Wolfgang Huber Was treibt uns an? Zukunftsaufgaben von Diakonie

Wolfgang Huber
Was treibt uns an?
Zukunftsaufgaben von Diakonie und Sozialwirtschaft
Bad Blankenburg, 10. Juni 2015
Was treibt uns an? Entweder die Furcht oder die Hoffnung erweisen
sich als treibende Kraft unseres Lebens. Der antike Mythos berichtet
von Prometheus, der den Menschen das Feuer brachte. Das bleibt
nicht ohne Folgen. Damit ist die Zeit zu Ende, in der die Menschen
weder etwas zu befürchten noch etwas zu hoffen hatten. Nun wird
Pandora geschaffen, die in ihrer Büchse alle Plagen auf die Erde
bringt, zu denen als letztes die Hoffnung hinzugefügt wird.
Prometheus, der „vorher Bedenkende“ warnt davor, diese Büchse
zu öffnen. Sein Bruder Epimetheus dagegen, der „nachher
Bedenkende“, hebt den Deckel von der Büchse der Pandora; die
Goldene Zeit, die keine Leiden kennt, ist zu Ende. Der Mythos
meint, der Deckel sei wieder verschlossen worden, bevor die
Hoffnung aus der Büchse entweichen konnte. Doch die Menschen,
die von den Plagen des Lebens betroffen sind, wissen nun auch von
der Hoffnung. Was die Zukunft bringen wird, ist ungewiss; aber sie
haben die Möglichkeit, sich angesichts dieser Ungewissheit zu
entscheiden. Entweder sie lassen sich von den Plagen überwältigen
und verfallen in Furcht; oder sie orientieren sich an der Hoffnung
und nehmen die Gestaltung ihres Lebens in die Hand.
Der antike Mythos macht deutlich: Das Unbekannte an der
Zukunft ist ein starker Antrieb unseres Handelns. Es kommt
allerdings darauf an, ob wir uns dabei von der Furcht überwältigen
2
lassen oder ob die Hoffnung uns bestimmt, ob wir dem Tod die
Herrschaft über unsere Gedanken einräumen oder auf die Zukunft
des
Lebens
vertrauen,
über
den eigenen Tod hinaus,
in
Verantwortung für das Leben kommender Generationen.
Gemessen am Mythos des Prometheus hat der christliche
Glaube eine eindeutige Perspektive in unsere Kultur eingebracht. Er
nimmt die Verletzlichkeit der Menschen wahr; er achtet nicht nur auf
die Starken, sondern ebenso auf die Hilfsbedürftigen. Er weiß: wir
alle sind angewiesen auf die Hilfe anderer; aber wir können jedes
Leben im Licht der Hoffnung sehen, deren Unterpfand die
Auferweckung Jesu von den Toten ist. Die Hoffnung und die aus ihr
gespeiste Solidarität mit den leidenden und verletzlichen Menschen
ist der entscheidende Antrieb. Diese Hoffnung ist stärker als die
Angst. Sie ist der Antrieb diakonischen Handelns und sozialer
Zuwendung zu den Mitmenschen.
Angst vor den Gefährdungen des Lebens oder Hoffnung für
das Leben – so heißt die Alternative. In Deutschland kann man
gelegentlich den Eindruck gewinnen, hier regiere die Furcht vor dem
Erfolg.
Alle
Nachbarn
beneiden
unser
Land
um
seine
wirtschaftlichen Erfolge und seine vergleichsweise günstigen
Zukunftsaussichten.
Trotzdem
legt
sich
ein
Mehltau
der
Ängstlichkeit über das Land. Alle großen Themen werden unter dem
Blickwinkel möglichen Misslingens betrachtet: Die Energiewende
wird zu teuer, die höhere Lebenserwartung erzeugt einen
Pflegenotstand,
unzureichende
Bildung
produziert
einen
Facharbeitermangel, den Segnungen des Exportüberschusses ist
auch nicht auf Dauer zu trauen. Wahrscheinlich muss man ziemlich
3
weit in der Weltgeschichte herumsuchen, um ein Land zu finden,
dem es so gut ging und das so wenig Hoffnung ausstrahlte.
Was treibt uns an – Angst oder Hoffnung? Hoffnung lässt sich
nicht politisch verordnen. Sie kann nur in der Mitte der Gesellschaft
Wurzel schlagen, dort, wo Empathie die Menschen zusammenführt,
dort,
wo
das
Eintreten
für
künftige
Generationen
sich
in
nachhaltigem Handeln niederschlägt, dort, wo Pluralität nicht als
Bedrohung, sondern als Bereicherung wahrgenommen wird. Das
Eintreten
für
die
gleiche
Würde
jedes
Menschen,
die
Aufmerksamkeit für die Verletzlichkeit der Mitmenschen, der Einsatz
für Kinder wie für Alte: in solchem Handeln kann sich zeigen, ob
Furcht oder Hoffnung uns antreibt. In dieser Alternative kann man
nicht unentschieden bleiben. Man muss Partei ergreifen. Tritt man
auf die Seite der Hoffnung, so bedeutet das nicht, die Befürchtungen
gering
zu
schätzen,
die
uns
umtreiben:
Klimawandel,
Umweltbelastungen, weltweite Gewalt, demographischer Wandel.
Doch es kommt darauf an, in welches Licht man diese
Herausforderungen rückt – ins Licht der Resignation oder der
Zuversicht. An meiner Parteinahme in diesem Streit will ich keinen
Zweifel lassen.
Die Hoffnung treibt uns an. So heißt mein Leitgedanke. Unter
diesem Leitgedanken frage ich nach Zukunftsaufgaben für Diakonie
und Sozialwirtschaft in Thüringen und über Thüringen hinaus – denn
in Thüringen kennen Sie alle sich besser aus als ich. Fünf
Schlüsselthemen in der Debatte über Diakonie und Sozialwirtschaft
will ich aufgreifen. Sie werden – so ist das heute – alle mit
Fremdworten
bezeichnet:
Solidarität,
Subsidiarität,
Inklusion,
Digitalisierung, Ökonomisierung. Ich will mich bemühen, jeweils den
4
harten
Kern
hinter
diesen
Schlagworten
zu
ermitteln,
um
herauszufinden, wie mit diesen Herausforderungen umzugehen ist.
1. Solidarität
Eine
der
kürzesten
Definitionen
bezeichnet
Solidarität
als
„Gesinnung einer Gemeinschaft mit starker innerer Verbundenheit“,
als ein „Zusammengehörigkeitsgefühl, das praktisch werden will“
(Alfred Vierkandt). Solidarität beruht auf Freiwilligkeit; in ihr nehmen
Mitmenschlichkeit und Nächstenliebe aus freien Stücken Gestalt an.
Schon in solchen Versuchen, näher zu bezeichnen, worum es in der
Solidarität
geht,
zeigt
Zusammengehörigkeitsgefühl
sich
sich,
dass
in
unterschiedlichen
zwei
dieses
Gestalten ausprägen kann: als Zusammengehörigkeit einer Gruppe,
die
sich
von
anderen
Gruppen
abgrenzt,
oder
als
Zusammengehörigkeit ohne Ausgrenzung. Die Solidarität von
Interessengruppen grenzt sich ab. Auch dann, wenn die betreffende
Gruppe
fest
davon
überzeugt
ist,
verallgemeinerungsfähige
Interessen zu vertreten, tritt sie doch zugleich als Kontrahent
derjenigen auf, denen gegenüber die Interessen der Gruppe
durchgesetzt werden sollen. Die Solidarität der Arbeitnehmer und ihr
möglichst geschlossenes Auftreten in Tarifkonflikten sind ein
Beispiel für diesen Aspekt der Solidarität. Uns allen steht vor Augen,
was
geschieht,
wenn
die
gewerkschaftliche
Vertretung
der
Arbeitnehmerinteressen zerfasert.
Diakonische Solidarität und andere Formen sozialer Solidarität
stehen für den anderen Aspekt des Solidaritätsprinzips. Diese
Solidarität stützt sich auf ein Menschenbild, das die unantastbare
Würde des Menschen mit der Einsicht verbindet, dass der Mensch
5
ein soziales, ja ein sozial bedürftiges Wesen ist. Nicht nur von
Menschen in bestimmten Lebenslagen – in Krankheit, Behinderung
oder Alter – , sondern von allen Menschen gilt, dass sie verletzlich
sind und gerade in ihrer Vulnerabilität als Ebenbilder Gottes Achtung
und Wertschätzung verdienen.
Das Bild vom Menschen, das ich mit wenigen Strichen
gezeichnet habe, ist in den letzten Jahrzehnten von einem
individualistischen
Menschenbild
überlagert
worden.
Selbstbestimmung wurde mit Selbstbezüglichkeit gleichgesetzt, die
Person des Einzelnen wurde nicht in ihren sozialen Bezügen
wahrgenommen, sondern Individualisierung galt als Kennzeichen
von Autonomie. Freiheit sollte sich darin zeigen, dass sie gegen die
Freiheit des andern abgesichert wurde. Der Staat sollte die nötige
Sicherheit dafür schaffen, dass jeder „seines eigenen Glückes
Schmied“ sein konnte. Auch helfendes Handeln wurde nicht als
Ausdruck von Solidarität, sondern als soziale Dienstleistung
angesehen. Das Klima wurde nicht nur an der Kasse des
Supermarkts, sondern auch auf der Pflegestation kühl; an manchen
unerfüllbaren
Erwartungen
von
Angehörigen
gegenüber
den
Pflegekräften zeigt sich dieser Übergang von einer gemeinsam
wahrgenommenen
Verantwortung
zu
der
erwarteten
und
eingeplanten Dienstleistung.
Dass Menschen in Pflegeberufen nicht als Vorreiter von
Solidarität, sondern aus Dienstleister angesehen werden, zeigt sich
in der beschämend geringen gesellschaftlichen Reputation, die
Pflegekräften nach wie vor zuerkannt wird. Natürlich kommt dieser
Mangel
an
angemessener
Wertschätzung
auch
in
dem
Entlohnungsgefüge in der Pflege zum Ausdruck. Als ich schon vor
6
Jahren in eine Diskussion darüber hineingezogen wurde, ob man
einen Mindestlohn für die Pflege einführen müsse, hat mich das tief
beschämt. Ich hatte das Gefühl, unserer ganzen Gesellschaft, damit
aber auch mir selber, werde damit ein Spiegel vorgehalten, in dem
wir mit einem ziemlich hässlichen, nämlich selbstbezogenen und
unsolidarischen Gesicht zu erkennen waren. Die Zukunftsaufgaben
im dramatischen Alterswandel der Gesellschaft lassen sich aber nur
dann lösen, wenn Pflegekräfte nicht als Dienstleister, sondern als
Partnerinnen und Partner in der gemeinsam wahrgenommenen
Verantwortung für pflegebedürftige Menschen wahrgenommen
werden. Denn weder die Angehörigen noch die Pflegekräfte werden
diese Aufgabe in Zukunft allein lösen können. Angehörige – zum
Beispiel Töchter oder Schwiegertöchter – werden oft in einem Alter
von sechzig bis siebzig Jahren für die Pflege der Elterngeneration in
Anspruch genommen. In einer Lebensphase, in der sie einen
Rentenanspruch erworben haben, werden sie mit dieser körperlich
wie emotional anstrengenden Aufgabe konfrontiert. Sie sind ihr ohne
Hilfe in aller Regel nicht gewachsen. Aber auch die professionelle
Tätigkeit von Pflegekräften ist auf Ergänzung angelegt. Die Zeit, die
sie einem einzelnen Patienten widmen können, ist begrenzt. Der
Tag dieses Patienten aber ist lang. Warten ist die Haupttätigkeit
pflegebedürftiger Menschen. Je weniger soziale Kontakte sie haben,
desto länger warten sie.
Der Beistand für Menschen, die der Hilfe bedürfen, ist ein
elementarer Maßstab für die Humanität einer Gesellschaft. Die
Reichweite der Solidarität war in früheren Phasen der Geschichte
auf überschaubare Gemeinschaften konzentriert: die Familie, den
Clan, das Dorf, den Stamm. Später weitete sich die Solidarität – also
7
das Gefühl der Zusammengehörigkeit mitsamt seinen praktischen
Folgen – auf die Nation aus, teilweise mit nationalistischen Folgen.
Reziproke Solidarität – also ein Patriotismus, der das eigene Land
so liebt wie andere das ihre – hatte es, gerade in Europa, über lange
Zeit schwer. Folgen dieser Schwierigkeit können wir in vielen
politischen Zusammenhängen beobachten – in einer EuropaMüdigkeit ebenso wie in der Weigerung, aus der Globalisierung der
Weltwirtschaft auch weltbürgerliche Folgen zu ziehen.
Die
Vorbehalte
gegenüber
globaler
Solidarität
klingen
einleuchtend. Es wäre eine Überforderung jedes einzelnen, jeder
Gruppe und auch jeder Nation, sich die Fürsorge für alle Menschen
auf dem Globus auf die Fahne zu schreiben, heute also für 7 und
bald schon für 9 Milliarden Menschen. Die Zahl der Menschen, für
die wir als einzelne, aber auch als Einrichtungen der Diakonie oder
der Sozialwirtschaft sorgen können, ist begrenzt. Wer für alle sorgen
will, sorgt für niemanden richtig. Aber so wenig wir für alle sorgen
können, so sehr können wir uns doch um alle sorgen. Diese Sorge
um alle gründet in der Einsicht, dass jede und jeder gleich wichtig
ist. Jeweils an unserem Ort ist die Sorge für bestimmte Menschen
vordringlich; aber wichtig sind alle. Auch wenn wir nicht für alle
sorgen
können,
sorgen
wir
uns
doch
um
sie.
Die
Lebensbedingungen, unter denen sie existieren, sind uns nicht
gleichgültig. Wenn sie sich zur Flucht aus ihrer Heimat genötigt
sehen, geht uns das an. Wenn sie Schlepperbanden in die Hände
fallen, müssen wir ebenso auf politische Hilfsmaßnahmen drängen,
wie wenn sie als Flüchtlinge bei uns Beistand suchen. Der soziale
Beistand, den Bürgerinnen und Bürger Deutschlands finden, und die
Fürsorge für Menschen, die vor unhaltbaren Lebensumständen die
8
Flucht
ergreifen,
kann
man
insofern
nicht
gegeneinander
ausspielen. Die Evangelische Kirche in Deutschland hat daraus eine
weittragende
Folgerung
gezogen,
indem
sie
Diakonie
und
Entwicklung als zwei zusammengehörige Aspekte in der sozialen
Verantwortung
der
Kirche
miteinander
verbunden
hat.
Das
„Evangelische Werk für Diakonie und Entwicklung“ bringt das zum
Ausdruck.
Im
Schicksal
von
Flüchtlingen
kommt
uns
diese
Zusammengehörigkeit nahe. Wenn die Turnhalle gegenüber der
Kirche zur Flüchtlingsunterkunft wird, kann die Gemeinde, die sich
zum Gottesdienst versammelt, nicht anders, als die Flüchtlinge auf
der anderen Straßenseite willkommen zu heißen. Andernfalls würde
das Gebet, in dem das Schicksal von Flüchtlingen zur Sprache
gebracht wird, hohl. Denn man kann nicht Gott die Lage der
Flüchtlinge ans Herz legen, aber es sich selbst nicht zu Herzen
nehmen. Die Sorge für den nahen Nächsten und die Sorge um den
fernen Nächsten gehören unlöslich zusammen. Wenn dies in
Diakonie und Sozialwirtschaft exemplarisch deutlich wird – auch
durch die Aufnahme und Beheimatung von Flüchtlingen in sozialen
und diakonischen Einrichtungen – , wird damit ein wirksamer Beitrag
zur Veränderung des gesellschaftlichen Klimas geleistet. Der
Umgang
mit
Flüchtlingen
ist
der
Lackmus-Test
für
das
Selbstverständnis einer offenen Gesellschaft.
2. Subsidiarität
Subsidiarität
ist
seit
bald
einem
halben
Jahrhundert
ein
Schlüsselbegriff für die Organisation helfenden Handelns in
Deutschland. Das System der Subsidiarität, das durch ein Urteil des
9
Bundesverfassungsgerichts von 1967, also vor bald fünfzig Jahren,
feierlich bestätigt wurde, nimmt einen wichtigen Grundgedanken der
katholischen Soziallehre auf. Er besagt, dass die größere Einheit in
der staatlichen Gemeinschaft nur dann für die Erfüllung einer
Aufgabe zuständig ist, wenn die Einzelnen oder die kleineren
Einheiten dazu aus eigener Kraft nicht in der Lage sind. Damit wird
den
gesellschaftlichen
Gruppierungen
ein
Vorrang
vor
den
staatlichen Akteuren und den kleineren politischen Einheiten der
Vorrang vor den größeren Einheiten zuerkannt.
Inzwischen ist dieser Umgang mit dem Subsidiaritätsprinzip
durch die Übernahme des Begriffs in die Ordnung der Europäischen
Gemeinschaft überlagert worden. Jeder weiß, dass die Behauptung
von einem Vorrang der kleineren Gemeinschaften dabei schon
längst nicht mehr der Realität entspricht. Man ist vielmehr froh,
wenn man das Gefühl hat, dass bestimmte Aufgaben jeweils auf der
sachlich angemessenen Ebene wahrgenommen werden (sei sie nun
höher oder niedriger), wenn also die Zuständigkeiten vernünftig
geregelt sind. Ähnliches gilt auch für soziale Tätigkeiten. In diesem
Bereich ist das Subsidiaritätsprinzip vor allem dadurch einem
grundsätzlichen Wandel ausgesetzt worden, dass neben die
freigemeinnützigen Träger und die staatlichen Akteure als dritte
Größe privatwirtschaftliche Anbieter getreten sind. Damit wird dieser
Bereich
insofern
marktförmig
organisiert,
als
unterschiedlich
organisierte Anbieter miteinander konkurrieren. Das war politisch
gewollt, weil man von dieser Konkurrenz höhere Kosteneffizienz
erhoffte. Freilich verbindet sich das mit einer Tendenz dazu, dass
die erfolgreichen Anbieter größer werden und der Gedanke der
Subsidiarität auch in dieser Hinsicht Risse erhält.
10
Das
Prinzip der
Subsidiarität
wurde
im
Rahmen
der
katholischen Soziallehre zuerst im Jahr 1931 formuliert. In dieser
Zeit ging man noch von einem ständisch gestuften Gesellschaftsbild
aus, in das der Gedanke der immer größer und umfassender
werdenden Einheiten eingezeichnet wurde. Heute betrachten wir die
Gesellschaft
unter
dem
Gesichtspunkt
ihrer
funktionalen
Differenzierung; wir verstehen die verschiedenen gesellschaftlichen
Akteure stärker im Sinn eines komplexen Netzwerks, nicht einer
gestuften Hierarchie. Diese Akzentverschiebung muss auch in die
Vorstellung von Subsidiarität aufgenommen werden. Das kann am
ehesten dann geschehen, wenn man den Gedanken vom Vorrang
nichtstaatlicher Akteure vor der staatlichen Aufgabenerfüllung
festhält, dabei aber nicht so sehr die kleineren, sondern die von ihrer
Kompetenz her am ehesten geeigneten Akteure mit einem Vorrang
versieht. Die Wirtschaftlichkeit des Handelns wird dabei ohne
Zweifel als ein Beurteilungselement eine Rolle spielen. Das klingt im
Begriff der Sozialwirtschaft an, der sich in einem erstaunlichen
Tempo durchgesetzt hat.
Aber auch unter solchen veränderten Bedingungen bleibt die
Anerkennung der Subsidiarität unerlässlich. Sie verbindet sich mit
handfesten praktischen Konsequenzen. Zu ihnen gehört, dass die
Bindung an arbeitsrechtliche Vereinbarungen, sei es in Form von
Tarifverträgen oder in Gestalt des Dritten Wegs, anerkannt wird und
nicht zum Wettbewerbsnachteil gereichen darf. Hier ist eine
Angleichung der Tarifvereinbarungen im privatwirtschaftlichen und
im gemeinnützigen Bereich anzustreben; zu erwarten ist ebenso,
dass die Kommunen die Tarifbindung anerkennen und nicht einen
Trägerwechsel anstreben, um kommunale Zuschüsse – etwa im
11
Kita-Bereich – senken zu können. Nach meiner Überzeugung geht
es heute also nicht um eine Ablösung, sondern um eine zeitgemäße
Weiterentwicklung der Subsidiarität.
3. Inklusion
Der Begriff der Inklusion wird heute im Anschluss an die
Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen von 2006 vor
allem mit der Forderung verbunden, Menschen mit körperlichen,
seelischen oder geistigen Beeinträchtigungen gesellschaftliche
Teilhabe in möglichst umfassender Weise zu ermöglichen. Die
Integration von Behinderten in die allgemeinbildenden Schulen, die
Barrierefreiheit
des
Gesundheitswesens
sowie
der
behindertengerechte Zugang zu öffentlichen Einrichtungen sind
herausragende Beispiele für diese Aufgabe der Inklusion. Deren
Umfang kann man sich exemplarisch an der Berechnung deutlich
machen,
die
von
der
„Aktion
Mensch“
zu
den
letzten
Bundestagswahlen im Jahr 2013 angestellt wurden. Geschätzt
wurden sieben Millionen schwerbehinderte Wahlberechtigte, zu
denen
21
Millionen
Menschen
mit
schlechter
Lesefähigkeit
hinzukamen.
Diakonie und Bildungswesen sind Bereiche, in denen sich die
Aufgabe der Inklusion besonders deutlich zeigt. Deshalb kann man
in diesen Bereichen auch besonders klar erkennen, dass jeder
Versuch zum Scheitern verurteilt ist, der die Inklusion zum Nulltarif
haben will oder von ihr gar Einsparpotenziale erwartet. Zugleich
muss die Inklusion radikaler gedacht werden, als es oft geschieht.
Denn sie bezieht sich nicht nur auf den klassischen Bereich der
Behindertenhilfe. Sondern sie muss die Jugendhilfe wie die
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Altenhilfe einschließen. Im einen wie im anderen Fall muss die
Vorstellung von Betreuung durch Segregation überdacht werden.
Wie gewaltig die Aufgabe ist, kann man sich am Tempo des
demographischen
Wandels
deutlich
machen.
Dessen
dramatischster Aspekt ist nicht, wie in der Regel behauptet, die
„Überalterung“ der deutschen Wohnbevölkerung, sondern deren
„Unterjüngung“.
Der
Anteil
der
unter
Achtzehnjährigen
beispielsweise sinkt nach jetzigen Berechnungen von 22 Prozent im
Jahr 1998 auf 15 Prozent im Jahr 2050. Die sinkende Geburtenrate
beschleunigt diese Tendenz. In den vergangenen fünf Jahren
wurden nach einer neuen Studie in Deutschland im Durchschnitt 8,3
Kinder je 1000 Einwohner geboren. Zum Vergleich will ich nicht
afrikanische Länder wie Niger oder Uganda mit Geburtenraten von
50 Kindern je 1000 Einwohner, sondern vergleichbare europäische
Länder heranziehen. In Großbritannien und Frankreich wurden im
gleichen Zeitraum pro Jahr 12,7 Kinder je 1000 Einwohner geboren,
also das Eineinhalbfache. Die Entwicklung in Deutschland kann also
nicht einfach mit dem Prozess gesellschaftlicher Modernisierung
oder mit der wirtschaftlichen Lage erklärt werden. Sie hat vielmehr
zuallererst mit dem gesellschaftlichen Ethos und sodann auch mit
der gesellschaftlichen Wertschätzung der Familie zu tun. Die
Debatte über die rechtliche Gleichstellung gleichgeschlechtlicher
Lebensgemeinschaften
mit
der
Ehe
–
in
der
eine
hohe
Wertschätzung der Ehe zum Ausdruck kommt – würde meines
Erachtens viel überzeugender ausfallen, wenn ihr ein klares
Eintreten für den hohen Wert von Ehe und Familie zu Grunde läge.
Dann stünde Deutschland vielleicht nicht mehr im Wettbewerb mit
Japan um das Schlusslicht in der Kinderquote. In den letzten fünf
13
Jahren hat Deutschland den letzten Platz von Japan übernommen –
8,3 zu 8,4 Kinder pro Jahr auf tausend Einwohner.
Inklusion heißt also in meinem Verständnis: Kinder in der Mitte
der Gesellschaft ankommen lassen, sie aufnehmen und fördern.
Nach wie vor gilt dabei übrigens, dass bei der Förderung von
Kindern mit Beeinträchtigungen Integration und Differenzierung im
pädagogisch erforderlichen Maß miteinander verbunden werden
müssen. Der Betreuungsaufwand, der damit einhergeht, steht
gerade in diakonisch getragenen Schulen deutlich vor Augen.
Gemessen daran erscheint mir die deutsche Debatte über die
Inklusion in den Schulen, pauschal gesprochen, als vereinfachend.
Vor allem ist die Verknüpfung mit Rationalisierungsmaßnahmen, die
aus sinkenden Schülerzahlen abgeleitet werden, das Gegenteil
dessen, was um der langfristigen Inklusion willen notwendig ist:
nämlich die situationsadäquate und ausreichende Betreuung und
die notwendige Differenzierung der pädagogischen Angebote. Wenn
die Rationalisierungsmaßnahmen sich zusätzlich zu Lasten der
freien Träger auswirken, wie ich selbst das beispielhaft in
Brandenburg erlebe, wie es Ihnen aber auch aus Thüringen vertraut
ist, dann haben wir ein Knäuel von Problemen vor uns, das dringend
entwirrt werden muss. Aufrechterhalten der Trägervielfalt auch im
Schulbereich und ausreichende Binnendifferenzierung im Rahmen
der Inklusion scheinen mir dabei Eckpunkte zu sein, die vorrangige
Beachtung verdienen.
Inklusion reicht bis ans andere Ende der menschlichen
Lebensgeschichte. Schon längst haben wir durchschaut, dass die
Fähigkeit alter Menschen, sich am Leben zu beteiligen, mit dem
Maß zusammenhängt, in dem sie am Leben teilhaben. Ihre
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Fähigkeit, das Leben zu meistern, setzt voraus, dass andere sie
dabei unterstützen und sie dazu ermuntern. Einsamkeit lähmt nicht
nur
die
soziale
Kompetenz,
sondern
beeinträchtigt
die
Selbständigkeit über das unumgängliche Maß hinaus. Einen
eigenen Lebensraum zu haben, in ein Netzwerk eingebunden zu
sein und die nötige Unterstützung zu finden, sind drei Dimensionen,
die im Alter zusammengehören. Die Verknüpfung unterstützender
Netzwerke mit professioneller Pflege wird immer wichtiger. Die
Verbindung
zwischen
Nachbarschaft
ehrenamtlichem
Engagement
in
der
und professioneller Betreuung wird zu einer
Schlüsselaufgabe
diakonischer
und
sozialwirtschaftlicher
Einrichtungen, die im Bereich der Altenpflege tätig sind. Daran, wie
hier neue Initiativen gelingen und ansteckend wirken, hängt die
Fähigkeit unserer Gesellschaft, dem Alterswandel gerecht zu
werden. Die Integration Alter und Hochbetagter ist genauso ein
Prüfstein für den inklusiven Charakter unserer Gesellschaft wie die
Inklusion Behinderter.
4. Digitalisierung
„Alles, was passiert, muss bekannt sein.“ So heißt der Leitsatz von
Eamon Bailey, einem der drei Leiter des „Circle“, der legendären
Internet-Firma
in Dave
Eggers
gleichnamigem
Roman.
Zur
Illustration dieses Prinzips scheut Bailey vor einem persönlichen
Beispiel nicht zurück. Er schildert, wie er sein Gewissen im Blick auf
die Tatsache beruhigt hat, dass seine 81-jährige Mutter allein lebt,
auch nachdem sie sich bei einem Sturz die Hüfte gebrochen hat.
Während ihres Mittagsschlafs schlich Bailey sich in das Haus der
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Mutter und installierte in allen Zimmern Kameras. Das musste
heimlich geschehen, denn die Mutter hätte sich möglicherweise
gegen dieses Vorhaben gewehrt. Glücklicherweise sind diese
Kameras so klein, dass sie keinen Verdacht schöpfen wird. Der
großen Runde der Mitarbeiter führt Bailey zur Veranschaulichung
aktuelle Bilder aus dem Haus seiner Mutter vor; denn er kann die
Kameras, die er installiert hat – zum Beispiel auch an allen
Urlaubsorten, zwischen denen er wählen will – jederzeit abrufen. So
sehen alle an der Präsentation Beteiligten, was sich gerade im Haus
von Baileys Mutter abspielt. In dem Augenblick, in dem er sie vor
aller Augen aufspürt, tappt die alte Dame, notdürftig in ein Badetuch
gehüllt, durch einen leeren Flur. Allgemeines Gelächter macht sich
breit. Das Bild wird ausgeblendet. Bailey kommentiert nur: „Ich weiß,
dass sie wohlauf ist, und das lässt mich ruhig schlafen. Transparenz
bringt Seelenfrieden.“
Mit Günther Oetinger, dem deutschen EU-Kommissar, hatte
ich unlängst einen Disput über digitale Zukunftsvisionen. Er verwies
auf die Möglichkeit, dass eines Tages alle relevanten Daten meines
Autos an den Autohersteller geliefert werden; so kann er mein Auto
rechtzeitig zurückrufen, sobald er durch die digitale Information
einen Haarriss im Zylinder entdeckt. Ich erwiderte, trotz dieser
Möglichkeiten würde ich es nicht begrüßen, wenn er dank eines so
perfekten Informationssystems einen Haarriss in meiner Ehe
entdeckte – selbst dann, wenn er sich zutrauen würde, die Ehe dank
einer so frühzeitigen Information noch rechtzeitig zu kitten.
Die digitale Revolution 4.0 wird viele Bereiche unseres Lebens
erfassen: Industrie und Arbeit, Politik und Medien, Freizeit und
Sport. Auch die Diakonie wird von ihr ergriffen werden. Wer diese
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Veränderungen nicht nur hinnehmen, sondern aktiv gestalten will,
muss früh beginnen. Armbänder mit Vitaldaten oder intelligente,
selbststeuernde Rollatoren eröffnen verheißungsvolle Aussichten;
aber der Missbrauch lauert vor der Tür. Es wird darauf ankommen,
anzuwenden, was der Würde des Menschen, seiner Lebensqualität
und seinem persönlichen Schutz dient, und abzuwehren, was die
Integrität der Person verletzt, die Privatsphäre antastet und in ein
System totaler Überwachung mündet. Diakonie 4.0 ist nach meiner
Überzeugung ein vordringliches Thema für eine verantwortliche
Gestaltung der Diakonie und aller Formen pflegenden und
helfenden Handelns.
5. Ökonomisierung
Die größte Herausforderung aber liegt in der marktförmigen
Umgestaltung
des
Sozialstaats
–
auch
im
Rahmen
der
europäischen Wettbewerbsordnung – und der damit verbundenen
durchgängigen Ökonomisierung des Sozialen.
Dieser Umstellungsprozess bringt nicht nur organisatorische
Auswirkungen für diakonische Träger und andere Akteure am
Sozialmarkt mit sich. Ebenso einschneidend sind die persönlichen
Konsequenzen für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Umso mehr
begrüße ich die Ansätze dazu, die diakonischen Aufgaben von der
Situation der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter her zu betrachten und
beispielsweise unter dem Leitbegriff einer „geistesgegenwärtigen
Pflege“ die Pflegenden in ihrer personalen Identität neu in den Blick
zu
rücken:
Kommunikation
Selbstsorge,
werden
aus
Spiritualität
dieser
und
Perspektive
Existenzielle
zu
Säulen
diakonischer Pflege erklärt. Doch eine solche Konzentration auf
17
diejenigen, die pflegen oder in anderen diakonischen Berufen den
Menschen beistehen, und ihre menschliche Identität kann natürlich
nicht von den Rahmenbedingungen absehen, unter denen dieses
Menschsein sich entfalten kann oder vom Verkümmern bedroht ist.
Zu diesen Rahmenbedingungen gehört, dass in Erziehung,
Pflege und Hauswirtschaft noch immer keine angemessenen Löhne
gezahlt werden. Und auch die Lobby für diese Berufe ist noch immer
zu schwach. Das hat zur Folge, dass die verabredeten Pflegesätze
und anderen Entgelte der Kostenträger zu niedrig und dadurch die
Entlohnungen zu gering, die Zeittakte dagegen oft unerträglich hoch
sind.
Das ist zu meinem großen Bedauern nur allzu wahr. Für eine
„erweiterte große Körperpflege“, für Aufstehen, Toilettengang,
Zähneputzen, Duschen und Ankleiden und vielleicht auch für ein
kurzes Gespräch nebenher steht heute dieselbe Summe zur
Verfügung, die man braucht, um seine Autoreifen wechseln zu
lassen. Dass der Pflegeberuf es nicht unter die ersten 25 Plätze der
Berufswünsche schafft, dass die Verweildauer in diesem Beruf sehr
kurz ist, dass die Pflege ein Kandidat für den Mindestlohn ist, muss
für Kirche und Diakonie, aber auch für alle anderen Anbieter ein
Alarmsignal sein.
Dieses Alarmsignal sollte nach meiner Überzeugung gerade
nicht dazu führen, dass wir die Motive der Liebe zum Mitmenschen
und des Dienstes am Nächsten auf die Müllhalde der Geschichte
werfen. Der Dienst am Mitmenschen ist nach wie vor eine
herausragende Frucht christlicher Nächstenliebe. Er ist um der
Menschlichkeit
unserer
Gesellschaft
willen
unentbehrlich.
verdient angemessene Würdigung und ist seines Lohnes wert.
Er
18
Im Zentrum allen diakonischen und sozialen Handelns steht
die Bereitschaft, sich dem hilfebedürftigen Nächsten unabhängig
von seiner eigenen Leistungsfähigkeit zuzuwenden und ihn als von
Gott geliebte Person wahrzunehmen. Sie besteht deshalb im Widerspruch gegen alle Tendenzen, die Schwächeren in der Gesellschaft
zu Menschen zweiter Klasse zu machen. Sie orientiert sich an der
gleichen Würde jeder menschlichen Person, an ihrem Wohlergehen,
ihrer Gesundheit, ihrer Identität. Güter stehen im Zentrum dieses
Handelns, keine Handelswaren. Dieses Handeln richtet sich auf
Güter, die man für Geld nicht kaufen kann. Dass auch solche Güter
in handelbare Waren umgedeutet werden, ist der dramatischste
Aspekt in der Vermarktlichung des Denkens, die sich in den
vergangenen Jahrzehnten vollzogen hat. In faszinierender Weise
hat der amerikanische Philosoph Michael J. Sandel beschriebenm,
welche Folgen sich ergeben, wenn man das, was sich für Geld nicht
kaufen kann, dennoch zu einer handelbaren Ware macht.
Freundschaft, Liebe, Respekt sind Beispiele für eine solche
Umwertung der Werte.
Ein öffentliches Gut, das sich mit einem allgemeinen
Lebensrisiko verbindet, kann nicht zur marktgängigen Handelsware
werden. Der Umgang mit diesem Gut muss sich an der gleichen
Würde jedes Menschen orientieren. Der Zugang zu den nach dem
Stand
der
medizinischen
Wissenschaft
für
den
Patienten
notwendigen Hilfen darf sich nicht an dessen Zahlungsfähigkeit
orientieren; sie muss sich vielmehr an seiner Bedürftigkeit
ausrichten.
Die
Ausgangspunkt.
Vulnerabilität
Die
des
Verletzlichkeit
Menschen
des
bildet
Menschen
ruft
den
im
Mitmenschen das Gefühl des Erbarmens, des Mitgefühls, der
19
Empathie wach. Dass darin der entscheidende Grund für alles
Handeln in Gesundheitseinrichtungen und Gesundheitsberufen liegt,
darf
nicht
verdeckt
und verdrängt
werden.
Strukturen und
Kommunikationsprozesse im Gesundheitswesen müssen für dieses
grundlegende Motiv transparent sein. Die Professionalität in den
Gesundheitsberufen
und
die
wirtschaftliche
Effizienz
der
Gesundheitseinrichtungen stehen im Dienst an Einzelnen und
Gruppen, die in ihrer Verletzlichkeit auf Hilfe angewiesen sind.
Soziale Berufe beziehen ihren Rang daraus, dass sie sich auf
nicht handelbare Güter beziehen: auf Würde, Integrität, Respekt,
Gesundheit, Leidensfähigkeit, Empathie, Vertrauen. Gerade wegen
dieses Bezugs auf nicht handelbare Güter müssen sie in der
Gesellschaft Anerkennung und Wertschätzung finden. Die einzelnen
Einrichtungen müssen für diese Berufe Bedingungen schaffen, die
stark an den Bedürfnissen und dem jeweils erreichbaren Maß an
Eigenständigkeit der zu Pflegenden orientiert sind. Sie müssen dafür
Sorge tragen, dass die Mitarbeitenden auch in ihrer persönlichen
Lebens- und Arbeitssituation die Wertschätzung erfahren, ohne die
sie ihre Aufgabe nicht wahrnehmen können.
In der modernen Modularisierung der Pflege ist die lange hoch
gehaltene Beziehungspflege in den Hintergrund getreten. Nach
einer einschlägigen Studie sind es die Reinigungskräfte, die die
meiste Zeit am Krankenbett eines schwerst mehrfachbehinderten
Menschen
verbringen.
Und
das,
obwohl
es
in
der
Pflegewissenschaft vor allem um das Individuum, um Interaktion
und Beziehung geht. Doch die Kräfte der Zuwendung waren in den
letzten Jahren gering geschätzt – zu gering.
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Nur durch Veränderungen in diesen Bereichen werden
Menschen neu dazu motiviert, helfende Berufe zu ergreifen und in
ihnen
zu
bleiben.
Angesichts
Pflegebedürftigen
gilt
Pflegekräfte
gewinnen,
zu
es
der
jedoch
wachsenden
nicht
sondern
nur,
auch
Zahl
von
professionelle
familiäre
und
nachbarschaftliche Netze zu stärken. Das Pflegesetting der Zukunft
lebt aus einer guten Kooperation zwischen Pflegefachkräften,
Angehörigen und Freiwilligen – ob in stationären Einrichtungen oder
im Wohnquartier. Auch in der Arbeit mit jungen Behinderten müssen
angesichts der Bemühungen um Inklusion professionelle und
lebensweltliche
Hilfen
verschränkt
werden.
Pflegende
und
Sozialarbeiter sind damit neben oder gerade in ihrer Professionalität
Kommunikatoren und Gemeinwesenarbeiter –
Menschen, die
Beziehungsnetze knüpfen, in denen andere gut aufgehoben sind.
Die Hospiz- und Palliative-Care-Bewegung macht beispielhaft
deutlich, dass Professionelle allein ein Beziehungsnetz nicht
aufrechterhalten können. Es braucht Engagierte im Team, in der
Nachbarschaft, in Familie und Freundeskreis. Wo das gelingt, ist es
auch wieder möglich, dass Menschen da sterben, wo sie gelebt
haben – in ihren eigenen vier Wänden, wie es sich die Mehrheit der
Menschen wünscht. Oder, wenn das Pflegeheim der richtige Ort ist,
dort auch mit Unterstützung aus der Familie, dem Freundeskreis
oder der Nachbarschaft. Die stillschweigende Aussonderung der
Gebrechlichen und Sterbenden aus der Gesellschaft der Fitten und
Leistungsstarken muss einer neuen Integration weichen. Das
herrschende Menschenbild, das im Wesentlichen auf Autonomie
und Tätigsein ausgerichtet ist, muss um die Aspekte der
Angewiesenheit und Verletzlichkeit ergänzt werden. Und die Pflege,
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die in den letzten Jahren auf ihre körperlichen Aspekte reduziert
worden ist, muss wieder in ihren sozialen, psychischen und
spirituellen Dimensionen gesehen werden. Nur dann werden
Menschen in sozialen Berufen in der Berufsausübung die Motive
wieder erkennen können, deretwegen sie diese Berufe gewählt
haben. Darauf aber kommt es an, wenn wir den Zukunftsaufgaben
in Diakonie und Sozialwirtschaft gerecht werden wollen.