Haaren immer
häufiger in ihrer Nähe auftaucht. Als dann auch noch ihr Bruder von einem
wilden Tier angegriffen wird, beginnen sich die Fragezeichen in Tracys
Kopf zu stapeln. Und leider auch die in ihrem Herzen. Noch weiß sie nicht,
dass alles zusammenhängt und ihre Suche sie in eine völlig neue Welt
führen wird. Eine Welt voller Gefahren und scharfer Krallen …
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Leseprobe
»Tracy, wenn du jetzt nicht bald fertig bist, dann …« Ishiro beendete den
Satz nicht, sondern schlug nur ein weiteres Mal von außen gegen die
Badezimmertür. Ich konnte sein genervtes Gesicht vor mir sehen, die
drohend zusammengekniffenen Augen und die Art, wie er die Lippen
zusammenpresste, wenn ihn etwas ärgerte. Mit einem Lächeln drehte ich
die Musik noch etwas weiter auf und zückte meinen Lippenstift in
tiefdunklem Rot, der einfach perfekt zu meinem neuen grauschwarzen
Kleid passte, welches sich äußerst schmeichelhaft an meine Taille
schmiegte. Nur die Haare … Nachdenklich zupfte ich an den
schokoladenbraunen Strähnen. Da könnte man mal wieder was dran
ändern. Vielleicht Strähnchen, wie Aria in Pretty Little Liars, aber weniger
rosa und mehr bordeaux vielleicht. Oder grün? Mum würde ausrasten.
Ich warf einen letzten Blick in den Spiegel und öffnete schließlich die
Tür. Ishiro lehnte mit verschränkten Armen an der Wand. »Ach, sind fünf
Stunden echt schon rum?« Purer Sarkasmus perlte von seinen Lippen.
»Kam mir gar nicht so lange vor.«
»Ishiro, du Nervensäge, in diesem Haus gibt es mindestens drei
Badezimmer, was kann ich dafür, wenn du nur dieses eine benutzt?«
»Es ist das einzige mit vernünftigen Fenstern«, zischte mein
Stiefbruder und rauschte an mir vorbei.
Ich lächelte ihm liebevoll hinterher. Ishiro und ich waren wie Pech und
Schwefel, auch wenn man das aus unseren Dialogen manchmal nicht
erahnen konnte. Er mochte keine Räume ohne mindestens ein großes
Fenster und wenn gar keins darin war, betrat er es nur im äußersten
Notfall. Als wir uns kennengelernt hatten, war das eine der letzten Sachen,
104
die ich über ihn erfahren hatte. Er sprach nicht gern über seine Schwächen.
Unsere Eltern (meine Mum, sein Dad) kannten sich schon ewig und hatten
schließlich irgendwann beschlossen zu heiraten. Über seine richtige Mutter
sprachen weder Ishiro noch sein Vater und über meinen Erzeuger gab es
nicht viel mehr zu sagen, außer dass er ein heißer Barkeeper in einer noch
heißeren Nacht gewesen sein musste. In einer Kiste mit
Erinnerungsstücken hatte ich mal eine schwarze Schürze gefunden. An der
Innenseite war der Name »Riley« aufgestickt. Mum hatte nie zugegeben,
dass sie wirklich von ihm stammte, aber ihre Ohren waren ganz rot
geworden und ihr Blick so komisch gehetzt und flackernd.
Ich stöckelte auf meinen tiefschwarzen Pumps die geschwungene
Treppe hinunter (wobei ich unwillkürlich die Stimme meiner Mutter im
Kopf hatte: »Gerade, Kind, Schultern zurück und, um Himmels willen,
guck nicht so blasiert.«). Das Haus war nach der Renovierung
wunderschön geworden: überwiegend helle Farben und dazu passende
Möbel in modernem Barockstil. Und es war groß, riesig groß. Die obere
Etage erstreckte sich über die Schlafzimmer von Ishiro und mir (wirklich
große Schlafzimmer!), das eben umkämpfte Bad, ein Wohnzimmer, ein
Gästezimmer und einen Raum, der ursprünglich als Abstellkammer
gedient hatte und jetzt Regale voller Klamotten aufnahm, die nicht mehr in
meinen Schrank passten. In der unteren Etage befanden sich der Wohnund Essbereich mit Küche und Wintergarten sowie eine Art Fitnessraum,
den ich bisher noch nicht wirklich betreten hatte. Und dann ging es noch
über eine andere Treppe hoch in die Gemächer unserer Eltern. Ishiro und
ich unterteilten das Haus in »Fressmeile«, »Spaßflügel« und
»Spießerflügel« oder auch »Empty Rooms«. Denn Mum und Dad waren oft
auf Geschäftsreise, diesmal in der Türkei. Von dort aus wollten sie weiter
nach Saudi-Arabien in den Urlaub – ein Traum meiner Mum. Vorher
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hatten wir beide stundenlang arabische Sitten und Traditionen gegoogelt,
weil sie nichts mehr hasste, als unangenehm aufzufallen. Danach hatten
Mum und ich zusammen Sex and the City II geguckt und miteinander
gewettet, ob sie sich trauen würde, auf einem Kamel zu reiten. Ich konnte
es mir nicht wirklich vorstellen. Mum war Model und Designerin zugleich
und Dad Fotograf. Sie waren jetzt schon zwei Wochen unterwegs und
würden wahrscheinlich nicht vor Ende des Sommers zurückkommen. Das
war nicht sehr ungewöhnlich – Ishiro und ich waren ziemlich oft alleine
und eigentlich war dieser Freiraum ziemlich cool. Trotzdem gab es
Momente, in denen es mich nervte. Andere Mütter brachten ihre Kinder
zur Schule, meine erschien meistens nicht mal zu den Gesprächen mit den
Lehrern. Gut, meine Noten erforderten das auch nicht unbedingt, aber
trotzdem!
Ich biss die Zähne zusammen. Ich hatte keine Lust, mich über etwas
aufzuregen, was ich schon seit sechs Jahren nicht hatte ändern können.
Schließlich hatte ich hier alles: meinen Bruder, meine beste Freundin, ein
gutes Leben. Eigentlich ein perfektes. Na gut, in Beziehungen war ich ein
Desaster, aber sonst … Das Klingeln an der Haustür riss mich aus meinen
Gedanken. Stirnrunzelnd ging ich die letzten Stufen hinunter und warf
einen Blick auf die große Uhr im Flur. Wer konnte das um diese Zeit sein?
»Machst du auf?«, brüllte Ishiro aus dem Bad.
»Nein, ich dachte, ich lasse das Henriette machen«, brüllte ich zurück.
»Wer ist Henriette?«, kam es in verdutztem Tonfall von oben.
»Unser Dienstmädchen?« Ich schritt auf die Tür zu. Einen Moment war
Stille.
»Wir haben doch gar kein Dienstmädchen!?«
»Gut erkannt, Brüderchen!« Ich lachte in mich hinein und riss die Tür
auf. Davor stand ein übernächtigt wirkender Mann mit Augenringen, die
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einem Horrorfilm Ehre gemacht hätten (nicht, dass ich so etwas gucken
würde), bleichen Wangen, glasigem Blick und zerzausten Locken. In den
zitternden Händen balancierte er ein riesiges Paket. »Theresia Ookami?«
»Ausnahmsweise, weil ich heute gute Laune habe und Sie aussehen, als
wären Sie schon eine Weile unterwegs. Aber wenn Sie mich noch mal so
nennen, werde ich Ihnen die Gang meines Bruders auf den Hals hetzen,
die Sie in kleine Stückchen zerhacken wird.« Ich schenkte ihm ein
strahlendes Lächeln. Der Mann starrte mich an, sein Adamsapfel hüpfte
bedrohlich. »Wo soll ich unterschreiben?«, fügte ich zuckersüß hinzu und
fragte mich, warum eigentlich nie jemand meinen Humor verstand.
Vielleicht, weil der arme Kerl einfach so müde war, wie er aussah. Ich
könnte ihm statt Trinkgeld einen Kaffee mitgeben, nur leider waren wir da
gerade in einer peinlichen Notlage, weil ein gewisser Jemand vergessen
hatte einzukaufen. Aber Donuts waren noch da …
Der Postmensch sah mich wortlos an und es dauerte einen Moment, bis
er mir einen Stift hinhielt.
Grazil setzte ich ein paar Schnörkel in das dafür erfundene Feld, steckte
ihm den Stift in seine Hemdtasche und drückte die Tür weiter auf. »Sie
können es dort hinstellen, mein Leibsklave trägt es mir dann nach oben.«
Anscheinend verstand er diesen Scherz auch nicht. Es war wirklich
erstaunlich, wie groß die Augen eines Menschen werden konnten. Wäre er
eine Comicfigur, würden sie ihm jetzt vermutlich aus dem Gesicht purzeln.
Er lächelte mich unsicher an und spähte über meine Schulter, als könnte
dahinter eine wilde Horde Minions auf ihn lauern. Zugegeben, die
Vorstellung war ziemlich lustig, aber doch recht unrealistisch. Nächstes
Mal würde ich Ishiro wieder zur Tür gehen lassen. Oder einfach vorher
nicht an meine Mutter denken.
Als der Mann sich nach mehreren Millisekunden immer noch nicht
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regte, fragte ich: »Möchten Sie es lieber hier draußen stehenlassen?«
»Nein, ich meine, ja, Ma'am, ähm, Mademoiselle … ähm, Sir.«
»Schieben Sie es einfach durch die Tür«, riet Ishiro, der die Treppe
heruntergeilt kam.
»Sehen Sie.« Ich lächelte ihn an. »Da ist mein Leibsklave schon.«
Ishiro verdrehte die Augen, packte mich an den Schultern und zog mich
von der Tür weg. »Nehmen Sie sie einfach nicht ernst, uns ist der Kaffee
ausgegangen, sie ist etwas neben der Spur.«
»Das ist in meiner ganzen Kaffeesucht-Laufbahn noch nie
vorgekommen!«, rief ich theatralisch. »So eine Schande.«
Mein getreues Brüderchen half dem armen Postmenschen, der, so
schnell es ging, seinen Auftrag erfüllte und dann die Flucht ergriff. Jetzt
standen wir beide vor diesem riesigen Paket.
Ishiro legte den Kopf schief. »Wer von uns hat Geburtstag?«
»Zu klein für Geburtstag.«
»Vielleicht ist es eine Stereoanlage für ein Auto und das Auto wird noch
geliefert.«
»Vielleicht denken sie, wir hatten schon unseren Schulabschluss.«
»Vielleicht ist auch ein Nachhilfelehrer drin, damit sie sichergehen
können, dass wir unseren Schulabschluss auch schaffen.«
»Warum musstest du auch diese Chemiearbeit offen herumliegen
lassen? Das war so was von unnötig.«
»Du meintest doch, unbedingt …«
Ich beendete den Disput, indem ich kurzerhand einen bereitliegenden
Brieföffner in Form des ultrateuren Tranchiermessers meines Stiefdads
griff (er kocht eigentlich total selten, aber seine Küche ist top eingerichtet)
und das Paket geschickt aufschlitzte. Zum Vorschein kamen vier kleinere
Kartons und eine Karte.
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»Wir vermissen euch. Alles Liebe, Mum und Dad«, las Ishiro vor.
»Bestechungsgeschenke.«
»Na dann, herzlichen Glückwunsch, Brüderchen.« Ich reichte ihm einen
Karton. »Auf mich, dich, uns, den Postmenschen und den heutigen Tag.«
»Mh.« Er spähte in den Karton und reichte ihn mir zurück. »Nicht ganz
meine Größe, fürchte ich.«
Beim Anblick der High Heels in einem rauchigen Grau mit einer großen
Schleife vorne drauf kreischte ich entzückt auf. Im Nu war ich aus meinen
Schuhen geschlüpft und probierte das Bestechungsgeschenk an. »Perfekt!«,
jauchzte ich und drehte mich vor dem großen Spiegel im Eingangsbereich.
»Oh, die sind wunderschön!«
»Tracy, nein!«, sagte Ishiro im Befehlston, in der Hand eine
wunderschöne Krawatte (rauchgrau, oooahh!).
»Was denn?«
»Lass es sein!«
»Ich mach doch gar nichts.«
»Du hast diesen Blick.«
Ich zog die Stirn kraus. »Was für einen Blick?«
»Den Schuh-Blick. Du willst sie in der Schule anziehen.«
»Jaaa«, seufzte ich verliebt. »Ich will.«
»Aber sie passen nicht zu deinem Outfit.«
»Das ist richtig.«
»Das heißt, du wirst dich komplett umziehen und mindestens noch
zwanzig Minuten brauchen.«
»Sagen wir eine Dreiviertelstunde. Dieser Farbton ist eigenwillig, man
muss sanft mit ihm umgehen.«
Stöhnend legte mein Bruder den Kopf in den Nacken. »Eine halbe
Stunde, ich sag es dir, ich fahre ohne dich!«
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»Ich beeil mich«, versprach ich treuherzig. »Höchstens eine Stunde.«
»Tracy!«
Hastig rannte ich die Treppe hoch.
***
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Baco
Er trat an die Theke und gab seine Bestellung auf. Der Blick des blonden
Mädchens, das dahinter arbeitete, huschte über die Schramme in seinem
Gesicht und sein blaues Auge hin zu seinem Arm, den er in einer Schlinge
trug. Die Verletzungen waren schmerzhaft und heilten schlecht. Er fühlte
sich mehr als elend.
Aber er war am Leben.
Er schrak aus seinen Gedanken hoch, als das Mädchen ihm das
Wechselgeld reichte und ihn zum anderen Ende des Tresens schickte, wo
bereits ein Becher mit seinem Namen wartete. Er wählte aus den
angebotenen Teesorten eine aus und ließ den Beutel in das heiße Wasser
sinken, ehe er das Ganze mit einem Deckel verschloss. Wie gut, dass er
wenigstens einen Arm noch ohne Probleme benutzen konnte. Ein Junge
mit roten Haaren und einem freundlichen Grinsen reichte ihm den
zweiten Teil seiner Bestellung in einem Papphalter für beide Becher.
Vorsichtig schlängelte er sich durch die Wartenden hindurch in
Richtung Tür und trat ins Freie. Sonnenstrahlen bahnten sich ihren Weg
durch den wolkenverhangenen Himmel und krochen über die Dächer. Dem
schnellen Klackern hoher Absätze maß er keine Bedeutung bei, bis jemand
in ihn hineinrannte. Reflexartig riss er den Becher hoch und packte mit
dem verletzten Arm zu. Schmerz durchzuckte seine Schulter bis hinab in
den Brustkorb und jede einzelne Faser seines Seins. Jemand keuchte. Ein
Mädchen. Der leichte Geruch nach Himbeeren und Holunder war
irgendwie vertraut …
»Es tut mir so leid!« Das Mädchen vor ihm war trotz ihrer hohen
Absätze einen halben Kopf kleiner als er. Sie trug ein Blümchenkleid in
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Schwarz, Grau und Grün mit einem weit schwingenden Rock, in dem sie
zierlich wirkte, was das riesige Tuch um ihren Hals noch unterstrich. Er
spürte, wie sein Herzschlag sich beschleunigte, und der Schmerz rückte in
den Hintergrund. Als sie den Blick von seinem Arm zu seinem Gesicht hob,
weiteten sich ihre dunklen Augen und ihre Lippen formten ein leises »Oh«.
»Baco …« Sie erinnerte sich an seinen Namen! Seine Mundwinkel
zuckten nach oben.
»Hallo, Tracy.« Sie war so schön wie bei ihrer ersten Begegnung. Zart
und trotzdem stark, mit diesen wunderschönen schwarz schimmernden
Augen. Er konnte in ihrem Blick sehen, dass auch sie sich an ihre erste
Begegnung erinnerte, denn sie schauderte für einen winzigen Moment, ihr
Herz schlug schneller und das Blut wich ihr aus den Wangen.
Sie hatte Angst.
Vor ihm?
Doch sie wich nicht zurück. Der Wolf in seiner Brust fuhr die Krallen
aus. Sie sollte sich nicht fürchten, sollte niemals auf der Straße über die
Schulter sehen müssen. Er hatte den Jungen nicht erwischt, der sie verletzt
hatte, Lillian war schneller gewesen. An dem Abend, als er die beiden nach
Hause gebracht hatte, war er zum Vincent gefahren, um nicht noch auf die
Jagd nach diesem Schwein zu gehen. Und später … Er schob die Gedanken
fort, ehe der Wolf die Wut spüren konnte, und konzentrierte sich auf ihr
Gesicht. So schön.
»Es tut mir leid«, sagte sie noch einmal. »Ich wollte dich nicht
umrennen.« Sie hatte sich gefangen, doch er konnte die Angst um sie
herum noch wabern sehen, wie Nebel, der sich an den Gräsern festhält,
wenn die Sonne kommt. Sie deutete auf seinen Arm. »Das sieht aus, als
würde es wehtun.«
»Kaum noch«, erwiderte er. »Halb so wild.«
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»Ich … also das ist quasi ein Notfall.« Es war süß, wie sie stotterte. »Die
Schule fängt gleich an und Ishiro … das ist mein Bruder, also … er … wir …
hatten keinen Kaffee mehr und dann kam das Bestechungsgeschenk und
wir waren megaspät dran, weil wir es noch ausgepackt haben, und ich
musste mich umziehen und jetzt …« Tracy verstummte abrupt.
Er lächelte. Er mochte es, wie sie leicht errötete, und glaubte beinahe zu
hören, wie sie innerlich auf sich selbst einschimpfte.
»Jedenfalls brauche ich unbedingt Kaffee, sonst werde ich diesen Tag
nicht überstehen«, beendete sie ihren Satz schwungvoll und blickte auf
seinen Becher. »Wie ich sehe, brauchst du sogar eine doppelte Dosis.«
»Der zweite ist nicht für mich.«
»Ah.« Sie nickte. »Ein Gentleman, deine Freundin kann sich glücklich
schätzen.«
Er lachte in sich hinein und beantwortete ihre unausgesprochene Frage.
»Wir sind nicht zusammen. Nur Freunde.«
»Oh.« Ein Lächeln legte sich auf ihre Lippen, bei dem ihre Augen
aufleuchteten wie schwarze Diamanten. Jetzt vergaß auch der letzte seiner
Nerven den Schmerz und konzentrierte sich ganz auf sie. So mies, wie
dieser Tag begonnen hatte, so rettete ihn dieser Moment doch. Er schwor
sich, jeden zu töten, der ihr dieses Lächeln stehlen sollte. »Okay.«
»Magst du Karamell?«
»Ja.«
»Dann …« Er nahm den Becher aus dem Papphalter und hielt ihn ihr hin.
»Nimm den, nicht, dass du noch zu spät zur Schule kommst.«
Sie starrte ihn sprachlos an. »Das … kann ich nicht annehmen.«
»Warum nicht?«
»Weil … du hast schon angestanden und …«
»Ich habe Zeit. Du nicht. Ich habe Kaffee, du brauchst Kaffee. Nimm
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ihn.«
»Aber das Geld …«
»Du zahlst beim nächsten Mal.« Er konnte sich die Worte nicht
verkneifen. Sei kein Narr, Baco! »Na los.« Er drückte ihr den Becher in die
Hand und bemerkte ihre Fingernägel, die sie in dunklem Grau lackiert
hatte, mit einer winzigen glitzernden Schleife am Ringfinger.
»Du bist toll.« Spontan stellte sie sich auf die Zehenspitzen, ihre Lippen
streiften seine Wange. Sein Herz stockte und schien dann aus seiner Brust
springen zu wollen. »Vielen Dank!« Damit drehte sie sich um und stürmte
auf die Straße zu, ihr Kleid wehte um sie herum. Auf der anderen Seite hielt
sie noch einmal inne und winkte ihm zu.
Als Tracy fort war, drehte er sich um und ging langsam zurück zu dem
schwarzen Wagen, der an der Ecke parkte. Das Fenster auf der
Beifahrerseite fuhr herunter, als er sich näherte. Baco beugte sich vor und
stützte den unverletzten Arm darauf. »Möchtest du einen neuen Kaffee
oder meinen Tee?«
»Nein, danke.« Das Mädchen auf dem Beifahrersitz schüttelte den Kopf.
Eine Strähne ihres langen schwarzen Haares rutschte hinter ihrem Ohr
hervor. »Ich verstehe ohnehin nicht, was du hier tust. Du sollst dich
ausruhen.«
»Ich dachte, ein Abschiedsgeschenk wäre angemessen.«
»Es reicht mir völlig, wenn du überlebst.« Ihr Blick huschte über die
Straße. »Sie sah gut aus.«
»Das wird sich ändern.«
»Sie ist stark, sie kann es verkraften.« Sie klang, als versuche sie die
Worte so oft zu sagen, bis sie wahr wurden.
»Das weißt du nicht.« Baco war klar, dass er Hoffnung spenden sollte,
doch er konnte es nicht. Er fühlte noch immer Tracys Lippen. »Du musst zu
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ihr gehen. Verabschiede dich wenigstens.«
»Ich kann nicht.«
»Du hast gesagt, du wirst es …«
»Ich sagte, ich WILL es!«, erwiderte das Mädchen heftig und ihre Augen
glommen in einem intensiven Grün auf. »Aber ich kann es nicht, Baco, ich
kann nicht …«
Der Mann auf der Fahrerseite legte ihr eine Hand auf die Schulter. Das
Leuchten in ihren Augen wurde schwächer, erlosch aber nicht gänzlich.
»Pass bitte auf sie auf, ja?« Tränen schimmerten in den Augen des
Mädchens und rannen langsam über ihr blasses Gesicht.
Baco spürte, wie sich etwas in ihm zusammenzog. So viel Leid. »Was
immer Ihr wünscht, Prinzessin.«
Sie schüttelte den Kopf. »Tu es für sie, nicht für mich. Bitte.«
»Du solltest hierbleiben. Du solltest an ihrer Seite sein.«
»Ich kann nicht.«
»Du hast es Luca gesagt, dann sag es auch ihr. Sie verdient das.«
»Du magst sie, oder?«
Er biss die Zähne aufeinander. Ja. Zwei Buchstaben, eine Antwort. Aber
das war verrückt. Wie sollte er erklären, dass da schon beim ersten Mal, als
er sie gesehen hatte, ein Gefühl in ihm gewesen war, als hätte er das
gefunden, was er schon so lange suchte? Gab es so etwas überhaupt im
wahren Leben?
Die Tränen fielen von ihrem Kinn auf ihre im Schoß ineinander
verkrampften Hände. »Versteh doch … ich kann nicht. Nicht nach dem,
was ich getan habe.« Sie wischte sich über die Augen. »Leb wohl, Baco.«
»Leb wohl, Lillian.«
***
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»Mit wem hast du vor dem Blue Banana geredet?« Ishiro sah mich auf dem
Weg zur zweiten Stunde fragend an.
»Stalkst du mich, Brüderchen?«, entgegnete ich lässig und winkte seiner
Freundin Holly zu, die an seiner Seite lief. In meinem Blut tanzte und sang
der Zucker zusammen mit dem Koffein. Und mein Herz … das fühlte sich
ziemlich seltsam an.
Baco.
Ich hatte ihn bis jetzt nur zwei Mal gesehen (abgesehen von meinen
Tagträumen und den normalen nächtlichen Träumen natürlich). Einmal
hatte er sich fast mit Luca, Ishiros und meinem besten Freund, in der
Kantine geprügelt und das andere Mal … ich schluckte. Die Erinnerung
flammte auf wie grelle Neonscheinwerfer.
Brian. Der heiße, gut aussehende Brian mit der lässigen Haltung, der
Typ, in den ich total verknallt gewesen war. Der Abend, seine Wut, meine
Flucht. Die Jagd. Lillian am Telefon, die mir versprach mich zu finden, und
ich, wie ich mich im dunklen Park versteckt hatte wie ein verletztes Tier.
Baco. Er war dort gewesen. An jenem Abend. Mit Lillian. Ich erinnerte
mich daran, wie er sich behutsam auf mich zubewegt hatte. Seine warmen
Finger, die vorsichtig über die Wunde auf meiner Stirn getastet hatten, ehe
er mich hochgehoben und in völlige Sicherheit eingehüllt hatte.
Ihn jetzt einfach so auf der Straße zu treffen, war … verrückt. Seine
Stimme war rau und dunkler, als ich erwartet hatte. Und da war wieder
dieses Gefühl gewesen. Das Gefühl, dass ich ihm vertrauen konnte. Dann
gab er mir einfach seinen Kaffee … o du meine Güte, wie konnte ein Kerl nur so
süß sein? Gentleman pur.
»Halloho, Erde an High Heels.« Ishiro schnippte vor meinem Gesicht mit
den Fingern. »Was soll das seltsame Mienenspiel?«
»Ich … was?« Ich tastete über meine Lippen, als könnten meine Finger
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die darauf liegenden Emotionen finden und verstecken. Ishiro sollte nicht
wissen, wie sehr mich die Sache mit Brian immer noch beschäftigte. Er
und Holly tauschten einen Blick. Ich wusste genau, was sie dachten.
Endlich hat die arme kleine Tracy jemand Neues zum Anhimmeln
gefunden, um über diesen kranken Psycho hinwegzukommen, der sie fast
gekillt hätte. Nicht, dass Baco nicht eindeutig gute Qualitäten zum
Anhimmeln besaß. Jedenfalls sonst. Heute hatte er ziemlich angeschlagen
ausgesehen. Wer hatte ihn wohl so zugerichtet? Und lebte dieser jemand
noch?
»Hey Trace, hast du Luca gesehen?«
»Nein.« Ich runzelte die Stirn. »Ist er immer noch nicht wieder da? Was
hat Lillian mit ihm angestellt?«
»Sie habe ich auch noch nicht gesehen.« Ishiro dachte kurz nach. »Schon
seit einer Woche.«
»Was?« Ich schüttelte den Kopf. »Nein, das kann nicht sein, wir …«
»Doch, klar, überleg mal. Die letzten vier Tage waren wir bei unserer
Tante Cherry in …«
»Geht da bloß nie wieder hin!«, stöhnte Holly. »Jedenfalls nicht, bis sie
Internet hat.«
»Hast du mich vermisst, Babe?«
Als Ishiro und Holly zu turteln begannen, suchte ich mir meinen Platz
im Klassenzimmer und starrte auf Lillians leeren Stuhl, während ich
nachrechnete und auf einen beunruhigend langen Zeitraum kam. Ich
checkte mein Handy, aber da war nichts. Hastig tippte ich eine kurze
Nachricht an sie und versuchte dann, mich auf die Stunde zu
konzentrieren. Aber meine Gedanken glitten immer wieder zu einem
jungen, ziemlich gut aussehenden Typen mit dunklen Haaren zurück und
ein äußerst hartnäckiges Grinsen kletterte auf meine Lippen und machte
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es sich dort gemütlich.
***
Rechts, links, ducken, hoch, Schlag, ausweichen. Ich versuchte gleichmäßig
zu atmen und den Schweiß zu ignorieren, der mir in Strömen den Rücken
herunterlief. Irgendwo rief jemand etwas, aber ich ließ mich nicht
ablenken.
Ablenkung tat nur weh.
Die Gestalt vor mir tänzelte zur Seite und holte deutlich sichtbar mit
dem rechten Arm aus. Mein Körper wollte der Bewegung folgen, doch mein
Gehirn warnte mich. Finte! Ich duckte mich, wich zur anderen Seite aus
und landete einen Treffer. Irgendwo klatschte jemand. Ich erlaubte mir ein
Grinsen.
»Sehr gut.« Die Gestalt vor mir wich zurück und ließ die Hände sinken.
Das Gesicht meines Trainers glänzte vor Schweiß, seine Augen leuchteten.
»Du wirst immer besser, Tracy.«
»Danke.«
»Aber … pass auf deine Gefühle auf. Du neigst dazu deine Wut in
Energie umzuwandeln. Das macht dich zwar stark, aber auch kopflos. Du
denkst nicht nach, legst zu viel Kraft in den einen Schlag und
vernachlässigst dafür deine Deckung.«
»Ich bin nicht wütend.«
»O doch, das bist du. Und das verstehe ich. Trotzdem darfst du dich
nicht vergessen. Du brauchst eine Art Anker. Etwas, woran du dich
festhalten kannst, damit deine Wut dich nicht wegschwemmt. Wenn du
dich darin verlierst, ist es sehr schwer, den Weg zurückzufinden.« Er sah
mich ernst an. »Mach Schluss für heute, du hast es dir verdient.« Er klopfte
118
mir auf die Schulter. »Wir sehen uns Mittwoch?«
»Ja. Danke, Mick.«
»Jederzeit.« Er zwinkerte mir zu und rief den Nächsten auf die Matte.
Normalerweise blieb ich noch, um zuzusehen und zu lernen, aber heute war
mir nicht danach. Also verzog ich mich in die Umkleide.
Micks. Der Name verzierte die hölzernen Bänke zwischen den Spinden.
Es war ein kleines Studio am Ende einer düsteren Gasse, in das ich mich
nie im Leben reingetraut hätte, außer vielleicht, um eine Wette zu
gewinnen. Doch Lillian hatte nicht mit sich reden lassen, mich
hineingezogen und drinnen nach Mick gefragt. Der war entgegen meiner
Erwartung kein Sylvester Stallone mit verbrannter Haut und
Tränensäcken, sondern ein schlaksiger Kerl, nur einen halben Kopf größer
als ich, mit flachsblonden Haaren und hübschen Gesichtszügen. Ich hätte
ihn eher in die Band meines Bruders gesteckt als in einen illegal wirkenden
Boxschuppen. Mein Blick war über den Boxring und die Hantelbänke
geschweift, während Lillian mit gedämpfter Stimme auf Mick eingeredet
und ich schließlich eine Karte mit einer Handynummer bekommen hatte,
die ich zu jeder Zeit anrufen durfte, zusammen mit der Anweisung, jeden
zweiten Tag hierherzukommen.
Der Waschraum war klein, dafür waren die drei Duschen aber einzeln
abgetrennt und supersauber. Brian, mein psychopathischer Ex-Schwarm,
der mir aufgelauert, mich entführt und mit einer Waffe auf meinen Kopf
gezielt hatte, war schuld daran, dass ich hier trainierte. Ein kalter Schauer
lief mir trotz des heißen Wassers über den Rücken. Ich konzentrierte mich
auf das gleichmäßige Rauschen des Duschkopfes und die kleinen
Wassertropfen, die sich an den Wänden ein Wettrennen lieferten, als
könnten sie es gar nicht erwarten, die Welt jenseits der Duschkabine zu
erkunden. Wie sich ein Wassertropfen im Abfluss wohl fühlte? Am Ziel?
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Enttäuscht? Verloren? Allein war er zumindest nicht, ich schickte gerade
tausende Wassertropfen auf den Weg.
Die ersten Male hatte Lillian mich hierher begleitet und als sie wie ein
Duschwassertropfen im Abfluss verschwunden war, war ich alleine
wiedergekommen. Mick brachte mir bei, mich zu verteidigen, damit
Situationen wie damals auf der Brücke nie wieder vorkommen würden.
Ich wusste nicht, was Lillian ihm alles über mich erzählt hatte, aber er
stellte nie Fragen oder sah mich mitleidig an, und dafür war ich ihm
dankbar. Auch die Handvoll Stammgäste kannte ich inzwischen vom
Sehen und kurzen Begrüßungen. Es war, als hätte ich Zugang zu einer
Untergrundorganisation erhalten. Und mit einigen von den Jungs wollte
man sich echt nicht anlegen.
Auf dem Weg zum Bus checkte ich mein Handy erneut. Nichts von
Lillian, nur Susann, die mir die Bestätigung für Freitagabend schickte. Das
Gute daran, im letzten Jahr zu sein, waren definitiv die Partys. Wohin man
schaute, Plakate und Flyer mit Einladungen zu den unterschiedlichsten
Veranstaltungen. Es war der Wahnsinn. Jede Menge Gründe, um shoppen
zu gehen. Doch dafür hätte ich allzu gern meine beste Freundin an meiner
Seite.
Ich wählte ihre Nummer, erreichte aber nur die Mailbox. »Lillian, wenn
du das abhörst, dann ruf mich an, hörst du? Ich weiß, ich habe versprochen
euch Zeit zu geben, damit ihr eure Beziehung kitten könnt, aber dazu zählt
wohl kaum Schule schwänzen. Ishiro ist zu Luca gefahren. Im Sekretariat
haben sie gesagt, er sei krank. Was für eine lahme Ausrede, also wirklich.
Wehe, ihr tut Dinge, die ich nicht auch tun würde, hörst du? Ruf zurück!«
Ich drückte auf den roten Button und gleich darauf noch mal auf den
grünen. »Und wenn mein Bruder euch bei irgendetwas erwischt, zahlst DU
die Therapie!« Ich wartete ein paar Sekunden und starrte auf das
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Handydisplay, doch nichts geschah. Lillian war ein schweigsamer Mensch,
das war ja auch okay, aber so langsam könnte sie echt mal einen Blick auf
ihr Telefon werfen.
Ich joggte zum Bus und hasste mich dafür, dass ich unwillkürlich
schneller lief und mich nach allen Seiten umsah. So stark ich mich auch
während des Trainings fühlte … wenn es dunkel und still wurde, dann war
alles anders.
Ich wünschte, Lillian wäre hier, um mich abzuholen.
Ich wünschte, ich wäre stark genug, um Brian in den Arsch zu treten.
Ich wünschte, ich hätte drei Leibwächter als Familie wie Lillian.
Ich wünschte, ich würde weniger wünschen und mehr tun.
Ich wünschte, … Baco …
***
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Baco
Er drückte sich tiefer in die Schatten und versuchte mit ihnen zu
verschmelzen. Ihr Blick huschte über ihn hinweg. Für einen Moment schien
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es, als würde sie ihn bemerken, aber dann sah sie weiter nach vorn und
beschleunigte ihre Schritte. Die Angst waberte um sie herum wie ein
unsichtbarer Mantel. Am liebsten wäre er einfach auf sie zugetreten und
hätte sie nach Hause gebracht.
Aber wie sollte er erklären, was er hier tat? Dass er sie im Auge behielt,
weil er sich Sorgen um sie machte? Brian war, soweit er wusste, noch
immer in Untersuchungshaft und seine Kumpane waren auch aus dem
Verkehr gezogen. Selbst wenn sie ihm seine Beweggründe abkaufte, wirkte
das Ganze immer noch sehr stalkerhaft.
Seufzend lehnte er sich wieder an die Hauswand und beobachtete, wie
sie auf die Bushaltestellte zusteuerte. Fürs Erste würde er wohl im
Hintergrund bleiben müssen. Die Wunde auf seiner Wange pochte und
der Wolf in seiner Brust verlangte nach Schlaf. Baco wartete, bis Tracy
sicher in den Bus gestiegen war, ehe er in der Nacht verschwand.
Er würde einen anderen Weg finden, sich ihr zu nähern. Und vielleicht …
ja, vielleicht gab es doch Hoffnung.
***
Ich war eben in meinem Zimmer in einen bequemen Männerpulli
geschlüpft, als die Haustür mit voller Wucht ins Schloss fiel. Den Pulli
hatte ich zu meiner Schande selbst gekauft, weil mein Bruder nur so
megaenge Sachen trug und ich keinen Freund hatte, dem ich die
Sweatshirts klauen konnte. Also hatte ich ihn als Geschenk einpacken
lassen, um nicht allzu armselig auszusehen. Ja, das nennt man
Frauenprobleme. Argh!
Jemand kam die Treppe hochgetrampelt. »Tracy!« Im nächsten Moment
flog die Tür auf und Ishiro stand schwer atmend vor mir. »Bitte sag mir,
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dass sie dich angerufen hat.«
»Wer?«
»Die Königin von England! Lillian, natürlich!«
Zu irritiert über seinen Tonfall, um mir einen geistreichen Kommentar
einfallen zu lassen, schüttelte ich den Kopf. »Nein, hat sie nicht.«
Ishiro sah mich so entsetzt an, als hätte ich ihm verkündet, ich würde
ihn gegen ein Kamel eintauschen wollen. Okay, so abwegig war das nicht,
ich hatte das tatsächlich in einem Sommerurlaub mal probiert, aber das
war ein wirklich, wirklich süßes Exemplar mit wunderschönem Zaumzeug,
und rein theoretisch war ja klar gewesen, dass das nicht klappen würde,
also bitte.
»O Scheiße.« Ishiro raufte sich seine Haare, die schon arg
mitgenommen aussahen – normalerweise war seine Frisur immer gegelt
und in Topform, es musste also ernst sein.
»Was ist denn in dich gefahren?« Langsam wurde ich doch etwas
unruhig.
»Sie sind weg.«
»Bitte?«
»Hast du was an den Ohren? Sie sind WEG. Fort, ausgeflogen. Ich bin
eben noch am Sulivanne-Anwesen vorbeigefahren. Die Tore sind zu und
nirgendwo brennt Licht. Lillian ist weg!«
»Ich … aber … sie … das …« Ich beendete mein Gestammel mit einem
ungläubigen Lachen. »Das kann doch nicht sein.«
»Anscheinend schon.« Ishiro ließ sich mit hängenden Schultern auf
mein Bett fallen. »Ich war bei Luca. Er ist völlig am Boden, Trace. Die
Wohnung sieht aus … das glaubst du nicht. Und er erst. Er sagt, sie hat ihn
verlassen, schon an dem Abend, als er sie überraschen wollte. Die ganze
Zeit, während wir dachten, die zwei raufen sich wieder zusammen, war sie
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schon weg und er ist in seiner Bude beinahe krepiert.«
»Aber … warum?«
»Luca meinte nur, dass sie ihn nicht mehr will. Dass er nicht gut genug
sei.«
»Das hat sie nie im Leben zu ihm gesagt«, empörte ich mich. »Was hat
er ihr angetan, dieser Idiot, hm?«
»Ich weiß es nicht, aber Trace … er sah wirklich nicht gut aus.«
»Das ist bestimmt alles ein riesengroßes Missverständnis. Los, komm!«
Ich war schon halb durch die Tür, als ich registrierte, dass Ishiro noch
immer auf meinem Bett saß. »Worauf wartest du?«, fauchte ich schon voll
im Rettungsmissionsmodus. Wenn jemand Beziehungen kitten konnte,
dann ich. Nur eine eigene, die bekam ich nicht auf die Kette. Nun ja, jede
Superkraft hatte eben ihr Kryptonit.
»Willst du wirklich so rausgehen?« Ishiros Blick wanderte an mir
herunter.
Ich sah von meinem Schlabberpulli zu der grünen BambiSchlafanzughose bis hinunter zu meinen rosa Plüschsocken. »Ähm … Starte
schon mal den Wagen, ich bin sofort da.« In Windeseile warf ich mich in
eine Jeans, schnappte mir ein Paar Schuhe, flitzte die Treppe hinunter und
zur Einfahrt, wo Ishiro bereits auf mich wartete.
Das Tor am Sulivanne-Anwesen war tatsächlich zu. Kurzentschlossen
sprang ich aus dem Auto, wobei ich versuchte die ganzen
Gruselgeschichten, die man sich in der Gegend über dieses Haus erzählte,
zu verdrängen.
Ishiro lief mir nach. »Was tust du da?«
»Es öffnen«, erwiderte ich und drückte die Klinke am Tor herunter. Es
war nicht verschlossen. Aufatmend schlüpfte ich hindurch und sah mich
um. Es war still, viel zu still. Nicht, dass Lillian und ihre Familie Leute
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waren, die viel Lärm machten, aber … der Ort wirkte verlassen. Irgendwie …
kalt. Ich versuchte den Gedanken abzuschütteln, indem ich energisch auf
die Eingangstür zuschritt. Das Geräusch der Klingel klang dumpf hinter
der geschlossenen Tür hervor, doch nichts als Stille folgte. Ich probierte es
noch ein paarmal, ging in einen nervtötenden Zwei-SekundenKlingelrhythmus über, für den Bill mich schon längst erwürgt hätte, wenn
er hier wäre, ehe ich begann gegen die Tür zu hämmern. »Lillian, mach
auf!«
Ishiro wartete schweigend hinter mir, bis ich mit keuchendem Atem
und schmerzender Hand einen Schritt zurücktrat und hilflos zu den
dunklen Fenstern hinaufsah. Die Stille machte mich wahnsinnig, krabbelte
mir in den Ausschnitt meines Pullovers und den Rücken hinunter. Das
konnte nicht sein. War das ein Traum? Ich wünschte mir nichts sehnlicher,
als aufzuwachen. Oder dass Lillian mit Dean und den anderen im Impala
um die Ecke bog und mich ansah, als hätte ich den Verstand verloren. So
ziemlich alles war mir lieber als dieses Schweigen.
Dann rannte ich um das Haus herum zu Lillians Fenster und versuchte
mit kleinen Steinchen ihre Fensterscheibe zu treffen, bis Ishiro schließlich
meine Arme festhielt.
»Nicht, Trace«, murmelte er und säuberte meine Finger vom Dreck.
»Hör auf. Hier ist niemand.«
»Aber … Aber …« Ich schüttelte den Kopf, als die Worte nicht kamen,
sondern als haltlose Buchstaben in meinem Kopf herumsausten, und
machte mich von ihm los, um zurück auf den Hof zu rennen. Ich konnte
Stevens schwarzen Impala nicht entdecken und auch keins der anderen
Autos. Ich rannte zu der Scheune, die sie als Garage und Werkstatt
nutzten, und schob die schwere Tür beiseite. Nichts.
Gar nichts.
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Nicht mal ein Schraubenschlüssel.
Plötzlich war mir, als legte sich eine schwere Hand um meine Kehle und
drückte sie ganz langsam zusammen. Angst kroch an meinen Beinen hoch,
stach mit winzigen Nadeln in meine Adern und spritzte ihr Gift hinein.
»Es kann eine ganz einfache Erklärung geben«, hörte ich Ishiro hinter
mir sagen. »Vielleicht … ein Rohrbruch.«
»Und warum geht sie dann nicht ans Telefon?«
»Weil das in das aus dem Rohr geschossene Wasser gefallen ist und
deshalb Schrott.«
»Und warum war sie nicht in der Schule?«
»Weil sie ihrem Handy hinterhertauchen wollte und sich dabei die
Grippe geholt hat.«
Meine Mundwinkel zuckten nach oben. In Momenten wie diesen liebte
ich Ishiro noch mehr als sonst. Vielleicht hatte er ja Recht und es gab eine
ganz logische Erklärung. Aber warum sagte Luca, dass sie weggegangen
sei? Ich würde selbst mit ihm reden und mir ein Bild machen. Alles würde
gut werden. Menschen verschwanden nicht einfach spurlos und beste
Freundinnen schon gar nicht.
Das hier war schließlich nicht Pretty Little Liars und Lillian war so gar
nicht wie Alison.
Stumm ließ ich mich von Ishiro zu seinem Wagen ziehen. Als ich die Tür
öffnete und noch einmal zum Hof sah, schien es für einen Moment so, als
wäre da eine Gestalt, mit wuscheligen schokoladenbraunen Haaren. Doch
als ich genauer hinsah, war sie fort.
***
Die Anlage war ohrenbetäubend laut aufgedreht, der Bass wummerte in
127
meinen Ohren und mein Herz schlug so durchdringend, dass ich das
Gefühl hatte, mir käme ein Echo entgegen. Farbige Lichter fielen von der
Decke, brachen sich in Bierflaschen und billigen Plastikbechern mit
buntem Inhalt. Die Party war laut. Laut und voll und perfekt, wenn man
seine Gedanken in einsamer Geselligkeit, Musik oder Alkohol ertränken
wollte. Ich für meinen Teil schwamm irgendwo zwischen dem nächsten
Drink und dem letzten Lied. Mein Kleid erwies sich als wunderbare
Cocktailquelle. Immer wieder spendierte mir irgendwer etwas zu trinken,
für ein paar Worte oder einen Tanz. Und meine Laune war zu gut, um
deswegen Gewissensbisse zu haben.
Holly hatte mich mit großen Augen angesehen, als ich verkündet hatte,
sehr wohl zu der Party im 12 Hours gehen zu wollen. Doch ich wollte nichts
anderes als ein bisschen Normalität und Ruhe vor dem Lärm in meinem
Kopf.
Es war Freitag und somit mehr als eine Woche her, dass ich wie eine
Verrückte über das Sulivanne-Anwesen gestolpert war. Lillian blieb
weiterhin verschwunden und Luca … Mein Herz zog sich schmerzhaft
zusammen. Luca war völlig am Ende. Er kam zur Schule, aber im
schlimmsten Zombiemodus. Er starrte während des Unterrichts beinahe
ununterbrochen zur Tür, zuckte jedes Mal zusammen, wenn sie sich
öffnete, und sackte enttäuscht wieder im Stuhl zurück, wenn irgendein
Lehrer hereinkam, um sich Kreide zu borgen. So schlimm hatte ich ihn noch
nie gesehen, nicht einmal als Juliet ihm damals das Herz gebrochen hatte.
Diese französische Schlange schlich jetzt um ihn herum wie sonst was. Er
ging sogar darauf ein, was mich am meisten aufregte. Sogar jetzt! Luca
saß in einer Ecke und nippte an seiner »Cola«, die garantiert nicht nur aus
Zucker und Koffein bestand, während Juliet auf seinem Schoß saß und
ihm etwas ins Ohr flüsterte. Ich unterdrückte ein Knurren. Seine Hand lag
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viel zu weit oben auf ihrem Bein und seine Augen … ein Schauer lief mir
über den Rücken. Seine Augen waren einfach nur leer. Es war ziemlich
eindeutig, dass er sie nur als Ablenkung in seine Nähe ließ, aber der Luca,
den ich kannte, hätte so etwas nie getan.
Ich widerstand dem Drang, sie an den Haaren von ihm wegzuziehen,
und drehte mich um. Es tat mir weh ihn anzusehen und irgendwie …
machte es mich wütend. So was tat man dem Typen, der einen über alles
liebte, einfach nicht an! Ich hatte wirklich versucht es zu verstehen, ich
hatte sogar mein Zimmer durchwühlt auf der Suche nach einem möglichen
Abschiedsbrief von Lillian voller einleuchtender Erklärungen, doch da war
nichts. Gar nichts. Als ich mit Susann darüber gesprochen hatte, hatte sie
mich mit Bella aus Twilight verglichen. Ich konnte da nicht mitreden,
Bücher waren nicht mein Ding und Fantasy schon gar nicht. Ich stand eher
auf Serien wie Gossip Girl und Pretty Little Liars. Richtig romantisch und
mit jeder Menge schicken Klamotten.
Ich schob die Gedanken fort und nahm einen weiteren Schluck von dem
bitteren Zeug in meiner Hand. Ich bekam es nicht herunter, ohne das
Gesicht zu verziehen, aber es verstärkte diesen überaus angenehmen Nebel
in meinem Kopf, der sich über das ganze Chaos legte und es nach und
nach verblassen ließ. Ein Stück von mir entfernt schmiegte sich Susann an
Thomas. Holly und Ishiro waren schon fort. Angeblich taten ihr die Füße
weh. Pah, sie war in Sneakers hier gewesen, die nicht annähernd so eine
Herausforderung darstellten wie meine High Heels (die, wie ich kurz
bemerken möchte, einfach wunderschön waren).
Das Lied endete und ein neues setzte ein. Not afraid von Eminem.
Mann, ich konnte diesen Song nicht mehr hören. Jeder DJ der Stadt schien
ihn auf seiner Playlist zu haben und außerdem war es der Lieblingssong
von … Nein! Ich drängte den Gedanken an ihn und mich zusammen auf
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einer Couch in einer dezent beleuchteten Bar beiseite und sah mich um.
Die Schlange vor dem Klo war endlos, keine Fluchtmöglichkeit. Na gut,
frische Luft konnte ja auch nicht schaden. Ich schob mich durch die Menge
und wehrte ein paar neugierige Finger ab, bis mich der Bass endlich zum
Seiteneingang und nach draußen schwemmte.
Die Luft traf mich mit der Wucht eines heranrollenden Panzers und
brachte mich für einen Moment aus dem Gleichgewicht. Schwer atmend
lehnte ich mich an das Geländer des kleinen Laufstegs, der um das
ehemalige Firmengebäude herumführte. Ein paar Raucher nickten mir zu,
beachteten mich aber nicht weiter.
Eine leichte Gänsehaut kroch über meine Arme. Für Juli war es ein
bisschen frisch. Ich legte den Kopf in den Nacken. War das da oben der
Mond oder schon wieder die Sonne? Ich hatte nicht die leiseste Ahnung,
wie spät es war. Vermutlich spät. Oder früh, je nachdem, von welcher Seite
man guckte. Erstaunlich, dass Susann so lange durchhielt. Vermutlich lag
das eher an unserem Tommylein. Die zwei waren aber auch zu süß, ich
freute mich riesig für sie. Irgendwer von uns musste das mit der wahren
Liebe ja auch so langsam mal hinbekommen. Vielen Dank auch, Disney.
Das Lied drang noch immer an meine Ohren und verscheuchte das
leichte Lächeln von meinen Lippen. Dass Musik immer mit so vielen
Erinnerungen verbunden sein musste. Als würden sich die dunklen
Momente extra einen Soundtrack basteln, um sich so besser in das
Gedächtnis krallen zu können. Aber an Brian zu denken war so ziemlich
das Letzte, was ich wollte. Ich hielt mich am Geländer fest und steuerte die
Treppe nach unten an. Unter meinen Absätzen klackte das Metall. Die
Treppe bestand aus fiesen Gitterrosten, so dass ich auf meine Absätze
aufpassen musste, und war außerdem spiralförmig gebaut. Selbst bei
meinem Schneckentempo wurde mir nach wenigen Schritten schlecht. Nur
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noch ein paar Stufen, dann …
Im nächsten Moment blieb ich mit meinem Absatz hängen und kippte
nach vorn in Richtung des glänzenden Asphalts. Ob Mum wohl noch die
Adresse von dem Arzt hatte, der Tante Cherry die Nase gerichtet hatte?, dachte
ich noch und riss die Arme hoch. Schon prallte ich gegen eine muskulöse
Brust und Schmerz schoss durch mein rechtes Handgelenk. Jemand sog
scharf die Luft ein, vielleicht auch ich. Dann waren da zwei Hände an
meinen Hüften, die mich sanft wieder in eine aufrechte Position stellten.
»Werden diese stürmischen Begrüßungen jetzt zur Gewohnheit?«,
fragte eine amüsiert klingende Stimme.
Ich riss den Kopf hoch und blickte in Bacos braune Augen. Wow, das war
ja mal gar nicht peinlich oder so. Das zweite Mal in einer Woche!
»Entschuldige.« Ich rückte ein Stück von ihm weg, ziemlich mühsam,
nur auf einem Bein.
Baco hielt mich am Arm fest, damit ich nicht umkippte, und schaffte es
trotzdem, an meinen verlorenen Schuh heranzukommen. »Darf ich?« Ohne
meine Antwort abzuwarten, ging er schon in die Knie.
Mit heißem Kopf ließ ich mir in den Schuh helfen und stützte mich an
seiner Schulter ab. »Danke.«
»Jederzeit.« Er richtete sich auf und zwinkerte mir zu. »Dabei siehst du
so gar nicht aus wie Cinderella.«
»Ach, meinst du, ich hab nicht das Zeug zur Prinzessin?« Angriff war
immer die beste Verteidigung.
Er schüttelte sacht den Kopf. »Nicht für diese Art von Prinzessin.«
Etwas an der Art, wie er mich ansah, ließ einen Schauer über meinen
Rücken laufen. »Was machst du hier? Der Eingang ist da drüben.«
»Ich sah dich rauskommen und dachte, ich sag kurz hallo.« Sein Blick
schweifte über die ruhige Gasse hinter uns und fixierte dann wieder mein
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Gesicht. »Ist alles in Ordnung?«
»Sicher.« Außer dass mir ziemlich kalt ist, aber irgendwie auch heiß, was
vermutlich bedeutet, dass ich schon in die Wechseljahre komme, und mein Herz
springt mir gleich vor Aufregung aus der Brust, weil du mich nervös machst, aber
irgendwie auf eine gute Art. Wie stehst du zu herumspringenden Herzen?
»Sicher?« Mit einer beinahe beiläufigen Bewegung schlüpfte er aus
seiner dunklen Jacke. »Das sah nicht so aus. Eigentlich sah es mehr so aus,
als würdest du vor jemandem davonlaufen.« Er legte mir die Jacke um die
Schultern. Der Geruch von Pfefferminz und Wald vermischte sich mit dem
des Leders. Wahnsinn! Ich widerstand dem Drang, allzu auffällig daran zu
riechen. Vielleicht konnte ich meinen Eindruck einer völlig durchgeknallten
Persönlichkeit ja noch revidieren. Es dauerte einige Augenblicke, bis mir
auffiel, dass Baco immer noch auf eine Antwort wartete.
»Ähm …«, machte ich nicht sehr intelligent. »Vielleicht lag es am Licht?«
Was für eine Ausrede. Die war so dämlich, dafür wäre nicht mal
Pinocchios Nase gewachsen. Eher abgefallen.
»Hm …« Baco sah mich durchdringend an. »Eigentlich hab ich recht
gute Augen …«
Nicht nur Augen, hätte ich fast gesagt, biss mir aber im letzten Moment
hart auf die Unterlippe. »Tja, weißt du …« Ich machte eine allumfassende
nichtssagende Geste und einen Schritt zur Seite und geriet dabei prompt
ins Taumeln. Verdammt! Baco machte blitzschnell einen Schritt nach vorn
und zog mich an sich. Der schale Geschmack von Alkohol tanzte auf meiner
Zunge. Wo war eigentlich mein Becher? Ich hatte ihn doch mit
rausgenommen, oder? Ich hob den Blick zur Balustrade und fand einen
einsamen Becher, dort, wo ich vorher gestanden hatte.
»Oh«, sagte ich traurig. »Ich hab meinen Drink stehen lassen.« Bei dem
Versuch, einen Schritt Richtung Treppe zu machen, taumelte ich erneut.
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Was war denn bitte mit dem Boden los?
»Denkst du nicht, du hattest genug?«, fragte Baco mit einem leisen
Lachen um die Mundwinkel. »Oder musst du erst kotzen?«
»Ich bin eine Lady, ich kotze nicht«, erwiderte ich verschnupft. »Ich lasse
mir höchstens etwas noch einmal durch den Kopf gehen.«
»Natürlich.« Sein Nicken war pure Ironie. An seinem Kinn befand sich
eine dünne Narbe, die für einen Moment im Licht einer Straßenlaterne
aufleuchtete. »Und solange du auf eigenen Beinen stehen kannst …« Er sah
demonstrativ auf seinen Arm hinunter, an den sich eine Hand klammerte,
die mit den dunkelgrün lackierten Fingernägeln meiner tierisch ähnlich
sah. Ups … wie war denn das passiert?
»Das kommt davon, dass du dich so bewegst«, versuchte ich
abzulenken. Meine Finger wollten sich einfach nicht von seinem Arm lösen.
Apropos Finger, mein Handgelenk pochte immer noch ziemlich
schmerzhaft von der Begegnung mit seinem Brustkorb. War der Typ aus
Stein?
»Wie bewege ich mich denn?«
»Na, so schnell. Immer bist du urplötzlich da, und das total lautlos.
Hast du schon mal darüber nachgedacht dir ein Glöckchen umzubinden?«
»Ich fürchte, ich bin pingelig, was meinen Kleidungsstil angeht, und
gerade Schmuck … Hey!«
Das »Hey« galt mir, die es geschafft hatte seinen Arm loszulassen, um
meine andere Hand zu untersuchen, und dabei bedrohlich ins Wanken
geriet. Der Boden hatte heute echt was gegen mich! Vielleicht war es auch
die Schwerkraft. Meistens waren eher weibliche Wesen wütend auf mich,
mit Kerlen kam ich eigentlich ganz gut klar.
Im nächsten Moment hingen meine Beine in der Luft und ein warmer
Arm drückte sich in meine Kniekehlen. »He!«, protestierte ich. »Was soll
133
das?«
»Du brauchst was zu essen, was den Alkohol aufsaugt«, erwiderte Baco
seelenruhig, als wäre es völlig normal, dass er mich mitten in der Nacht
durch eine dunkle Gasse trug.
»Lass mich runter!«
»Lieber nicht.«
»Neandertaler!« Ich wand mich, aber das bewirkte nur, dass er mich
noch etwas fester an seine Brust drückte. Eine ziemlich bequeme Brust,
wenn ich das an dieser Stelle anmerken dürfte. Und wunderbar warm. »Ist
das eine Entführung?«
»Nur eine kleine, kein Grund, zu schreien oder nach dem Pfefferspray zu
greifen. Ich sorge mich lediglich um dein Wohlergehen.«
»Ich habe kein Pfefferspray, Sprühdeo tut es auch.«
Er lachte in sich hinein. »Dich kriegt man nicht so schnell klein, oder?«
War das so was wie Bewunderung in seiner Stimme?
Ich hob die Schultern. »Vielleicht. Aber Jungs mögen keine Mädchen, die
sich wehren können.«
»Vielleicht ja doch.«
Irrte ich mich oder hielt er mich noch ein bisschen fester? Etwas
besänftigt legte ich den Kopf an seine Schulter. In meinem Kopf sauste es
gedämpft. Vermutlich hatte ich tatsächlich zu viel getrunken. Aber ich
hatte auch jedes Recht dazu. Warum noch mal?
Bacos Geruch hüllte mich ein. Wald und Pfefferminz. Wie roch Wald
überhaupt? Gab es dafür eine offizielle Definition? Auf jeden Fall war es
das Erste, was mir in den Sinn kam, sobald er in meine Nähe kam.
»Bist du eigentlich ein Vampir oder ein Werwolf?« Ich brauchte zwei
Anläufe, bis die Worte einigermaßen verständlich aus meinem Mund
kamen.
134
Anscheinend war ich wirklich betrunken.
Ein Ruck ging durch die Arme, die mich hielten. Bacos Augen waren
weit aufgerissen und mit einem Mal wirkte er in dem schummerigen Licht
irgendwie blass. »Wie bitte?«
Ende der Leseprobe
135
Felicitas Brandt, wohnhaft in dem kleinen Holzwickede, konnte die
Finger noch nie von Büchern lassen. Während des Abiturs begann sie, ihre
eigenen Geschichten zu schreiben, Figuren ins Leben zu rufen und neue
Welten zu erschaffen. Sie möchte die Menschen damit berühren, zum
Nachdenken, Lachen und Weinen bringen. Ihr Traum: eine Hütte in der
freien Natur, zwei große Hunde vor einem prasselnden Kaminfeuer,
Laptop auf dem Schoß, den Geruch alter Bücher und Kakao in der Nase
und die Idee einer neuen Geschichte vor den Augen.
Jana Goldbach, geb. 1986, ist ausgebildete Mediengestalterin und
Kauffrau für Bürokommunikation. Wenn sie nicht gerade arbeitet oder
schreibt, widmet sie sich ihrer zweiten großen Leidenschaft – dem
Zeichnen. Inspiration findet sie nahezu überall, vor allem aber am Strand.
Dort wo sich Wind und Wellen treffen, schlägt oft die Geburtsstunde
neuer kreativer Ideen.
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Drei Fragen an Felicitas Brandt
© privat
Was hat dich zu deinem neuen Roman inspiriert?
Zu »Tracy« hat mich (man glaubt es kaum =D ) tatsächlich Tracy inspiriert.
Sie ist eine Figur, die so gar nicht geplant war. Es gab ganz am Anfang von
Lillian Band 1 diese Szene, wo Lillian sich auf die Party schleicht, um Luca
zu sehen. Und im Treppenhaus sieht sie dieses Plakat für den
Literaturkurs, an dem sie teilnehmen will, so dass sie dann ja dort zur
Schule geht und so weiter. Bis dahin war alles klar und ganz nach Plan.
Aber dann stand Lillian halt gerade in diesem Flur und starrte auf das
Plakat und irgendetwas hat mir gefehlt. Und da kam Tracy einfach so in
meine Gedanken spaziert, torkelte die Treppe herunter, in einem ihrer
ausgeflippten Outfits, und Lillian direkt in die Arme. Und von da an wollte
sie einfach nicht mehr gehen und wurde die freaky beste Freundin, die
immer da ist und ab und an auch mal in Schwierigkeiten gerät.
137
Ich wollte unbedingt wissen, was mit ihr passiert, nachdem Lillian die
Stadt verlassen hat und Ishiro, Tracys Bruder, so schwer verletzt wurde.
Und ich brauchte einfach Antworten darauf. Als ich das Ganze dann mit
Pia Cailleau von Carlsen durchgesprochen hatte, da war klar, ich muss
diese Geschichte unbedingt schreiben und herausfinden, was mit Tracy
passiert! :-)
Welche Figur aus deinem neuen Roman ist dir besonders ans Herz
gewachsen und warum?
Also Tracy ist mir auf jeden Fall noch mehr ans Herz gewachsen, einfach
weil ich jetzt aus ihrer Sicht geschrieben habe und weiß, was sie denkt und
fühlt in Bezug auf all das Schlimme, was ihr begegnet ist. Ich mag ihre
verrückte Art, den Sarkasmus und ihre Gedankengänge, wenn sich alles
irgendwie zusammen puzzelt und sie ihre Überlegungen in dieses Buch
kritzelt. Ich mag die Hartnäckigkeit, mit der sie Lillian vermisst, und dass
sie alles versucht, um sie zurückzubekommen. Es tat mir wirklich leid, was
ich ihr alles angetan habe, aber ihre Stärke ist wirklich toll. Auch die Art, wie
sie sich Herz über Kopf in Baco verliebt. Ich mag sie einfach unheimlich
gerne für ihre lebhafte Art und den Kampfgeist.
Und Baco natürlich, ich meine, wer kann ihn nicht mögen? Der Typ mit
den Narben im Gesicht, der alles für Tracy tun würde und einfach hofft,
dass sich die Geschichte nicht wiederholt, weil er sie nicht gehen lassen will.
Er kämpft für sie und um sie beide und ist dabei einfach leicht und lustig
und sarkastisch und einfach nur süß <3.
Auf welches Buch in deinem Bücherregal oder auf deinem EReader könntest du niemals verzichten und warum?
Ach Leute, wie soll ich mich denn da entscheiden? =D Also auf meinem
138
Reader definitiv »Häkelenten tanzen nicht«, das Buch ist so lustig und
traurig und herzbewegend, das darf nicht fehlen. Und die Rockstar-Reihe,
ohne die und ihren Sarkasmus kann ich auch nicht. =D Und in meinem
Regal … Harry Potter! :-) Einfach weil es legendär und unsagbar gut ist. Die
tollsten Kinderbücher der Welt. Und die Luna-Chroniken, weil ich SF sehr,
sehr mag und mich diese Geschichten so sehr überrascht haben. Und
»Sternenmeer« von Tanja Voosen, weil es ein Geburtstagsgeschenk von ihr
und der Alexandra Fuchs war und ich vor Glück fast geplatzt wäre <3. Und
Karl May, weil er meine Kindheitshelden zu Papier gebracht hat. Und
»Kuss des Kjer«, weil es, wenn man mich wirklich zwingen würde, eins zu
benennen, wohl als mein Lieblingsbuch genannt werden würde. Und, und,
und, und, und … =D
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Tops & Flops bei Blogtouren
von Amelie Murmann & Tanja Voosen
© privat
© Stefanie Voosen
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Amelie Murmanns Liebe zu Jugendromanen begann mit einem Jungen,
der überlebte, und festigte sich endgültig mit einem Mädchen, das in
Flammen stand. Um diese Liebe mit der Welt zu teilen, eröffnete sie 2010
ihren eigenen Buchblog und begann kurz darauf mit dem Schreiben.
Während ihres Abiturs begann Tanja Voosen sich zum ersten Mal mit
dem Schreiben von Geschichten zu befassen und kurze Zeit später auch zu
publizieren. Wenn sie nicht gerade damit beschäftigt ist, den Weg nach
Hogwarts zu suchen, weil die Realität so schlecht ohne echte Magie
auskommt, steckt sie ihre Nase in gute Bücher und treibt sich in der Welt
der Blogger herum.
Amelie Murmann und Tanja Voosen sind Blogger und Autorinnen und vor
allem sehr gute Freundinnen.
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Tops
Die Blogger-Welt erkunden
Bevor man eine Blogtour starten kann, braucht man natürlich eines:
Blogger! Es ist gar nicht so leicht, sich durch die große weite Blogger-Welt
zu kämpfen, deshalb sollte man sich zuerst ein gutes Bild von Blogs
machen, die einem gefallen. Eine hohe Reichweite ist vorteilhaft für eine
erfolgreiche Blogtour, aber sie ist auf keinen Fall alles! Gefallen Design/Stil
des Blogs und ist die Person dahinter regelmäßig tätig, ist das fast
genauso viel wert.
Teamwork
Genau wie der Weihnachtsmann vor dem größten Fest des Jahres seine
Elfen nicht alles alleine machen lässt, zählt bei einer Blogtour vor allem
eines: Teamwork. Als Organisator seid Ihr dafür verantwortlich, dass die
Arbeit ausgeglichen verteilt ist und alle zufrieden sind. Wo käme man
denn hin, wenn alle munter Kekse futtern oder niemand weiß, wo der
Hase lang läuft?
Den Autor nicht vergessen
Ein Autor und sein Roman bilden das Zentrum der Tour, deshalb sollte
sich dieser, wenn möglich, auf jeden Fall einbringen. Wer kennt schließlich
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das Buch, das beworben werden soll, besser als der Autor selbst?
Themenvorschläge, Insider-Wissen, Anekdoten aus dem
Entstehungsprozess – werdet kreativ und zeigt der Welt, warum es sich
lohnt, dieses Buch zu lesen!
Webe das Social-Media-Netz
Die Vernetzung zwischen Blogs und sozialen Netzwerken hilft, eine Tour
bekannt zu machen und zu bewerben. Beiträge zu teilen, um die
Reichweite auszubauen, ist eine gute Idee und zeigt außerdem
Wertschätzung für die Arbeit des gesamten Teams.
»Sharing is Caring«
Wenn man einen einzigen großen Gewinn stellt, sind die Chancen für alle
Teilnehmer gleich weniger verlockend. Bei einer »Gewinn-Staffelung« von
Buch bis hin zu Goodies kann man mehrere Leute glücklich machen und
der Ehrgeiz, auf dem »Siegertreppchen« zu stehen, ist auch gleich etwas
höher. »The Winner takes it all« ist zwar ein super Song, aber schon ABBA
wusste, dass die Loser dann leider »small« da herumstehen. Stattdessen
ist »Sharing is Caring« angesagt, und wie ginge das besser als mit
mehreren kleineren Gewinnen statt einem einzigen großen?
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Flops
Halbherzige Blogger
Blogger, die gerade in der Orientierungsphase sind und deren Blog
gefühlte fünf Tage alt ist, haben nicht die besten Karten für eine Blogtour.
Auch wenn eine Tour meistens nur eine Woche geht, sollte man sich besser
auf Leute verlassen, von denen man weiß, dass sie voll und ganz hinter
einer Tour stehen und auch Zeit/Elan mitbringen. Einen Blog erstellen geht
schnell, aber Durchhaltevermögen zu zeigen, ist eine andere Sache.
Fehlende Kreativität
Themen wie Autoren-Interviews, Figuren-Vorstellungen oder
Hintergrundinfos zum Roman sind eine schöne Idee, aber die wirklich
guten Touren zeichnen sich durch das aus, was man so schön
»Originalität« nennt. Wer also denkt, es reicht, seine Leser mit Infos zu
überladen, die man ohne viel Aufwand im Internet findet, der liegt falsch.
Es gibt nichts Langweiligeres als Posts, die außer Fakten nichts anderes
bieten. Denn die mochte schließlich in der Schule schon niemand.
Übereifrige Autoren
Da eine Blogtour noch immer auf den Blogs stattfindet, sollte man den
Teilnehmern ihren Freiraum lassen. Niemand mag es, wenn einem ständig
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reingeredet oder man herumkommandiert wird. Dann lieber
Kompromisse finden und die bösen Darth-Vader-Monologe nur zu Hause
vor dem Spiegel anwenden.
Post-Flut
Man sagt: Jede Art von Werbung ist Werbung! Aber deshalb sollte man
noch lange nicht versuchen, den Leuten eine Gehirnwäsche zu verpassen,
indem man jeden Tag zehn verschiedene Links teilt und zwanzig Gruppen
mit Beiträgen stürmt. Weniger ist oft mehr.
Gewinnspiel-Sitzfleisch
Ein Gewinnspiel sollte ein schönes Extra sein und keine grundlegende
Bestechung der Leser. Sätze wie »Macht mit & gewinnt!« locken zwar
einige Leute an, aber es bringt keinem Autor etwas, wahllos Sachen zu
verlosen, wenn sie nicht bei der richtigen Zielgruppe landen. Vermeidet es
also, Eure Tour nur auf das Gewinnspiel zu stützen.
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Valentina Fast: »Princess. Der Tag der
Entscheidung«
Spin-off der Royal-Reihe
Erscheinungsdatum: 03. März 2016
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Inhalt
Viterra, das Königreich unter einer Glaskuppel, lässt seine royalen Kinder
seit Anbeginn der Zeiten im Verborgenen aufwachsen. Das gilt nicht nur
für den Prinzen, der gerade eine aufwendige Prinzessinnenwahl
durchlaufen musste, sondern auch für seine Schwester Evelina, deren
Prinzenwahl noch bevorsteht. Nur leider ist Evelina alles andere als eine
typische Prinzessin und kein Mädchen, das sich gerne versteckt hält. Und
dennoch ist es ausgerechnet ein Maskenball, der ihr den Weg in die
Freiheit zeigen wird …
147
Leseprobe
»Lina, du weißt, dass wir das nicht dürfen.« Cassandras Stimme zitterte
leicht – wie immer, wenn sie nervös war.
Ich raffte unbeirrt den Rock meines dunkelblauen Tageskleides
zusammen und arbeitete mich weiter auf dem Vorsprung voran. »Cassie,
du solltest endlich etwas lockerer werden. Ich habe einfach keine Lust
mehr, noch länger in diesem elendigen Loch zu bleiben.«
»Das ist kein Loch, es ist unser Zuhause.«
»Nein, der Palast ist unser Zuhause. Hier wurden wir nur hingeschickt,
weil uns niemand während der Auswahl sehen darf«, erwiderte ich mit
einem Lächeln und blickte zu meiner Freundin empor, die nun ebenfalls
ihren Rock hob und durch das Fenster des kleinen, unscheinbaren
Gasthofs ins Freie kletterte.
»Richtig«, entgegnete sie keuchend. »Wieso siehst du es nicht einfach
mal als Urlaub an? Wir haben es hier so schön und in nur wenigen Wochen
können wir doch wieder zurück.«
»Du sagst es! Das ist unsere einzige Chance, etwas anderes von der
Welt zu sehen als nur den Palast. Hast du unser ständiges Versteckspiel
nicht auch manchmal satt? Ich möchte auf Bälle gehen, Menschen
kennenlernen, etwas erleben und mich amüsieren. Verheiratet sein werde
ich noch früh genug. Ich will einfach mehr vom Leben.« Nachdenklich blieb
ich auf dem Mauervorsprung stehen und schaute hinunter. Knapp drei
Meter unter mir lag der Erdboden, doch nur ein paar Schritte weiter rechts
befand sich die Feuertreppe.
»Du bist die Prinzessin und wirst in einem Jahr genauso glücklich sein
wie dein Bruder. Sobald du volljährig bist, beginnt die nächste Auswahl,
148
und dann bist du frei.« Cassies Stimme überschlug sich fast. Sie liebte die
Vorstellung von der Auswahl und freute sich mehr als jede andere von uns
darauf. Obwohl meine anderen Gefährtinnen Laura und Melissa ebenfalls
nicht abgeneigt waren. Momentan schliefen die beiden und meine beste
Freundin Cassie hatte einfach das Pech gehabt, mich zu überraschen, als
ich mich gerade rausschleichen wollte.
»Frei? Pah! Ich werde mit irgendeinem Schönling verheiratet sein, der es
sowieso nur auf den Ruhm und das Geld abgesehen hat. Denn wer macht
schon bei so einem bescheuerten Wettbewerb mit, um sich zu verlieben?«
»Deine Eltern lieben sich«, befand Cassie und klammerte sich ein wenig
verzweifelt, wie es schien, an den Fenstersims, während ich mich weiter
vorantastete.
»Das ist etwas anderes. Meine Mutter hat Vater schon immer geliebt. So
etwas habe ich nicht vorzuweisen.« Glücklich erreichte ich die Feuertreppe
und atmete erleichtert auf, bevor ich mich zu meiner Freundin umdrehte.
»Kommst du?«
»Kann ich nicht einfach hierbleiben?«, fragte sie kläglich.
»Damit Martha dich ausquetschen kann? Natürlich nicht!«
»Du bist so egoistisch«, zischte Cassie, doch sie kam langsam auf mich
zu. Auf dem letzten Stück des Vorsprungs wurde sie unwillkürlich
schneller, bis sie mir mit einem kleinen Seufzer halb in die Arme sprang
und ich mich abmühte, mein Gleichgewicht zu halten.
Von hier aus wirkte der Vorsprung doch recht … schmal. Aber ich ließ mir
nicht anmerken, dass ich ein wenig Zweifel hatte, ob das hier wirklich so
klug war.
Cassie knuffte mich in die Seite und funkelte mich an. »Herrisch bist
du auch!«
»Das weiß ich schon«, winkte ich ab und grinste wieder voller
149
Vorfreude. »Dann lass uns mal schauen, was die Hauptstadt so zu bieten
hat.«
»Ich fasse noch mal kurz zusammen: Du bist minderjährig, eine Frau
und ohne Begleitung. Das ist verboten.« Cassie strich ihr dunkelgrünes
Kleid glatt und fuhr sich über ihre Haare, um sie wieder zu ordnen, obwohl
sie wie immer perfekt lagen. »Ich weiß wirklich nicht, was du damit
bezwecken willst.«
»Das sagte ich dir doch bereits«, entgegnete ich ein wenig ungehalten.
»Ich will doch nur ein wenig mehr von der Welt sehen. Du weißt, wie sehr
ich es hasse, eingesperrt zu sein. Ich werde nicht einmal Königin und muss
trotzdem ein Leben hinter hohen Mauern führen. Bei meinem Bruder kann
ich die Sicherheitsvorkehrungen ja noch verstehen, aber bei mir ist es doch
vollkommen unnötig.« Mein Blick schweifte in die Ferne, suchte die Stelle,
wo die Kuppel den Horizont berührte, und ein Lächeln umspielte meine
Lippen. Klar, die Kuppel schützte uns, doch nahm sie uns auch so viel weg.
»Manchmal wünsche ich mir, ich könnte jemand anderes sein«, entfuhr es
mir leise.
»Wer willst du denn sein?« Cassie schob sich neben mich und wirkte
traurig. Ich wusste, sie verstand mich, auch wenn es ihr schwerfiel, da sie
mein Leben bewunderte.
»Ich will normal sein«, gab ich zu und machte mich daran, die Feuerleiter
hinunterzuklettern. »Und für ein paar Stunden werde ich das jetzt auch
sein.«
»Was ist, wenn sie uns erwischen?«, fragte Cassie ängstlich, folgte mir
jedoch trotzdem.
»Dann sage ich die Wahrheit – nämlich, dass es meine Idee war und du
mich nur begleitet hast, um mich vor schlimmerem Unheil zu bewahren.
Sollen sie mir doch Hausarrest aufbrummen, das ist mir egal. Es wird es
150
wert sein, ganz sicher.« Ich lächelte versonnen und kletterte unbeirrt
weiter, bis ich den Boden erreichte.
Cassie kam kurz nach mir an und atmete tief durch. »Und jetzt? Laufen
wir einfach dem Horizont entgegen und warten darauf, dass wir von
einem Psychopathen gefangen werden?«
»Du solltest weniger von diesen Krimis aus der Alten Welt lesen«, lachte
ich und lief durch den Hinterhof des Gasthofes, in dem wir untergebracht
waren. »Außerdem gibt es hier so etwas nicht mehr.«
»Sicher?« Meine Freundin warf mir einen skeptischen Seitenblick zu.
»Natürlich bin ich mir da sicher. In Viterra sind alle Menschen absolut
harmlos. Der Letzte, der vor Urzeiten in den Kerker geworfen worden war,
hatte das Schwein seines Nachbarn geschlachtet, da er es für fetter als sein
eigenes hielt.«
»Das ist doch nicht wahr!«, kicherte Cassie, hielt sich aber schnell ihre
Hand vor den Mund, ganz wie unsere Vertraute Martha es uns beigebracht
hatte.
»Doch, mein Bruder hat es mir erzählt. Er hat gelauscht, als Vater sich
mit General Wilhelm darüber unterhalten hat.«
»Unglaublich! Einfach ein Schwein zu töten.«
»Dachte ich auch. Aber ihn in den Kerker zu werfen war dennoch ein
wenig übertrieben, finde ich. Natürlich wollten sie, dass er die Schwere
seiner Tat einsieht. Aber genauso willkommen war ihnen das bisschen
Aufregung, das damit verbunden war – bei all der Eintönigkeit hier jeden
Tag.«
Als ich an die Ecke zur Straße kam, drückte ich mich an die Wand und
schaute mich vorsichtig um.
»Hoffentlich sieht uns keiner. Das ist so peinlich«, murmelte Cassie und
stellte sich mit verschränkten Armen neben mich.
151
»Sei leise«, zischte ich und drückte meine Freundin an die Wand.
Obwohl es bereits nach Mitternacht war, erblickte ich noch überraschend
viele Menschen – vorwiegend Männer, die zuvor in der Gaststätte unserer
Herberge gewesen waren. Der Gasthof war mehr als unscheinbar und
somit perfekt, um uns hier zu verstecken. Sogar, wenn irgendwem
auffallen sollte, dass vier junge Damen und eine ältere Frau hier wohnten,
würde er doch niemals auf die Idee kommen, dass eine von ihnen die
Prinzessin sein könnte. Zwar ahnten die Menschen von Viterra, dass ich
mich irgendwo in der Hauptstadt aufhalten musste, aber sicher stellten sie
sich meine Unterkunft ganz anders vor. Immerhin war diese hier weit
unter königlichem Standard. Nicht, dass ich mich beschweren würde. Es
war sauber und nett.
Ohne uns zu bemerken, wankten Männer an unserer kleinen, dunklen
Gasse vorbei und unterhielten sich dabei laut. Der Gestank nach Alkohol
wehte zu mir herüber und ließ mich schlucken. Bier: ein ekelhaftes Getränk,
das verboten werden sollte. Aber es war tatsächlich eines der wenigen
Laster, die den Einwohnern Viterras zugestanden wurden. Zum Glück! Ich
würde es nicht aushalten, wenn hier Menschen die Luft auch noch mit
glühenden Stängeln verpesten würden. Auch wenn ich zugeben musste,
dass ich mir nicht wirklich etwas darunter vorstellen konnte. Martha war
bei bestimmten Sachen immer auffallend ungenau in ihren Erklärungen.
»Wie wäre es, wenn wir wieder zurückgehen würden? Du hast doch
genug gesehen. Außerdem finde ich es hier ziemlich ungemütlich«,
jammerte Cassie und ging mir damit bereits ein wenig auf die Nerven.
Ich wollte mich gerade zu ihr umdrehen, als ich an der
gegenüberliegenden Wand ein kleines Plakat entdeckte. »Schau doch!
Morgen findet nicht weit von hier ein Maskenball statt. Ich habe schon
davon gehört, dass einige Bürger so etwas privat veranstalten, aber ich war
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noch nie auf solch einem. Wie wäre es, wenn wir diesen besuchen?«
»Woher weißt du, dass es nicht weit weg ist?« Argwöhnisch betrachtete
mich meine Freundin und schob ihre rosigen Lippen vor.
Augenrollend stemmte ich meine Hände in die Hüfte und blickte sie
streng an. »Weil ich auf der Kutschfahrt hierher Martha zugehört habe. Sie
hat uns ein kleineres Museum gezeigt. Und dort auf dem Plakat steht,
dass neben diesem Museum der Ball stattfindet.«
»Aber wieso sollten sie uns reinlassen?«, entgegnete Cassie skeptisch.
»Da steht: freier Einlass für alle Bürger von Viterra«, grinste ich
zufrieden und biss mir voller Vorfreude auf meine Unterlippe.
»Ich fühle, dass es eine schlechte Idee ist«, murmelte Cassie und
seufzte. »Können wir jetzt wenigstens zurückgehen?«
»Sehr gerne. Es gibt schließlich noch viel zu planen.« Freudig hüpfte ich
auf und ab und tänzelte ausgelassen zur Feuertreppe. Vergessen waren alle
Vorsichtsmaßnahmen.
Während ich die Leiter erklomm, hörte ich Cassie hinter mir
aufstöhnen. Meine Freundin verkörperte in perfekter Manier die Tochter
aus gutem Hause. Sie würde alles dafür tun, um mit mir zu tauschen. Und
ich musste zugeben, dass ich bei einer sich bietenden Chance keineswegs
abgeneigt wäre.
***
Als Cassie die Vorhänge unseres Zimmers beiseite zog, weckten mich die
Strahlen der aufgehenden Sonne mit ihrer unbarmherzigen Macht.
Stöhnend rollte ich mich auf den Bauch und drückte das Gesicht in mein
Kissen, das penetrant nach Blumen duftete. Ich hasste es, dass Martha das
ständig machen musste. Überall verteilte sie Blumenparfüm, weil sie
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glaubte, das wäre gut gegen meine aufbrausende Art. So ein Unsinn!
»Lina, wir müssen aufstehen.«
»Geh weg«, murrte ich noch im Halbschlaf.
»Das werde ich nicht. Wenn ich dich nicht aus dem Bett hole, dann wird
es Martha in wenigen Minuten tun. Und du weißt, wie schlecht sie
morgens drauf ist.« Ich spürte Cassies Gewicht auf meinem Bett.
Reflexartig wickelte ich die Decke um meine Beine, damit sie mir diese
nicht wegnehmen konnte.
»Ich will aber noch schlafen.« Meine Stimme war kaum zu hören,
verklang in dem Kissen, doch Cassie verstand mich ganz sicher.
»Steh auf!«, befahl sie resolut. »Du benimmst dich gerade echt wie eine
Prinzessin. Fürchterlich! Schläfst bis zehn Uhr und bist immer noch müde.
Und das alles nur, weil du diesen dummen Ausflug machen wolltest.«
Schlagartig war ich hellwach, richtete mich auf und blickte die nunmehr
erschrockene Cassie an. »Du hast Recht. Wir müssen uns doch noch
überlegen, was wir heute Nacht tragen werden. Ohne Maske können wir
schließlich nicht auf einem Maskenball aufkreuzen. Wie schön, dass
Martha heute sowieso einkaufen gehen wollte.«
Mit einem Mal euphorisch, sprang ich aus dem Bett und lief zum
Schrank hinüber, um mir ein fliederfarbenes Tageskleid überzustreifen,
das perfekt zu meinen dunkelbraunen Haaren passte. Ohne Cassies
überraschtes Gesicht zu beachten, lief ich ins Badezimmer, wusch mir
mein Gesicht und machte mich für den Tag zurecht.
Gerade als ich zurück ins Schlafzimmer kam, wurde die Tür
aufgestoßen. »Evelina, stehen Sie gefälligst auf! Es ist ungehörig für eine
Prinzessin -« Marthas Zetern verstummte augenblicklich, als sie mich
entdeckte. »Oh.«
»Einen schönen guten Morgen, Martha. Ich hoffe ebenfalls, dass Sie gut
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geschlafen haben.« Ich neigte leicht meinen Kopf zur Begrüßung und lief
dann an ihr vorbei in den Flur. Erst einige Sekunden später folgten mir
Cassie und unsere Vertraute Martha, die gleichzeitig auch unsere Lehrerin
war, solange wir hier leben mussten.
Im Frühstückszimmer, das eigens für uns gemietet wurde, saßen
bereits Laura und Melissa. Sie erfüllten die gleiche Aufgabe wie die
Freunde meines Bruders und lebten eigens für den Zweck bei uns, dass sie
irgendwann an der Auswahl teilnehmen konnten. Beide waren Töchter
vom Alten Adel und liebten es, im Palast zu leben. Laura hatte langes
blondes Haar, das in der Sonne wie Gold glänzte, und dazu war sie noch
groß und schlank. Melissas Haare waren fast so dunkel wie meine und
ihre braunen Augen hatten immer einen verträumten Glanz, der meiner
Auffassung nach aber nur daher rührte, dass sie sich ständig vorstellte, wie
sie sich bei unserer Auswahl einen reichen Kerl angeln würde. Überhaupt
schienen es beide Mädchen sehr zu genießen, im Palast zu leben. – Nein,
ich konnte nicht sagen, dass ich sie wirklich mochte, hatte es wohl noch nie
getan.
»Guten Morgen, ihr Lieben«, begrüßte ich sie dennoch freundlich. »Freut
ihr euch auch so auf den Einkaufsbummel? Ich bin heute Morgen mit einer
Vision aufgewacht und brauche dringend eine Maske.« Grinsend lief ich
zum Büfett und bediente mich dort.
»Wozu brauchen Sie denn eine Maske?«, fragte Martha missbilligend.
Sie war direkt hinter mir in das Frühstückszimmer getreten und stellte
sich nun neben mich ans Büfett, ebenso wie Cassie.
Ich wandte mich mit einem breiten Lächeln zu den beiden um,
ignorierte Cassies warnenden Gesichtsausdruck und strahlte unsere
Vertraute an. »Weil ich gern irgendwann einmal einen Maskenball geben
möchte. Und dann muss ich eine Maske haben. Da dies jedoch noch einige
155
Jahre dauern wird, könnte ich mir wenigstens bereits jetzt diese eine kleine
Freude erfüllen.«
Marthas Augen zogen sich zu schmalen Schlitzen zusammen, wie
immer, wenn sie nicht wusste, ob sie mir glauben sollte oder nicht.
Eigentlich sollte mich das stören, tat es aber nicht, weil ich schon so oft
ausgerissen war oder sie angelogen hatte, dass ihr Misstrauen vielleicht
nicht ganz unbegründet schien.
Doch dann nickte sie und ich konnte mir kaum ein erleichtertes
Aufatmen verkneifen.
»Soweit ich gestern erkennen konnte, hat die Schneiderin einige
Masken in ihrem Sortiment, Prinzessin.«
»Dann ist doch alles geklärt. Oh, wie sehr ich mich freue!« Ich tänzelte
zu meinem Platz am Tisch und lächelte Laura und Melissa vergnügt an,
um gute Stimmung zwischen uns bemüht. Sie lächelten höflich zurück,
schienen jedoch überrascht zu sein angesichts meiner Ausgelassenheit.
Verständlich, da ich sonst eher ein Morgenmuffel war, der mit halboffenen
Augen am Tisch saß und keinen Ton von sich gab, bis er endlich seinen
ersten Kaffee getrunken hatte.
Da Martha sich aber gerade neben mich setzte, fragten sie nicht weiter
nach, sondern schauten mich nur mit hochgezogenen Augenbrauen an. Sie
schienen etwas zu ahnen. Doch solange Cassie nichts sagte, würden sie
meinen geheimen Plan auch nicht aufdecken. Ich wollte nicht, dass sie es
wussten. Sie verstanden sich außerordentlich gut mit Martha und
manchmal überkam mich das Gefühl, sie würden ihr über jeden einzelnen
meiner Schritte Bericht erstatten. Allein das war schon ein Grund, ihnen
nicht zu vertrauen.
Der Gedanke daran dämpfte meine zuvor empfundene Euphorie etwas
und ich sackte ein wenig in mich zusammen. Nicht viel natürlich, da mir
156
von klein auf eingetrichtert wurde, wie eine Prinzessin zu gehen, zu stehen
und zu niesen hatte, doch genug, um mir selbst vor Augen zu führen, dass
ich mit meinem Leben mehr als unglücklich war.
Nach außen hin hielt ich meine Fassade aufrecht, lächelte noch immer,
betrieb weiterhin Konversation und aß fröhlich mein Frühstück auf. Tief in
mir drinnen seufzte ich leise.
***
Als das Frühstück beendet war, verließen wir den Gasthof, vor dem bereits
eine unscheinbare Kutsche auf uns wartete. Melissa, Laura und Cassie
redeten durchgehend von den Farben, die ihre neuen Kleider bald haben
würden. Ich hielt mich in dieser Diskussion bewusst zurück, da ich bereits
so ziemlich alles besaß und es für mich einfach nichts Besonderes mehr
war, irgendwelche Kleider zu bestellen. Nichtsdestotrotz fühlte ich mich
heute mehr denn je ausgeschlossen.
Cassie warf mir immer wieder Blicke zu, die mir aufzeigen sollten, wie
unangebracht sie meine Idee vom Maskenball fand. Ich hasste es, wenn sie
das tat. Immer wieder wurde mir eingetrichtert, wie ich mich zu verhalten
hatte, wie sich eine Prinzessin zu benehmen hatte. Ich war ihnen allen zu
aufgeweckt, zu abenteuerlustig und eindeutig zu neugierig. Wenn es nach
meinen Freundinnen, meiner Vertrauten und nach meinen Eltern
gegangen wäre, dürften meine einzigen Interessen das Malen, das
Gesellschaften und mein Aussehen beinhalten. Nicht einmal meine Mutter
hieß es gut, dass ich nach mehr strebte als nach diesen Dingen. Ich
hingegen wollte Reiten, Bogenschießen und Jagen lernen. Doch das war
natürlich alles viel zu gefährlich und viel zu unschicklich. Wie oft ich auch
fragte, sie bläuten mir ein, dass dies keine Beschäftigungen für eine
157
Prinzessin waren.
»Da wären wir. Meine Damen, bitte trödeln Sie nicht so. Wir haben
nicht den ganzen Tag Zeit.« Martha scheuchte uns schon aus der Kutsche,
als diese kaum vor einem Modesalon gehalten hatte.
Ich folgte den anderen hinaus und gemeinsam betraten wir den Salon,
wo uns bereits die Schneiderin erwartete. Gestern erst hatten wir um einen
Termin gebeten und ihn auch sofort erhalten. Obwohl alles streng geheim
sein sollte, schien die Schneiderin bereits zu ahnen, dass wir vier zum
Königshaus gehörten. Es war wohl eben doch ein klein wenig auffällig,
dass wir uns hier verhältnismäßig teure Kleider gönnten, während im
Palast die Auswahl stattfand. So sickerten schnell Gerüchte über unseren
Aufenthalt in der Hauptstadt durch. Natürlich wurde niemals über uns
berichtet. Doch die Bewohner der Hauptstadt tuschelten hinter
vorgehaltener Hand miteinander, wenn sie uns sahen. Nächstes Jahr
würde genau dies ganz Viterra tun. Bei dem Gedanken daran huschte ein
Schauer über meine Arme und ließ mich erzittern. Die Auswahl war meiner
Meinung nach der größte Schwachsinn, doch als traditionsverhaftete
Prinzessin hatte ich keine andere Wahl, als dort mitzumachen.
»Guten Tag. Ich freue mich sehr, dass Sie hier sind«, hieß uns die
Schneiderin freundlich willkommen. »Bitte setzen Sie sich doch, solange
ich die Erste von Ihnen vermesse. Wer möchte mir folgen?« Sie vollführte
eine einladende Geste, wahrscheinlich in der Hoffnung, uns anhand der
gewählten Reihenfolge zu entlocken, wer die Prinzessin wäre.
»Ich möchte gerne.« Laura trat bereitwillig vor, woraufhin sie mit der
Schneiderin hinter einem Vorhang verschwand. Martha setzte sich auf
einen der Stühle, während Cassie und Melissa zwischen den Tischen hin
und her flanierten und sich die Bänder, Knöpfe und Broschen anschauten.
Ich hingegen lief direkt auf die Wand zu, an der die Masken hingen.
158
Gleichermaßen kunstvolle wie grazile Gebilde, die das halbe Gesicht
verdecken würden, strahlten mir entgegen und ließen mein Herz höher
schlagen. Von einer besonders schönen dunklen Maske mit goldenen
Perlen und schwarzer Spitze fühlte ich mich wie magisch angezogen. Sie
würde perfekt zu meinem goldenen Kleid passen, das im Gasthof hing.
Zum Glück hatte Martha mich genötigt eines meiner Ballkleider
mitzunehmen, falls einmal etwas Besonderes anstehen sollte. Entgegen
landläufiger Annahmen wurde ich zur Bescheidenheit erzogen, so dass es
für mich verständlich schien, mich selbst an- und auszuziehen. Genauso
hielt ich es mit meinen Frisuren. Später einmal würde ich eine Zofe haben,
doch erst mit einem passenden Mann an meiner Seite ein Umstand, der
für mich fast noch weniger Sinn ergab als die gesamte Auswahl.
Vorsichtig, fast zärtlich nahm ich die Maske in meine Hände und lief
damit zu Martha. »Diese hätte ich gerne.«
Meine Vertraute musterte sie einen Moment, bevor sie nickte und
meinen Wunsch damit absegnete. »Sehr schön. Suchen Sie sich doch noch
eine bunte Maske aus. Wenn Sie schon kein Kleid möchten, dann wäre
dies doch die perfekte Kleinigkeit, um sich den Tag zu verschönern.«
»Vielen Dank, das werde ich.« Ich lächelte meine Vertraute an und lief
zurück, um mir noch eine Maske auszusuchen. Natürlich hätte ich sie
nicht um Erlaubnis fragen müssen, doch schien es mir unangebracht,
einfach alles zu nehmen, was ich haben wollte.
Als ich mich schließlich für eine weitere Maske entschieden hatte – sie
leuchtete in einem warmen Rot – durchflutete mich wilde Vorfreude,
weshalb ich Cassie und Melissa erst bemerkte, als sie schon neben mir
standen.
»Wofür sind die Masken denn nun wirklich?«, fragte Melissa neugierig
und beugte sich in gespielter Vertrautheit weiter zu mir vor, so dass sich
159
unsere Arme berührten.
Nur mühsam widerstand ich dem Drang, von ihr abzurücken, und hob
nur betont hochmütig meine Nase. »Das hatte ich bereits erklärt.«
»Mach uns doch nichts vor«, winkte Melissa ab. »Du tust nichts ohne
Hintergedanken.« Sie musterte die beiden Masken in meinen Händen
abschätzig und sah dann wieder mich an. Ihr gelang es stets, mehr schlecht
als recht zu verbergen, dass sie mich nicht leiden konnte und mir meinen
Platz als Prinzessin missgönnte.
Hilfesuchend schaute ich zu Cassie hinüber und für einen kurzen
Moment wirkte sie wie zerrissen. Doch schnell festigte sich ihre Miene
wieder und sie lächelte Melissa beschwichtigend an. »Du siehst Gespenster.
Die Maske ist für einen Maskenball in der Zukunft, wie Lina schon sagte.
Ich finde die Idee übrigens ganz reizend. – Schaut, diese werde ich mir
kaufen lassen.« Sie nahm eine weiße Maske mit pinken Verzierungen in
die Hand und zwinkerte mir zu.
Erleichterung machte sich in mir breit. Einen beklemmenden
Augenblick lang hatte ich tatsächlich geglaubt, sie würde mich verraten.
Doch obwohl sie sich in letzter Zeit merklich verändert hatte, traute ich ihr
das eigentlich nicht zu. Immerhin waren wir seit dem Sandkasten beste
Freundinnen, fast so etwas wie Schwestern. Und falls wir uns mal nicht so
gut verstanden, hatten wir uns trotzdem noch gern. Diese Freundschaft
würde sie niemals einfach so wegwerfen. Hoffte ich zumindest …
Ich wandte mich zu Martha um, die nun ebenfalls näher gekommen
war, um die Masken in Augenschein zu nehmen. Bittend sah ich sie an.
»Ich habe vorhin einen Buchladen auf der gegenüberliegenden Straßenseite
entdeckt. Dürfte ich mich dort ein wenig umschauen?«
Sofort wurde ihr Mund zu einer harten Linie, wie immer, wenn sie kurz
davor stand, mir etwas abzuschlagen.
160
»Ich werde auch Eddi bitten, mich zu begleiten«, fügte ich schnell hinzu.
»Nennen Sie ihn bitte Edward«, ermahnte sie mich mit erhobenen
Augenbrauen und seufzte schwer. »Gut, solange er in Ihrer Nähe ist, wird
wohl nichts passieren. Der Stalljunge kann sicher auch alleine auf die
Kutsche aufpassen.«
Freudig strahlte ich sie an, bevor ich mich zu meinen Gefährtinnen
umdrehte. »Möchtet ihr auch mitkommen?«
»Nein, wir müssen doch noch unsere Kleider bestellen«, antwortete
Melissa für Cassie mit. Mit ganz viel Mühe versuchte sie dabei nicht zu
überheblich zu klingen, konnte sich ein Augenrollen jedoch nicht
verkneifen.
»Miss Melissa«, wies Martha sie zurecht, was diese allerdings nur wenig
zu interessieren schien.
»Wie ihr wollt«, lenkte ich ein. »Ich werde bald wieder zurück sein.«
Schnell übergab ich Martha die beiden Masken und ging dann hinaus.
Edward, unser Kutscher mit leicht grauem Haaransatz, einer
schlaksigen Figur und einem sonnengebräuntem Gesicht, sprang sofort
von seinem Platz auf und kam mir entgegen. »Miss Evelina, wie kann ich
Ihnen helfen?«
»Würden Sie mich bitte zum Buchladen begleiten? Sicher kann Luther,
Ihr Lehrling, in der Zwischenzeit auf die Kutsche aufpassen.« Ich lächelte
dem Vierzehnjährigen zu, der sofort errötete. Insgeheim vermutete ich,
dass er ein wenig in mich verliebt war. Vielleicht lag es aber auch nur an
seinem Alter, in dem sich junge Männer generell seltsam gegenüber jungen
Damen verhielten.
Edward folgte meinem Blick stirnrunzelnd, bevor er nickte. »Natürlich.
Luther, pass hier auf, bis Miss Evelina und ich wieder zurück sind!«
Luther nickte hastig und begab sich auf den Platz, wo zuvor noch
161
Edward gesessen hatte. Sein Lehrmeister und ich hingegen überquerten
schnell die Straße und steuerten die Buchhandlung an.
Kurz vor dem Eingang wurde ich langsamer. »Edward, ich benötige Ihre
Hilfe und auch Ihre Verschwiegenheit.«
»Alles, was Sie wünschen.« Er nickte langsam und deutete damit eine
Verneigung an, die er in der Öffentlichkeit nicht vollständig ausführen
durfte. Sogar die Dienerschaft musste unsere Tarnung aufrechterhalten.
Wie ich dieses verlogene Leben hasste!
»Sehr schön.« Ich schaute mich noch einmal vorsichtig um, bevor ich
meine Stimme senkte. »Cassandra und ich möchten heute Nacht einen
Maskenball besuchen und benötigen dafür jemanden, der uns begleitet.
Eine Anstandsdame wäre zwar besser, aber Ihre Anwesenheit dürfte bei
solch einem Ereignis genügen.«
»Aber Miss -«
»Keine Sorge«, suchte ich ihn gleich zu beschwichtigen. »Es ist ein
Maskenball. Niemand wird uns erkennen.« Hastig kramte ich in meiner
kleinen Handtasche nach dem restlichen Geld, das mir zur freien
Verfügung stand. »Hier, während ich in der Buchhandlung bin, wäre es
lieb, wenn Sie schon einmal alle Sachen besorgen könnten, die Sie
brauchen: einen Anzug mitsamt allem Schnickschnack, falls Sie keinen
haben, eine Maske und natürlich angemessene Schuhe. Das müsste hierfür
reichen. Doch beeilen Sie sich bitte, damit Martha Sie nicht noch sieht.«
»Aber Miss Evelina, das kann ich nicht machen. Es widerspricht jedem
Schwur, den ich gegenüber Ihren Eltern geleistet habe«, erklärte er langsam,
nicht geneigt, meinem Wunsch sofort zuzustimmen. Ich wusste jedoch,
dass er nicht lange durchhalten würde. Er kannte mich schon seit meiner
frühen Kindheit. Immer, wenn ich raus aus dem Palast wollte, war ich zu
den Ställen geschlichen und hatte mich dort auf dem Heuboden versteckt.
162
Und stets hatte er mir aus der Klemme geholfen, wenn mich jemand
gesucht hatte.
Tief einatmend umklammerte ich das Geld in meiner Hand, spürte den
leichten Anflug eines schlechten Gewissens. »Ich weiß. Aber bitte tun Sie es
für mich. Niemand wird es je erfahren. Heute ist die erste Auswahl der
Kandidatinnen und alle werden viel zu sehr beschäftigt mit diesem Thema
sein. Bitte, Eddi, Sie wissen, wie schrecklich ich das alles hier finde.«
Seine Augen wurden weicher, er schien sich ebenfalls an die Tage
zurückzubesinnen, an denen ich ständig zu ihm gekommen war und um
Reitstunden gebettelt hatte. Diesen Gefallen musste er mir damals
verwehren, da es ihm strengstens untersagt worden war. Doch vielleicht
würde er mir heute ein wenig Leben ermöglichen?
»Nun gut, mehr als eine halbe Stunde werden wir nicht herausschlagen
können. Ich werde sehen, was ich in der Zeit auftreiben kann. Falls Martha
auftaucht, werden Sie sich jedoch eine gute Ausrede einfallen lassen müssen.«
»Oh, vielen, vielen Dank!« Ich biss mir schnell in die Wange, um nicht
lauthals loszujubeln, und verschwand schnell in der Buchhandlung,
während Eddi sich auf den Weg die Straße hinunter machte.
Ende der Leseprobe
Valentina Fast wurde 1989 geboren und lebt heute im schönen
Münsterland. Beruflich dreht sich bei ihr alles um Zahlen, weshalb sie sich
in ihrer Freizeit zum Ausgleich dem Schreiben widmet. Ihre Leidenschaft
dafür begann mit den Gruselgeschichten in einer Teenie-Zeitschrift und
verrückten Ideen, die erst Ruhe gaben, wenn sie diese aufschrieb. Ihr Debüt
»Royal« entwickelte sich aus einer ursprünglichen Kurzgeschichte zu einer
sechsbändigen Reihe.
163
Drei Fragen an Valentina Fast
© privat
Was hat dich zu deinem neuen Roman inspiriert?
Zu »Princess« hat mich eine ganz einfache Frage inspiriert: Haben die
möglichen Prinzen eigentlich auch Geschwister? Und wenn ja, wo sind die
dann?
So kam es dazu, dass ich schon nach Beenden des Schreibprozesses
noch diverse kleinere Szenen in der Royal-Reihe geändert habe. In einer
dieser Szenen wird erwähnt, dass der Prinz eine Schwester hat. Evelina
Koslow, die gebürtige Prinzessin von Viterra. Da sie ja ein Mitglied des
Königshauses ist, musste es natürlich einen Grund geben, weshalb sie in
der gesamten Reihe nicht ein einziges Mal persönlich erscheint. So habe ich
eine Geschichte zu ihr geschrieben, als ich gerade in einer Pause zwischen
dem Lektorat des ersten und zweiten Bands der Royal-Reihe steckte. In
diesem Roman konnte ich dann noch ganz viele Kleinigkeiten einbauen,
164
die Viterra ausmachen, und einige Geheimnisse aufdecken, die einfach
nicht in die Geschichte rund um Tatyana und die Kandidatinnen der
Königinnenwahl gepasst haben.
Welche Figur aus deinem neuen Roman ist dir besonders ans Herz
gewachsen und warum?
Bei »Princess« ist meine Lieblingsfigur die liebe Evelina. Sie ist eine starke
Persönlichkeit, die ihren Kopf durchsetzen will und nicht immer nur das
tut, was andere von ihr verlangen oder erwarten. Evelina will ihre eigenen
Entscheidungen treffen können und ist nicht die perfekte Prinzessin, die
andere gerne in ihr sehen würden. Sie macht Fehler und steht auch zu
ihnen, was sie für mich ganz besonders sympathisch macht.
Die Prinzessin dieses Romans ist ein wenig hochnäsig, intelligent,
stark, übermütig und manchmal auch ein wenig zu neugierig.
Auf welches Buch in deinem Bücherregal oder auf deinem EReader könntest du niemals verzichten und warum?
Mein absolutes Lieblingsbuch ist »Mieses Karma« von David Safier. Es ist
ein ganz wundervolles Buch, das dazu anregt über das Leben, seine
Einstellung dazu und sein Verhalten gegenüber seinen Mitmenschen
nachzudenken. Ich persönlich habe daraus viel für mich selbst
mitgenommen und weiß nun auch, dass ich niemals einer Ameise etwas
zuleide tun sollte und man seinen Haustieren immer einen Namen geben
sollte.
165
Autoreninterview mit Mirjam H. Hüberli
Mach das Unmögliche möglich!
© Tabea Hüberli
Ein Multitalent: Du schreibst, du zeichnest, du dichtest und oft
dreht sich all dies um deine Romane. In »Ewig und eine Stunde«
findet man deine Zeichnungen sogar im E-Book. Wie gehst du an
neue Geschichten heran und wie wichtig ist dir dabei die
Vielschichtigkeit deiner Talente? Entsteht die Geschichte aus dem
Bild heraus? Oder ist es vielleicht sogar die Poesie, die dich beim
Schreiben inspiriert?
Danke dir!
Ich gehe sehr unterschiedlich an ein neues Werk heran. Mal ist es ein
Bild, mal ein Wort, das etwas in mir auslöst, oder etwas aus dem
166
alltäglichen Leben. Oftmals beschleicht mich der Gedanke, dass nicht ich
die Geschichten finde, sondern die Helden, die ihre Geschichte erzählen
wollen, mich aufsuchen. Bei »Gefrorenes Herz« war es ein Bild, das mich
auf Facebook angesprungen hatte. Um genau zu sein handelte es sich um
eine Vermisstenanzeige und schon begann das Kopfkino zu drehen und
der erste Teaser war innerhalb weniger Minuten zu Papier gebracht. Bei
den »Phoenicrus«-Bänden war es vollkommen anders. Da trug ich über
eine lange Zeit das Gesicht der Heldin mit mir herum, sie hielt sich immer
zwischen Licht und Schatten auf und so entstand die erste Skizze von
Zara. Erst nach und nach kam dann auch ›ihre‹ Geschichte an die
Oberfläche und ist über fünf Jahre gewachsen. Bei meinem aktuellen Werk
»Zerbrochene Seele« ist der Ursprung der Idee aus einer Unterhaltung
heraus entstanden. So darf jedes Werk auf eine vollkommen eigene Weise
entstehen.
In deinen bisher bei Impress erschienen E-Books spielt das Motiv
der Schwestern eine große Rolle. Aurelia muss in »Gefrorenes
Herz« dem Geheimnis ihrer verschwundenen Zwillingsschwester
auf die Spur kommen. Zara begibt sich in »Stadt der Verborgenen«
auf die Suche nach ihrer Schwester Yosi, an die sie sich nicht mal
erinnern kann. Wie kommt es, dass dieses Motiv eine so zentrale
Rolle in deinen Romanen einnimmt?
Tatsächlich war das reiner Zufall. :-) Die Phoenicrus-Trilogie hatte ich
schon zu schreiben begonnen, ehe ich die Geschichte zu »Gefrorenes Herz«
zu Papier gebracht hatte. Und doch war mir immer klar, dass ich eines
Tages ein Buch über das Leben eines Zwillings schreiben möchte, über die
enge Verbundenheit, die intensive Gefühlswelt, das uneingeschränkte
167
Verständnis und vor allem den Gedanken: Was wäre, wenn … Was wäre,
wenn der eine Zwilling plötzlich verschwindet – das ist der zentrale
Handlungsstrang des Jugendthrillers. Dass beide Geschichten (der
Jugendthriller und die Phoenicrus-Trilogie) das Schwesternthema
aufgreifen, wurde mir erst hinterher bewusst. Aber da ich selber ein
Zwilling bin und mir ein Leben ohne sie nicht vorstellen könnte, ist es
sicherlich so, dass die Familie eine sehr wichtige Rolle in meinem Leben
spielt.
Ella, die Protagonistin deines neuen Romans »Zerbrochene Seele«
verliert nicht nur gleich zu Beginn des Romans ihre Mutter, sie hat
auch ihren Vater nie kennengelernt und zu ihren Großeltern bis zu
dem furchtbaren Unfall ihrer Mutter nahezu keinen Kontakt
gehabt. Was hat dich daran gereizt, deine Protagonistin in ein
Umfeld zu schreiben, in dem es überhaupt keine engen und
haltgebenden familiären Bindungen gibt? Fiel es dir dadurch
schwerer, dich in Ella hineinzuversetzen?
Die Idee zu »Zerbrochene Seele« schlummert schon seit Jahren auf meinem
Rechner. Sie entstand aus einer Situation heraus, besser gesagt einer
Unterhaltung mit einer meiner Freundinnen, die den Kick gab. Sie
handelte die Frage ab, ob eine alleinerziehende Mutter das Recht hat, dem
Kind den leiblichen Vater vorzuenthalten oder nicht. Und wenn Ja, unter
welchen Umständen? Das war der Funke, der die Idee in mir entfacht hat.
Im Grunde fällt es mir nie schwer, mich in meine Protagonisten
hineinzuversetzen und da ich Ella schon eine ganze Weile mit mir
herumtrage, kennen wir uns ohnehin schon ziemlich gut.
P.s.: Aber wie das Ende der Geschichte zeigen wird, ist die
168
»Familienbande« (oder was man als diese betiteln kann) dann doch noch
einmal ein Thema, zwar nur am Rande, aber ich habe das Gefühl, dass das
jeder Mensch irgendwie braucht. Familie muss nicht zwingend die
Blutverwandtschaft sein, das können auch enge Bekannte oder die besten
Freundinnen sein.
Leo, dem Ella in »Zerbrochene Seele« näherkommt, hast du als
»gefährliche Mischung« aus gutem Aussehen, faszinierendem
Charakter und dunklen Geheimnissen beschrieben. Für mich allein
schon ein Grund, mir das E-Book sofort auf den Reader zu laden. ;-)
Warum tragen die männlichen Protagonisten in deinen Romanen
oft diese aufregende Mischung aus Gefahr und Faszination in sich?
Trägt nicht jeder Mensch eine Palette aus den verschiedensten und
oftmals auch gegensätzlichen Eigenschaften in sich? ;-)
Natürlich strahlt jeder Held in irgendeiner Art und Weise eine
Faszination auf die Heldin (bzw. Leserin) aus, inwiefern und wie weit sie
diese nachvollziehen kann, ist ganz unterschiedlich. Manchmal ist die
Faszination gepaart mit einer Prise Abenteuer (Ben) oder einer Portion
Unbehagen (Milo) oder aber auch einer Mischung aus Hilfsbereitschaft
und bitterer Ehrlichkeit (Sevan). Was schlussendlich der Leser in die
jeweilige Figur hineininterpretiert, ist letztlich ihm selber überlassen, was
die Welt der Bücher ja auch so einzigartig macht.
Du bist nicht nur künstlerisch vielseitig, sondern widmest dich
auch unterschiedlichen Genres. »Zerbrochene Seele« ist wie dein
Impress-Debüt »Gefrorenes Herz« ein gefühlvoller und
romantischer Jugendthriller, die Phoenicrus-Trilogie aber eine
169
Fantasy-Reihe. Wie wählst du aus, welchem Genre du dich als
Nächstes widmest? Und gibt es unterschiedliche Kriterien, die du
aufgrund des Genres beim Schreiben beachtest?
Bauchgefühl. :-) Ich liebe die Vielfältigkeit beider Genres. Die grenzenlose
Möglichkeit des Fantasy-Genres und die menschlichen Abgründe des
Thriller-Genres. Wenn ich eine Weile mit dem einen beschäftigt bin, sehne
ich mich nach dem anderen und umgekehrt.
Beim Schreiben der Fantasy-Geschichten ist es das Erfinden neuer
Elemente, neuer Namen und der Reiz, Welten zu erschaffen, die zuvor noch
nicht existierten. Mach das Unmögliche möglich, lautet nicht selten mein
Motto. Beim Thriller ist es eine ganz andere Energie. Ab dem ersten Wort
schreibe ich mit einer ständigen Spannung (oftmals auch mit einer
ungeheuren Anspannung!), die mich den ganzen Roman über gefangen
nimmt und bis zur letzten Zeile antreibt.
Kannst du denn schon verraten, auf was sich deine Fans als Nächstes
freuen dürfen?
Tatsächlich ist schon das nächste Werk in Planung. Vermutlich ist es keine
große Überraschung, dass nach dem romantischen Jugendthriller wieder
eine Fantasy-Reihe folgen wird. »REBELL – Gläserner Zorn« lautet der
Arbeitstitel des ersten Bands. Er wird bereits im Herbst 2016 bei Impress
erscheinen. Ihr könnt also gespannt sein. :-)
Wir bedanken uns für das tolle Interview bei Mirjam H. Hüberli, der
Impress-Autorin von »Zerbrochene Seele«, »Gefrorenes Herz« und der
Phoenicrus-Trilogie!
Interviewerin: Nicole Boske
170
171
Ann-Kathrin Wolf: »William Grimm
1.5«
Eine Kurzgeschichte, die dich hinter die Fassade von
William Grimm aus der Märchenherz-Reihe blicken lässt
»Da lag es und war so schön, daß er die Augen nicht abwenden
konnte, und er bückte sich und gab ihm einen Kuß. Wie er es mit
dem Kuß berührt hatte, schlug Dornröschen die Augen auf,
erwachte, und blickte ihn ganz freundlich an.«
(Aus dem Märchen »Dornröschen«)
Er rannte und wusste, dass er nicht schnell genug war. Schnee wirbelte auf und
beinahe wäre er auf dem nassen Untergrund ausgerutscht. Der Dolch flog so
schnell und sicher durch die Luft. Mit all seinen Sinnen nahm er den Dolch wahr
und Verzweiflung schnürte ihm die Kehle zu. Panisch streckte er die Hand nach
ihr aus und wollte sie zur Seite stoßen, doch der Dolch bohrte sich mit einem
dumpfen Geräusch in ihre Brust. Augenblicklich färbte sich ihr weißes Kleid rot.
Er sah mit Entsetzen, wie sie erstarrte und ungläubig auf ihre Brust hinab
sah, aus der der Dolch hervorragte. Dann wurde ihr Blick dumpf und ihr Körper
sackte leblos zusammen. Sein Herz setzte für einen Moment aus und etwas in ihm
zerbrach. Es war ein Schmerz, wie er ihn noch nie gefühlt hatte, und ein Schrei
kroch seine Kehle empor …
»Alex!«
Schweißgebadet fuhr Will hoch, die Hand noch immer nach ihr
ausgestreckt. Sein Herz pochte wild und seine Atmung ging schwer. Es
dauerte einen Augenblick, bis er wusste, wo er sich befand. Keuchend
172
wischte er sich die feuchte Stirn und ließ langsam seinen Arm sinken.
Mühsam setzte Will sich auf. Er war in seinem Wohnzimmer, umringt von
dem üblichen Chaos und Durcheinander. Nichts deutete darauf hin, dass
etwas anders war.
»Es war bloß ein Traum«, murmelte er und schloss die Augen. Müde
massierte er sich seine pochenden Schläfen. Noch einmal atmete Will tief
durch und streckte dann seine steifen Glieder. Die Ereignisse der Nacht
zehrten an ihm und ließen ihn auch im Schlaf nicht zur Ruhe kommen. Zu
viel war geschehen.
Langsam ging er zum Fenster und zog die Gardinen zur Seite. Er starrte
hinaus in die noch dunkle Nacht. Ein sanfter Schimmer in der Ferne
kündigte den nahenden Morgen an. Ein neuer Morgen, der alles verändern
würde. Ein Morgen, der kein Zurück forderte.
Ohne darüber nachzudenken, öffnete er das Fenster und sofort schlug
ihm die eisige Nachtluft ins Gesicht. Die Kühle linderte seine pochenden
Kopfschmerzen. Gierig sog Will die Luft ein, doch sein Herz wollte sich nur
allmählich beruhigen lassen. Auf den Fensterrahmen gestützt, starrte er in
die Nacht hinaus. Nichts rührte sich und niemand war auf der Straße zu
sehen. Wie spät mochte es wohl sein? Er konnte nicht lange geschlafen
haben.
Müde ließ er seinen Blick weiter die Straße hinab wandern und
versuchte den Traum abzuschütteln, der sich so hartnäckig in ihm verbiss.
Erst vor ein paar Stunden hatte er Alex von der Lichtung fortbringen
können. Seitdem lag sie in seinem Bett und schlief friedlich. So friedlich sie
nach diesen Ereignissen eben schlafen konnte.
Wills Kiefer mahlten und seine Knöchel traten weiß hervor. Nein, diese
Nacht würde ihn ewig verfolgen. Wie hatte er so versagen können? Als
Jüngster der Bruderschaft hatte er eine verantwortungsvolle Aufgabe
173
übertragen bekommen und war kläglich gescheitert. Dabei war es seine
Chance gewesen, allen zu beweisen, dass er mehr war als nur der Sohn
seines Vaters. Der Sohn eines Versagers.
Wieder und wieder blitzte die Erinnerung daran auf, wie der Dolch in
Alex' Brust eindrang und ihr weißes Kleid in Sekundenschnelle rot färbte.
Ununterbrochen sah er Alex' leeren Blick. Ihren zusammensackenden
Körper.
Ein Schauer lief Will über den Rücken, der nichts mit der frischen
Nachtluft zu tun hatte.
Wie reglos sie dagelegen hatte. Das Haar zerzaust und das Gesicht
zerschunden. Verprügelt von dem Ungeheuer, das sich ihr Vater nannte
und sie …
Wütend schlug Will das Fenster wieder zu. Er tigerte unablässig in
seinem kleinen Zimmer auf und ab. Was wäre passiert, wenn er nicht
rechtzeitig bei ihr gewesen wäre?
Plötzlich lachte er kalt auf und setzte sich unruhig auf die Couch.
So weit hätte es gar nicht kommen müssen, du Narr, schalt er sich selbst. Du
hättest einfach bei Alex bleiben sollen, so, wie es deine Aufgabe ist.
Was für eine Nacht. Erschöpft ließ er sich zurückfallen und rieb sich
über das Gesicht. Heliondros war aufgebrochen, nachdem sie Alex sicher
im Bett verstaut hatten. Die Bruderschaft des Schneewittchens musste
unterrichtet werden und das weitere Vorgehen sollte sorgfältig geplant
sein. Edmund Grimm, sein Onkel und derzeitiges Oberhaupt der
Bruderschaft, würde wissen, was zu tun war. Ohne es zurückhalten zu
können, knirschte Will mit den Zähnen. Sein Onkel würde ihn streng
zurechtweisen für sein Versagen. Das wusste Will und er hatte es verdient.
Seine Gedanken wanderten wieder zurück zu dem Sammler und eine
eisige Kälte kroch ihm erneut über den Rücken. Wie konnte jemand nur zu
174
so viel Grausamkeit fähig sein? Noch immer hörte er diese kalte,
wahnsinnige Stimme in seinem Kopf: »Niemals gestattet die Bruderschaft eine
Beziehung zwischen einem Wächter und seinem Schützling, und schon gar nicht
mit einer Reinsten.«
Will ballte seine Hände zu Fäusten und knirschte abermals vor Wut mit
den Zähnen. Als ob er das nicht selber wüsste.
»Ich würde alles für ihn tun.«
Alex' Stimme war so ruhig gewesen und in diesem Moment wirkte sie
stärker als alle, denen Will je zuvor begegnet war. Sie hatte ihn überrascht
und überwältigt. In diesem Moment hatte sie alles für ihn bedeutet, und
dann war der Moment vorbei gewesen. So schnell, wie er gekommen war.
Will hatte versucht seine Gefühle zu verbergen, seit er Alex das erste Mal
gesehen hatte. Gefühle standen einem Wächter der Bruderschaft nur im
Weg und ließen ihn keine rationalen Gedanken fassen. Verzweifelt hatte er
sich daran geklammert, in allem, was sie tat, etwas Schlechtes zu sehen.
Vor Heliondros hatte Will über ihre Naivität und ihre Durchschnittlichkeit
gewettert. Über ihr Äußeres hatte er sich ausgelassen und alles
darangesetzt, kein gutes Haar an ihr zu lassen.
Jetzt trat ein breites Lächeln auf Wills Gesicht und eine angenehme
Wärme machte sich in seinem Magen breit. Dabei ließ nichts an ihr ihn
kalt. Ihr schönes Gesicht mit den dunkelblauen, ernsten Augen hatte ihn
gleich im ersten Moment in seinen Bann gezogen. Immer, wenn sie
verlegen war, schlich sich eine leichte Röte auf ihre Wangen, was sie noch
schöner machte. Alex' ernste und ehrliche Art war ihm auf Anhieb
sympathisch gewesen, aber es war ihr großes Herz, das ihn Alex
vollkommen für sich hatte einnehmen lassen. So viel Sanftheit und
Mitgefühl war ihm noch nie zuvor begegnet.
Er schloss die Augen und gab sich ganz seinen Gefühlen hin. In diesem
175
Augenblick war er nicht William Grimm, der Wächter, sondern einfach nur
Will.
Alexandra hatte alles für ihn geopfert. Sie hatte das Kostbarste
hergegeben, das sie besaß: ihr Leben.
Will öffnete die Augen und raufte sich die Haare. Sein Atem ging jetzt
wieder ruhig und gleichmäßig.
Ruhelos stand er auf und durchquerte leise den Flur. An der Tür zu
seinem Schlafzimmer blieb er stehen und lauschte. Nur das gleichmäßige
Atmen von Alex war zu hören. Ohne ein Geräusch zu verursachen, öffnete
er die Tür und trat ein. Alex lag ganz friedlich in seinem Bett, das lange
dunkelbraune Haar mit dem roten Schimmer wie einen Fächer um sich
herum ausgebreitet.
Sein Herz machte einen Satz bei ihrem Anblick und er trat unruhig von
einem Bein auf das andere. Schließlich gab er sich einen Ruck, betrat das
Zimmer und setzte sich vorsichtig auf die Kante des Bettes. Ganz leicht
gab die Matratze unter seinem Gewicht nach. Er hielt den Atem an, als Alex
sich regte und in seine Richtung rollte. Dunkle Augenringe zierten ihr
Gesicht und hoben die weiße Haut darunter noch mehr hervor.
»Weiß wie Schnee. Rot wie Blut. Schwarz wie Ebenholz«, flüsterte Will
ganz leise, den Blick weiterhin fest auf Alex gerichtet. Einen Moment
lauschte er nur auf das gleichmäßige Atmen seines Schützlings. Dann
streckte er zögerlich die Hand nach ihr aus und strich zärtlich mit den
Fingerknöcheln über ihre Wange. Wie weich ihre Haut war. Sein Blick blieb
an ihren leicht geöffneten Lippen hängen.
Auf der Lichtung hatte er sich erlaubt, seinen Gefühlen freien Lauf zu
lassen. Er hatte geglaubt, dass alles verloren war. Durch den Schnee auf der
Lichtung schien ihre helle Haut noch weißer zu schimmern. Will erinnerte
sich, wie er ihr regloses Gesicht betrachtet und sich ein letztes Mal zu ihr
176
hinab gebeugt hatte, um sanft ihre Lippen zu küssen.
Es ein Abschied gewesen, in den er all seine Wut, seine Trauer und seine
Liebe gelegt hatte. Es war ihm vorgekommen, als würde der Moment
endlos dauern, und die Welt hatte stillgestanden.
Auch jetzt berührte Will seine Lippen. Was ist passiert, nachdem ich dich
geküsst habe?
Als sich ihre dunklen Augen langsam wieder geöffnet hatten, war es das
Schönste gewesen, was er je gesehen hatte. Zu gerne hätte er ihren warmen
Körper nie wieder losgelassen und ihn für immer vor allem Zorn der Welt
verborgen. Ihr regelmäßiger Herzschlag und ihr warmer Atem an seinem
Hals waren alles gewesen, was gezählt hatte, und doch …
Alex flüsterte etwas im Schlaf und drehte sich. Dabei rutschte das TShirt, das er ihr geliehen hatte, über ihre linke Schulter und entblößte eine
feine, schimmernde Narbe. Vorsichtig beugte sich Will weiter vor und
streckte seine Finger danach aus. Zögernd verharrten sie in der Luft, bis er
sie wieder zurückzog. Dort, wo der Dolch des Sammlers ihre Brust
durchstoßen hatte, war nichts weiter zu sehen als eine feine weiße Linie.
Wills Herz schlug schneller, als ihm plötzlich klar wurde, dass er es in
dieser Nacht endgültig an sie verloren hatte.
»Will … Will«, murmelte Alex im Schlaf und rutschte dabei mit ihrem
ganzen Körper dichter an ihn heran. Als hätte sie gespürt, dass er ihr so nah
war.
Morgen schon, wenn Heliondros alles mit Edmund besprochen hatte,
würde Will mit ihr zusammen zur Bruderschaft aufbrechen. Er würde an
Alex' Seite stehen als ihr Wächter. Will kannte seinen Platz in der Welt.
Seinen Platz in der Bruderschaft und neben Alex. Niemals wieder durfte er
sich seinen Gefühlen hingeben. Seine Loyalität durfte stets einzig der
Bruderschaft gehören und sein Onkel würde ihn nur allzu gerne daran
177
erinnern.
Ein Schauer lief ihm über den Rücken bei dem Gedanken daran, was
Edmund Grimm mit Alex machen würde, falls sie sich an den Kuss
erinnerte und davon erzählte. Will starrte auf die schlafende Alex herunter
und fuhr sich mit einer Hand durch die dunklen Haare.
Edmund hatte ihn zu den Whites mit den Worten geschickt, dass dies
die schwächste und unreinste Blutlinie der Ahnin des Schneewittchens sei.
Sein Onkel hatte nicht angenommen, dass Alex jemals die prophezeite
Reinste sein könnte. Ein ungutes Gefühl beschlich Will, dass Edmund es
auch jetzt nicht gutheißen würde.
Seine Gefühle erneut tief in seinem Inneren zu verbergen, würde Wills
ganze Willenskraft kosten, das wusste er. Es würde ihn langsam von innen
heraus zerreißen und wahrscheinlich würde er sich nie wieder davon
erholen. Inständig hoffte Will, dass Alex sich nicht an den Kuss erinnerte.
Das würde vieles erleichtern und es war besser, wenn nur er diese Gefühle
hatte.
Ein kleiner egoistischer Teil von ihm wünschte sich, dass Alex ebenso
empfand wie er, aber fast sofort übernahm die Stimme des Wächters die
Oberhand und verfluchte ihn für seinen Egoismus.
Alex' Weg war ihr vorherbestimmt und in Grimms Manor wartete bereits
jemand auf sie. Jemand, der ihr geben konnte, was ihr zustand, und den
die Bruderschaft akzeptierte.
Ganz langsam beugte er sich vor und atmete dabei ihren süßen Duft
ein. Sie roch nach Blumen, nach Gras. Sie roch nach dem Leben selbst und
dieser Duft betörte ihn. Behutsam neigte er sich weiter hinab und legte
dann zärtlich seine Lippen auf die ihren, die weich waren und nach
Sehnsucht schmeckten. Ganz vorsichtig küsste er sie und zog sich genauso
vorsichtig wieder zurück. Alex murmelte etwas im Schlaf und seufzte dann
178
mit einem Lächeln auf den Lippen. Sie wirkte glücklich in diesem
Augenblick und er versuchte, sich dieses Bild von ihr einzuprägen, es sich
tief in seinem Inneren zu bewahren.
Auch Will lächelte und stand dann auf. Mit schwerem Herzen verließ er
den Raum. Im Türrahmen blieb er stehen und blickte noch einmal zurück
zum Bett. Seine Hand ballte sich zur Faust.
Es musste reichen, ihr Wächter zu sein.
Es musste einfach.
Ende
Ann-Kathrin Wolf, geboren 1989 in Neumünster, lebt heute im schönen
Schleswig-Holstein. Nach ihrer Ausbildung zur Erzieherin, in der sie das
Märchenerzählen für sich entdeckte, begann sie an der Fachhochschule Kiel
das Studium »Soziale Arbeit«. Neben Zeichnen, Lesen, ihren beiden Katzen
und Kaffeetrinken, ist das Schreiben schon immer eine große Leidenschaft
von ihr gewesen.
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