DIE STOWE HOUSE LIVIA

Das Porträt:
Kaiserin Livia als
Diva Augusta
Livia war als Mitbegründerin der julisch-claudischen Dynastie zweifellos eine der mächtigsten Frauen des römischen Kaiserreichs. Ihren Sohn aus erster Ehe, Tiberius,
liess sie von Augustus adoptieren, womit sie ihm den Weg
zur Thronfolge ebnete. Sie war nicht nur Mutter des 2.
römischen Kaisers, sondern darüber hinaus auch Grossmutter, Urgrossmutter und sogar Ur-Urgrossmutter der
drei weiteren Folgekaiser Caligula, Claudius und Nero.
Charakteristisch für Liviaporträts sind das runde und
unten spitz zulaufende Gesicht, der schmallippige Mund
sowie die grossen weit auseinanderliegenden Augen.
Die einfache Anlage der Haare – sie sind wie bei griechischen Göttinnenstatuen in der Mitte gescheitelt und in
Wellen zu den Seiten geführt – ist typisch für ihre Porträts, die von ihr seit dem Tod des Augustus im Jahre 14
n.Chr. geschaffen wurden. Damals wurde Livia mit dem
Namen Iulia Augusta geehrt und zur Priesterin des zum
Gott erklärten Augustus (Divus Augustus) erhoben. Die
meisten Liviaporträts mit Mittelscheitelfrisur entstanden
aber erst nach 42 n.Chr., also 13 Jahre nach ihrem eigenen
Tod, nachdem ihr Enkel Claudius sie als Diva Augusta vergöttlichen liess. In diesen postumen Porträts trägt Livia
über dem Stirnhaar ein Diadem oder einen Kranz. In der
Fachliteratur werden diese Köpfe unter der Bezeichnung
‹Ceres-Typus› zusammengefasst, weil zahlreiche Köpfe
dieser Art Statuen aufgesetzt sind, welche der Augustuswitwe die Gestalt der Fruchtbarkeitsgöttin Ceres verleihen. Auch die Stowe-Livia dürfen wir als Ceres deuten.
Darauf weist der Ährenkranz hin, während das zu ergänzende Zepter das matronale Wesen dieser Herrin über die
Erde unterstreicht.
Auswahl an Literatur:
Frederik Poulsen, in: Paul Arndt, Walter Amelung, Photographische Einzelaufnahmen antiker Skulpturen (München 1941) Nr. 3088-3090
Tomasz Mikocki, Sub specie deae. Les impératrices et princesses romaines
assimilées à des déesses, Supplementi alla RdA 14 (Roma 1995) 156 Nr. 34
Taf. 3,34a-c
DIE STOWE
HOUSE LIVIA
Leihgabe Hans und Sonja Humbel
Kaiserin Livia Drusilla (58 v.Chr. – 29. n.Chr.) als Diva Augusta.
Datierung: um 50 n.Chr.
Fundort: Rom oder Umgebung. Stand ursprünglich vermutlich
zusammen mit einer gleichzeitig erworbenen Augustus-Statue
in einer kaiserlichen Kultstätte.
Frühere Aufstellungsorte: Von 1774 bis 1848 in Stowe House
(Buckinghamshire), von 1848 bis 1957 in Lowther Castle (Cumbria).
Seit 2015 im Antikenmuseum Basel (Lg. Sonja und Hans Humbel).
Material: Stark geäderter (griechischer?) Marmor.
Höhe: 206 cm.
Die Sammlungsgeschichte:
Von Rom nach England,
von England in die Schweiz
George Grenville, der spätere 1st Marquess of Buckinghamshire, kaufte die Statue höchstwahrscheinlich 1774 anlässlich seiner Italienreise in Rom beim Maler und Kunsthändler Gavin Hamilton an, um sie in der Familien-Residenz
Stowe House aufzustellen. Der damals 21-jährige Grenville
war ein Spross der adligen Familie Temple-Grenville, die
seit dem späten 17. Jh. in der Nähe von Buckingham, nordöstlich von Oxford, ein grosses parkähnliches Anwesen
mit einem pompösen Palast und zahlreichen weiteren
Bauten und Monumenten bewohnte. Das Herrenhaus
wurde mehrere Male erweitert und bekam 1775 seine
endgültige Form mit klassizistischer Fassadenfront. Die
Temple-Grenville-Familie sollte später zwei Herzöge
(Dukes of Buckinghamshire) stellen. Aber bereits unter
dem 2. Duke (Richard Plantagenet Grenville) verarmte die
Familie aufgrund dessen verschwenderischen Lebensstils
derart, dass 1848 das gesamte Mobiliar und alle Kunstwerke versteigert werden mussten – darunter auch die
rund 15 römischen Statuen, die prominent den sog. Marble
Saloon und die Eingangsloggia von Stowe House zierten.
Ralf Winkes, Livia, Octavia, Julia: Porträts und Darstellungen
(Louvain-la-Neuve 1995) 44. 128f. Kat.-Nr. 53 mit Abb.
Elizabeth Bartman, Portraits of Livia. Imaging the Imperial Woman in
Augustan Rome (Cambridge 1999) 134 mit Anm. 75; 162 Kat.-Nr. 38, Abb. 144
Annetta Alexandridis, Die Frauen des römischen Kaiserhauses. Eine Untersuchung ihrer bildlichen Darstellung von Livia bis Iulia Domna (Mainz am
Rhein 2004) 124 Kat.-Nr. 22 Taf. 7.2
Brendan Cassidy, «Gavin Hamilton, Thomas Pitt and Statues for Stowe»,
The Burlington Magazine 146 Nr. 1221, Dec. 2004, 806-814 (bes. S. 809)
Christie’s London, Antiquities, Wednesday 15 April 2015, Lot 122, S. 88-91
Porträt von
George Nugent-Temple-Grenville,
1st Marquess of Buckingham (1753-1813),
Gemälde von Thomas Gainsborough,
späte 1780-er Jahre
Der ovale Kuppelsaal (The Marble Saloon) mit
der Livia Statue, die hier von 1788 bis 1832 in
der Nische links vom Durchgang gestanden hat.
Aquarell eines unbekannten Zeichners kurz vor
1809, Buckinghamshire County Museum
Die Ergänzungen aus dem
18. Jahrhundert
An dieser Auktion erwarb William 2nd Earl of Lonsdale die
Liviastatue für seine Residenz, das Lowther Castle in Cumbria:
Die Livia-Statue tauschte ihr klassizistisches Herrenhaus
gegen ein neugotisches Schloss. 1957 gelangte sie in den
Besitz einer anderen Familie in Cumbria. Bei diesen neuen
Besitzern stand sie während fast 60 Jahren im Freien, bis
sie 2015 für die Christie‘s Antikenauktion vom 15. April 2015
nach London geliefert wurde. Dort bekamen den Zuschlag
Sonja und Hans Humbel, die sie umgehend dem Antikenmuseum als Leihgabe zur Verfügung stellten!
Wir danken dem Leihgeberpaar sehr herzlich für diese Grosszügigkeit und
freuen uns, dass dieses bedeutende Werk in unserem Antikenmuseum
öffentlich zugänglich gemacht werden kann.
Lowther Castle bei Cumbria: Innenansicht vom
Sculpture Room (die Liviastatue ist rechts gut erkennbar).
aus: S.C. Hall – Llewellynn Jewitt, «The Stately Homes
of England», The Art Journal, New Series vol. 2, 1876,
S. 357. 359
Die Statue bei der Aufstellung im
Park der neuen Besitzerfamilie in
Cumbria nach dem Verkauf aus
dem Lowther Castle.
Foto aus dem Jahre 1957
Die Bedeutung der Statue:
Ein Denkmal europäischer
Antikenrezeption
Die Stowe-Livia ist nur nicht ein wichtiges archäologisches
Zeugnis, sondern als früherer Teil einer pompösen Ausstattung eines adligen Anwesens auch ein überragendes
Beispiel für die Antikenbegeisterung des 18. und 19. Jhs.
Aus dieser Leidenschaft gingen nicht nur in England, sondern
überall in Europa bedeutende Antikensammlungen und
Museen hervor. Bei der Verbreitung antiker Bildwerke in
Europa spielten gerade adlige Engländer wie die Grenvilles
eine wichtige Vorreiterrolle. Es gehörte zur vornehmen
Pflicht eines jungen Milords, einmal im Leben eine Italienreise, die sog. «Grand Tour» zu unternehmen. (Auf diesen
Begriff geht übrigens die moderne Bezeichnung ‹Tourist›
zurück). Dabei erwarben die adligen Reisenden, sofern
sich Gelegenheit bot und sie auf ein entsprechendes
Vermögen zurückgreifen konnten, antike Kunstwerke, um
sie nach England zu verfrachten.
Im Stowe House wurde die marmorne Statue zusammen
mit weiteren antiken Statuen prominent aufgestellt: Von
1774 bis 1788 und dann wieder ab 1832 stand sie in einer
Nische in der südlichen Loggia, dazwischen im eigens für
die Skulpturensammlung erbauten ovalen Kuppelsaal, dem
Marble Saloon.
Während langer Zeit wurde die Statue irrtümlicherweise
als Kaiserin Agrippina in Gestalt einer Muse bezeichnet.
Erst im 20. Jh. erkannten Archäologen in ihr die Kaiserin
Livia. Auch stellt die Porträtstatue die Kaiserin nicht als
Muse dar, sondern vermutlich als die Göttin Ceres. Die Fehlinterpretation als Muse hängt mit der Restaurierung zusammen: Die Marmorstatue wurde – wie im 18. Jahrhundert
üblich – stark rekonstruiert und ergänzt. Bei der Wiederansetzung des abgebrochenen aber noch erhaltenen rechten
Oberarmes wurde dieser zu stark nach oben und nach links
ausgedreht. Ursprünglich musste die Kaiserin ihre Rechte
etwas weniger hoch und etwas mehr vom Kopf entfernt
auf einem Zepter aufgestützt haben. Bei der seit der
Restaurierung bestehenden Armposition würde das zu
ergänzende Zepter schräg vor dem ganzen Vorderkörper
abgestellt sein. Wohl deswegen «kürzte» der Restaurator
das ursprüngliche Zepter kurzerhand zu einer Buchrolle,
in­dem er den Stumpf bestehen liess und nur die Bruchstellen begradigte. Aus einer ursprünglichen matronalen
Gottheit mit Zepter wurde also die Muse Klio mit Buchrolle.
Zu den original erhaltenen Fragmenten, die wieder ange­
fügt wurden, gehört neben dem rechten Arm auch der
vordere Mantelwulst mit der linken Hand. Ebenfalls original
und zur Statue gehörig ist der ganze Kopf bis zum Büstenausschnitt mitsamt Schleier. Dieser ist schon vom antiken
Schöpfer separat als Einsatzkopf gearbeitet worden und er
sitzt auch heute noch korrekt der Gewandstatue auf.
Modern ergänzt sind schliesslich nur die verlorengegangenen Bruchstücke, so die zahlreichen angestückten Faltenteile sowie die Nase und die oberen Partien des Kopfes mit
einem Grossteil des Ährenkranzes. Einzelne der modernen
Anstückungen sind im Verlaufe der späteren Jahre stellenweise wieder abgefallen und verlorengegangen. Man erkennt noch die hinausragenden Metallstifte, mit denen die
Reparaturen und Ergänzungen fixiert waren.
Angenommene, ursprüngliche Haltung mit Zepter
Zugehörige antike Fragmente, im 18. Jh. angestückt
Ergänzungen. Moderne Anstückungen ab 18. Jh. und später