Gute Arbeit in der Fabrik 4.0

Gute Arbeit in der Fabrik 4.0
Konferenz | 14. April 2015 | Messegelände Hannover | Pavillon 36 und 34
inhalt
Inhalt
3
Vorwort Dr. Horst Neumann
4
Vorwort Jörg Hofmann
5
Vorwort Stephan Wolf
6 Moderatoren des Tages
7 Impressionen
8 Gute Arbeit in der Fabrik 4.0 – Der Weg von Volkswagen
Dr. Horst Neumann
12
Wandel von Arbeit bei Industrie 4.0 – Technologieschub mit eindeutigen Konsequenzen?
Prof. Dr. Hartmut Hirsch-Kreinsen (TU Dortmund)
1 6
Arbeitsorganisation in der Fabrik 4.0
Prof. Dr.-ing. Wilhelm Bauer (Fraunhofer IAO Stuttgart)
2 2Stimmen aus der Podiumsdiskussion
2 4 Impressionen
26
Ausbildung und Qualifizierung für die Fabrik 4.0
Prof. Dr. Friedrich Hubert Esser (Präsident Bundesinstitut für Berufsbildung)
28
Qualifikationen und Ausbildungsgestaltung in Industrie 4.0
Prof. Dr. Lars Windelband (Pädagogische Hochschule Schwäbisch Gmünd)
30 Stimmen aus der Podiumsdiskussion
3 2
Arbeitssicherheit bei Mensch-Roboter-Kooperationen
Dr. Techn. Norbert Elkmann (Fraunhofer IFF Magdeburg)
36Stimmen aus der Podiumsdiskussion
38
Datensicherheit in der vernetzten Fabrik
Prof. Dr.-Ing. Jana Dittmann (Advanced Multimedia und Security, Universität Magdeburg)
4 2Stimmen aus der Podiumsdiskussion
4 3
Beschäftigungseffekte der Digitalisierung
Dr. Carl Benedikt Frey (University of Oxford)
44
Impressionen
46
Präsentation der Gewinner des 5. Robotics-Awards
Olaf Lies (Minister für Wirtschaft, Arbeit, Verkehr Land Niedersachsen)
48
Leitbilder und Leitplanken für Industrie 4.0 und Digitalisierung
Jörg Hofmann (Zweiter Vorsitzender der IG Metall)
5 0 Impressionen
2
vorwort
Liebe Leserinnen und Leser,
Industrie 4.0, Digitalisierung
und das Vordringen von Informations- und Kommunikationstechnologien in traditionelle Produktionsprozesse
werden die Arbeitswelt in
den nächsten Jahren tiefgreifend verändern. Hieraus
ergeben sich große Gestaltungschancen für die Verwirklichung Guter Arbeit in
der Fabrik 4.0.
Der Volkswagen Konzern,
der Volkswagen Betriebsrat
und die IG Metall haben dieDr. Horst Neumann
se Chancen, aber auch die
Risiken zunehmender Automatisierung und Vernetzung auf einer gemeinsam veranstalteten Expertenkonferenz am 14. April
2015 umfassend diskutiert. Die Konferenz fand in der Hannoveraner Robotation Academy im Rahmen der Hannover Messe statt.
Volkswagen seitig war die von rund 200 Experten aus Unternehmen, Wissenschaft, Politik, Gewerkschaften und Verbänden besuchte Konferenz Teil der systematischen Bemühungen unseres
Unternehmens, einen personalpolitischen Handlungsrahmen
für die Herausforderungen des „Zweiten Maschinenzeitalters“
zu entwickeln.
Die Konferenz „Gute Arbeit in der Fabrik 4.0“ bildete dabei einen
Höhepunkt der Beschäftigung mit den zukünftigen Ausprägungen
der Fabrikarbeit: Hochkarätige Experten aus dem In- und Ausland, darunter der Industriesoziologe Prof. Hartmut Hirsch-Kreinsen von der TU Dortmund, der Präsident des Bundesinstituts für
Berufsbildung Prof. Friedrich Esser sowie der Leiter des Fraunhofer IAO Prof. Wilhelm Bauer und der Oxforder Digitalisierungsforscher Dr. Carl Benedikt Frey beleuchteten aus unterschiedlichen
wissenschaftlichen Perspektiven die Konturen der künftigen Arbeitswelt. In der Diskussion mit den anwesenden Vertretern von
Politik, Gewerkschaften, Verbänden und Unternehmen wurde
deutlich: Industrie 4.0 ist nicht durch die technische Entwicklung
determiniert, sondern arbeitspolitisch gestaltbar.
Innovative Zukunftskonzepte werden vor allem im Bereich der
Ergonomie, bei der entscheidungs- und qualifikationsfördernden Arbeitsorganisation sowie im Bereich der Qualifizierung gebraucht. Für alle Bereiche gibt es bereits heute Ansätze, die in
Richtung einer menschengerechten Arbeit in der Fabrik 4.0 zeigen. Einige von ihnen haben wir auf unserer Tagung intensiv
beleuchtet.
Wir freuen uns, mit diesem Konferenzband die zentralen Ergebnisse unserer Konferenz der Öffentlichkeit zu übergeben.
Ihr
Dr. Horst Neumann
Mitglied des Vorstands der Volkswagen AG,
Geschäftsbereich Personal und Organisation
Wolfsburg, im Oktober 2015
3
vorwort
Liebe Kolleginnen und Kollegen,
die IG Metall ist entschlossen, die Zukunft der Arbeit
auch in Zeiten der Digitalisierung mitzugestalten. Und
sie hat längst damit angefangen: Wir schalten uns mit
Nachdruck in die gesellschaftliche, politische und
wissenschaftliche Debatte
ein, um den Blick der Akteure zu weiten: Technologie ist
immer eingebunden in Arbeitsorganisation und die
Qualifikation der Beschäftigten. Und sie ist gestaltbar.
Jörg Hofmann
Aus dem ursprünglich rein
technikzentrierten Diskurs um Industrie 4.0 ist so inzwischen
eine breite Debatte auch über Arbeit 4.0 entstanden. Die IG Metall ist in die Arbeit der Dialogplattformen zu Industrie 4.0
(BMWi/BMBF) und Arbeit 4.0 (BMAS) eingebunden und setzt
sich hier u.a. für eine solide Technikfolgenabschätzung und Bildungsinitiativen ein. Immer geht es darum, Gestaltungsmöglichkeiten im Interesse der Beschäftigten auszuloten. Wir sind in der
politischen Arena aktiv, um Mitbestimmungs- und Schutzrechte
in der digitalisierten Arbeitswelt zu stärken. Auf der tarifpolitischen Ebene ist es uns mit dem Einstieg in die Bildungsteilzeit
gelungen, die Chancen der Beschäftigten zu erhöhen, durch
Qualifizierung von der Digitalisierung profitieren zu können.
Das alles ist wichtig – aber unser großes Zukunftsprojekt „Gute
Arbeit in der Industrie 4.0“ steht und fällt mit den betrieblichen
Initiativen. Wir brauchen viele selbstbewusste Beschäftigte, die
ihr Fachwissen in der Fabrik und im Büro einbringen, um Technik und Arbeit besser zu machen. Und wir brauchen engagierte
Betriebsräte, die dafür ihre Mitbestimmungsrechte nutzen, aber
auch Beteiligungsprozesse organisieren und moderieren.
Selbstverständlich brauchen wir auch Unternehmen, die die
Umsetzung neuer Ideen zur menschengerechten Gestaltung von
Technik und Arbeit als wertvolle Innovation betrachten. Und wir
brauchen dafür viele gute Beispiele, von denen wir alle lernen
können.
Deshalb brauchen wir auch mehr Konferenzen wie „Future
Tracks – Gute Arbeit in der Fabrik 4.0“, die von Vorstand und Gesamtbetriebsrat der Volkswagen AG zusammen mit der IG Metall
im Rahmen der Hannover Messe 2015 veranstaltet wurde. Und
deshalb war es auch ein richtiger Schritt, hier eine offene Dialogplattform zu Industrie 4.0 zu gründen, auf der debattiert und
gute Beispiele ausgetauscht werden können.
Ihr
Jörg Hofmann
Zweiter Vorsitzender der IG Metall
4
vorwort
Liebe Leserinnen und Leser,
Berufe und Qualifikationen
werden durch „Industrie
4.0“ sehr unterschiedlich betroffen sein.
Deshalb ist es notwendig, Tätigkeiten und Arbeitsprozesse
differenziert zu betrachten
und zu analysieren.
Bisher werden dabei die Auswirkungen auf indirekte Arbeitsprozesse vom Entwickler, über den Planer, bis hin
zum Sachbearbeiter in Logistik, Vertrieb und Werksteuerung zu wenig diskutiert.
Stephan Wolf
Mit „Industrie 4.0“ kommen
neue Themen auf die arbeitspolitische Tagesordnung. Dazu gehört nicht nur die Gestaltung und Anwendung der Technik
selbst, sondern auch die Berufsausbildung und Qualifizierung,
Arbeitssicherheit und Gesundheitsschutz, sowie Ergonomie und
Arbeitszeitgestaltung.
Anforderungen und Belastungen für Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer werden sich verändern. Alte, vor allem ergonomische Probleme und monotone Arbeit könnten geringer werden.
Neue Belastungen werden hinzukommen.
Müssen wir unsere Kolleginnen und Kollegen zukünftig mehr
vor digitaler Überforderung schützen? Viele offene Fragen sind
in diesem Prozess zu beantworten.
Wir sehen Potenziale und Chancen für Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer im Einsatz neuer Technologien und Systeme.
Deshalb wollen wir Arbeit in der „Fabrik 4.0“ offensiv gestalten.
Ihr
Stephan Wolf
Stellvertretender Vorsitzender des Gesamt- und
Konzernbetriebsrats der Volkswagen AG
5
moderatoren
Moderatoren des Tages
Dr. Alexandra Baum-Ceisig (Leiterin des Instituts für Arbeit und
Personalmanagement des Volkswagen Konzerns)
Alexandra Baum-Ceisig (Jg. 1968) forschte und lehrte mehrere Jahre am Fachbereich Sozial-
wissenschaften der Universität Osnabrück zum Schwerpunkt Europäische Wirtschafts- und
Sozialpolitik an der Universität Osnabrück. 2006 begann sie ihre Tätigkeit bei Volkswagen als
Fachreferentin und später Generalsekretärin des Gesamt-/Konzernbetriebsrats, zuständig für
Grundsatzfragen und Aufsichtsratsangelegenheiten. Seit 2015 leitet sie das Institut für Arbeit
und Personalmanagement des Volkswagen Konzerns und verantwortet hier u.a. die akademische Weiterentwicklung zentraler Personalthemen bei Volkswagen wie die
Arbeitswelt in der Industrie 4.0.
Dr. Katrin Goldhorn (Personalleitung Volkswagen Group Academy)
Katrin Goldhorn (Jahrgang 1969) ist promovierte Arbeits-, Organisations- und Betriebspsychologin und seit 1997 für den Volkswagen Konzern tätig. Nach Ihrer Tätigkeit als Ge-
schäftsführerin der Auto 5000 GmbH leitete sie 2008-2012 das Institut für Arbeit und Personalmanagement des Volkwagen Konzerns. Von 2012 bis 2014 verantwortete sie die
Leitung des Vorstandsbüros Personal und Organisation. Als Arbeitsorganisationsexpertin ist
sie seit 2014 Industrie-4.0-Beauftragte des Vorstandsbereichs Personal und Organisation
und leitet die Arbeitsgruppe „Mensch in der Mensch-Roboter-Kooperation“.
Dr. Constanze Kurz (Leiterin des Ressorts Zukunft der Arbeit beim Vorstand der IG Metall)
Dr. Constanze Kurz, 53, Diplom-Sozialwissenschaftlerin, ist seit 2009 politische Sekretärin
beim IG Metall Vorstand und leitet dort das Ressort Zukunft der Arbeit. Sie ist zuständig für
die Themen Digitalisierung der Industriearbeit, Industrie 4.0, die Arbeitspolitik sowie Innovations- und Forschungspolitik.
Zuvor war sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Soziologischen Forschungsinstitut
Göttingen (SOFI) e. V. sowie an der Hochschule Darmstadt als Vertretung für die Professur
Techniksoziologie tätig. Ihre Forschungsarbeiten konzentrierten sich auf Prozesse des Wandels von Arbeit sowie technologische und organisatorische Innovationen.
Dr. Karl Teille (Leiter des Instituts für Informatik des Volkswagen Konzerns)
Herr Dr. Karl Teille studierte und promovierte an der TU Braunschweig. Drei Jahre arbeitete
er an der heutigen Helmholtz Gemeinschaft in München in der Forschung bevor er in die IT
der Sparkassenorganisation als Projektleiter wechselte. Seine fachlichen Schwerpunkte sind
u.a. objektorientierte SW-Entwicklung, Innovationsmanagement und IT-Projektmanagement. Über letzteres hält er auch Vorlesungen an der TU Braunschweig.
Herr Dr. Teille arbeitete als Projektmanager in der FS AG und verantwortete anschließend in
Mexiko als CIO die dortige IT der FS AG.
Seit drei Jahren leitet Herr Dr. Teille das Institut für Informatik an der AutoUni in Wolfsburg.
6
impressionen
Fotoimpressionen vom 14.04.2015
Die Konferenz fand zeitgleich zur Hannover
Messe 2015 in den Räumlichkeiten der
Robotation Academy und des Pavillons 34 auf
dem Messegelände Hannover statt.
Bei der begleitenden
Fahrzeugpräsentation des Volkswagen
Konzerns sowie der Technikausstellung
konnten sich die Konferenzteilnehmer
über neueste technische Entwicklung im
Fahrzeug und die Zukunft der Produktion
in der Industrie 4.0 informieren.
7
dr. horst neumann
Gute Arbeit in der Fabrik 4.0 –
Der Weg von Volkswagen
Die Arbeitswelt steht vor tiefgreifenden Veränderungen. Treiber ist hier
einmal mehr die Technik, doch die Auswirkungen sind keineswegs auf diese
beschränkt. Erik Brynjolfsson und Andrew McAffee vom MIT unterscheiden
das „First Machine Age“ und das „Second Machine Age“. Erstes Maschinenzeitalter, das heißt Einzelmaschinen, Fließbänder und elek­trische Antriebe.
„Second Machine Age“ heißt Digitalisierung und Vernetzung.
Die Mikroelektronik als Basistechnik hat den Siegeszug der
Computer, der Telekommunikation, des Internets möglich gemacht. Die Grundlage für diese rasche Entwicklung der Computer und der Telekommunikation ist das sogenannte ‚Mooresche
Gesetz‘. Es ist in Wirklichkeit kein Gesetz, sondern Empirie,
eine Beobachtung, dass sich seit den 1970er-Jahren die Computerleistung alle 18 Monate verdoppelt.
Die rasante Ausweitung von Speicherkapazität, Rechenleistung
und Übertragungsgeschwindigkeit verändert seit einigen Jahren
massiv die industrielle Produktion. Im Zentrum der Fabrik der
Zukunft steht eine drastisch gestiegene Vernetzung der Maschinen und Anlagen untereinander – machine to machine oder Industrie 4.0 genannt. Die Grenzen zwischen realer und virtueller
Welt verschwimmen seitdem auch auf dem Shop­f loor. Cyber-physikalische Systeme (CPS) kreieren mehr und mehr augmented realities: neben den unmittelbar stofflichen Vorgängen
der Produktion finden vielfältige Formen des virtuellen Datenaustauschs statt. Auch die Überwachung von Maschinen ist nicht
mehr auf die physische Kontrolle der Anlage beschränkt: Tablets
und Datenbrillen liefern parallel digitale Informationen, so dass
auf dem Shopfloor eine Dualität real beobachtbarer und virtueller Informationen besteht.
Diese Veränderungen können nicht ohne Auswirkungen auf die
Arbeit bleiben. Die Entwicklung verläuft hier bereits seit einigen
Jahrzehnten von der energetischen zur informatorischen Arbeit,
also von Muskelarbeit über reaktive Arbeit bis hin zu kreativer
Tätigkeit, oder – vereinfacht gesagt – von der Handarbeit zur
Kopfarbeit.
Die große Frage ist, welche Folgen diese Veränderungen für das
Verhältnis von Mensch und Technik und damit für die Ausprägung der Arbeit in der Fabrik der Zukunft haben werden? Unser im Rahmen der Volkwagen Initiative „Future Tracks“ entwickeltes Konzept „Gute Arbeit in der Fabrik 4.0“ verfolgt das
Ziel, die wirtschaftlichen Potenziale des aktuellen Technologieschubs bestmöglich auszunutzen und gleichzeitig einen
spürbaren Beitrag zur Verbesserung der Arbeit, zu „Guter Arbeit 4.0“ zu leisten.
Gute Arbeit in der Fabrik 4.0
Die Zeit für einen solchen Ansatz ist so günstig wie nie, denn
wir stehen in der industriellen Produktion unmittelbar vor
einem weiteren Automatisierungsschub. In den Fabriken der
Zukunft wird schon bald eine neue Robotergeneration tätig
sein. Die Leichtbauweise und die verbesserte Fähigkeit zur intelligenten Orientierung im Raum verändern die Einsatzmöglichkeiten von Robotern fundamental: Sie verlassen ihre Käfige
und mischen sich auf dem Hallenboden unter die Menschen.
Einstmals eingezäunt und mit mehrfachen Schutzvorrichtungen versehen, bewegen sie sich nun souverän durch die Fabrik.
Neue Formen der Zusammenarbeit von Mensch und Roboter
sind die Folge: Wo es einst eine klare Trennung von Mensch
und Maschine gab, kommt es nun immer öfter zur Kooperation: Der Roboter reicht die Schraube, der Mensch zieht sie fest
– oder umgekehrt. Und es gibt auch Arbeitsplätze, wo der Robi
komplett vom Menschen übernimmt.
Für viele nach wie vor schwere und belastende Tätigkeiten in der
Fabrik ergibt sich daraus eine große Chance: Es besteht künftig
die Möglichkeit, schwere, taktgebundene, repetetive Tätigkeiten
durch Roboter zu ersetzen. Dies ist der Dreh- und Angelpunkt unseres Konzepts für „Gute Arbeit in der Fabrik 4.0“.
Die Abbildung auf Seite 9 zeigt das Gesamtmodell des Konzeptes,
welches wir bei Volkswagen für die Zukunft der Fabrik entwickelt
haben. Hintergrund dieses Modells ist die Erkenntnis, dass
durch den verstärkten Einzug der Robotertechnik in die Fabriken die große Chance besteht, vier Ziele gemeinsam
voranzubringen:
I.Werden schwere, taktgebundene, repetetive Tätigkeiten
durch Roboter substituiert und entfallen damit „rote“ und
„gelbe“ Arbeitsplätze in der Fertigung, wäre dies zum einen
ein großer Schritt zur Verbesserung der Ergonomie in der
Fertigung.
II.Zum anderen könnten die Mitarbeiter die gewonnene Arbeitszeit für qualifiziertere Arbeit nutzen.
III.Durch den vermehrten Einsatz von Roboterlösungen besteht
die Chance für eine neue, wettbewerbsfähige „Mischkalkulation“ der Arbeitskosten zwischen Mitarbeitern und Robotern.
IV.Der gezielte Einsatz von Robotern zur Entlastung der Mitarbeiter und als Substitut für ergonomisch kritische Tätigkeiten kann dabei helfen, dass alle Mitarbeiter gesund bis
zur Erreichung des Rentenalters in der Fertigung arbeiten
können. Ein weiterer wichtiger Punkt ist, dass der
8
dr. horst neumann
Abb 1: volkswagen
konzern: gute arbeit in der fabrik 4.0
verstärkte Einsatz von Robotern in der Fertigung eine Antwort auf den möglicherweise anstehenden Fachkräftemangel sein kann (Demografie).
Die Zusammenhänge des Gesamtmodelles werden im Nachfolgenden weiter ausgeführt.
a) Ergonomie – Verbesserung der Arbeitsbedingungen
Auch wenn sich in den vergangenen zwanzig Jahren beim Thema Ergonomie viel getan hat, gibt es – auch in den Fabriken von
Volkswagen – immer noch zu viele belastende Arbeitsplätze. So
haben wir bis heute in der Golf-Montage in Wolfsburg oder bei
den Nutzfahrzeugen in Hannover einen Anteil sogenannter „roter“ Arbeitsplätze von 5 bis 10 Prozent und „gelber“ Arbeitsplätze von 20 bis 30 Prozent. Rote und gelbe Arbeitsplätze bedeutet,
dass diese Arbeitsplätze eigentlich für eine achtstündige tägliche
Arbeit nicht in Ordnung sind. Die roten müssten eigentlich alle
abgeschafft und die gelben umgestaltet werden.
Ein klassisches Beispiel hierfür sind Arbeiten im Innenraum mit
Kriechen in die Karosse, Verdrehungen des Bewegungsapparats
und Ausführung von Montagearbeiten an unzugänglichen Stellen. Es ist harte Arbeit und den Schweiß der Ingenieure wert,
diese Arbeit zu automatisieren, obwohl sie zugegebenermaßen
sicher der schwierigste Teil des Robotereinsatzes ist. Gerade deshalb legen wir bei Volkswagen großen Wert darauf, dass diese Arbeitsplätze von den Industrial Engineers und Fabrikplanern
beim Robotereinsatz zuerst berücksichtigt werden.
b) Qualifizierte Arbeit – Zukunft der Facharbeit
Der zweite große Bereich, mit dem wir uns im Rahmen unseres
Konzepts beschäftigen: Wie sieht Arbeit in der Fabrik der Zukunft aus? Welche Qualifikationen bleiben und welche neuen
brauchen wir, wenn über die nächsten Jahrzehnte der G
­ roßteil
der taktgebundenen Arbeit verschwinden kann?
Schon heute haben wir die Tendenz, dass einfache Arbeiten in
unseren Fabriken abnehmen. Von 262.000 Mitarbeitern des
Konzerns im direkten Bereich arbeitet nur noch die Hälfte taktgebunden. Dieselbe Relation gilt für die 107.000 deutschen Beschäftigten im direkten Bereich. Der größere und wachsende Teil
der Arbeit sind qualifizierte Tätigkeiten: Maschinenüberwachung und Störungsbeseitigung, Reparatur und Instandhaltung,
Auf-, Um- und Abbau von Anlagen, Programmierung und Anlaufsteuerung, Planung, Kommunikation und Führung.
Diese Entwicklung bedeutet Fluch und Segen zugleich:
• Auf der einen Seite „frisst“ die Automatisierung Arbeitsplätze.
• Auf der anderen sind es – bei richtiger Gestaltung – vor allem
die monotonen und belastenden Arbeitsplätze, die von der
Automatisierung betroffen sind.
Wir haben also die Chance, durch Robotereinsatz unqualifizierte Arbeit zu reduzieren und die Mitarbeiter in der gewonnenen Zeit auf qualifizierten Arbeitsplätzen einzusetzen. Wie
sieht diese qualifizierte Arbeit in den zukünftigen Fabriken jedoch aus? Hierzu bedarf es nur eines Blickes in den Karosseriebau. Die Karosseriebauten im Volkswagen Konzern gehören
zu den Gewerken des Fahrzeugbaues mit dem höchsten Automatisierungsgrad. Mit den Automatisierungsschüben seit den
frühen 1970er Jahren zogen immer mehr und immer unterschiedlichere Typen von Robotern in den Karosseriebau Golf in
Wolfsburg ein.
Mit der Zunahme der Roboter erhöhte sich über die Golf-Generationen der Automatisierungsgrad. Er liegt heute im Karosseriebau Golf in Wolfsburg bei ca. 91 Prozent. Das hatte zunächst
einmal Auswirkungen auf die Quantität des Arbeitsplatzangebotes: Die Anzahl der Mitarbeiter sank von 4.800 im Jahr 1974 auf
2.400 im Jahr 2015. Parallel dazu stieg die Anzahl der Roboter
von 68 im Jahr 1974 auf 2.265 zum heutigen Zeitpunkt.
9
dr. horst neumann
Abb 2: gestaltungsoptionen
Die Roboter übernahmen also in den vergangenen 40 Jahren die
schweren Tätigkeiten der Menschen (z.B. manuelles Punktschweißen, schwere Einlegetätigkeiten). Die Mitarbeiter übernahmen zunehmend qualifizierte Arbeit. Qualifizierte Arbeit
heißt: das Planen, Programmieren, in Betrieb nehmen, Überwachen, Warten und Instandhalten von Anlagen. Zudem beinhaltet
es einen hohen Anteil kommunikativer und produkt- bzw. prozessverbessernder Arbeiten.
Was pars pro toto für den Karosseriebau gilt, trifft in der Tendenz
auf die ganze Fabrik zu: Schon heute ist ein Großteil der Fabrikarbeit qualifizierte Arbeit: Maschinenüberwachung, schnelle
Störungseingriffe. Der Facharbeiter muss wissen, welches Geräusch welche Aktion erfordert. Es geht um Qualitätskontrollen,
Instandhaltung, Reparatur, Aufbau, Anläufe, Programmierung,
Planung, KVP.
Zusammengefasst lässt sich sagen:
• Qualifikationsfördernde Arbeitsorganisation zielt ähnlich wie
die Ergonomie auf die Abschaffung stupider, von Routine geprägter oder kognitiv wenig fordernder Arbeitsplätze.
• Entscheidungsfördernde Technik ist so ausgelegt, dass sie den
einzelnen Beschäftigten nicht mit unverständlichen Signalen
und Mitteilungen zum hilflosen Opfer professioneller (=instandhaltender) Hilfe macht, sondern ihn dazu befähigt, Alternativen anhand der vorhandenen Informationen zu prüfen
und dann auch selbstständig Entscheidungen zu treffen.
• Einfachere Technik scheint zudem ein ganz wesentlicher
Punkt: zunehmende technische Komplexität muss sich nicht
in schwieriger Bedienbarkeit niederschlagen – und manchmal ist die einfachere Anlage ohnehin die bessere.
c) Arbeitskosten
Das dritte Handlungsfeld unseres Konzepts sind die Arbeitskosten. Bekanntlich ist gerade Deutschland ein Hochlohnland und
dort wiederum steht die Automobilindustrie an der Spitze. Wenn
man sich dann fragt: „Was kostet denn der Roboter, der den
Menschen ersetzt?“, kommt man zu sehr erstaunlichen Zahlen.
Unterstellt man eine Laufzeit der Roboter von sieben Jahren
(tendenziell ist sie eher länger), eine Betriebszeit von 35.000
Stunden über die Laufzeit, einen Stromverbrauch zwischen 1
und 13 kW/h sowie Instandhaltungskosten von 5 Prozent und
rechnet man für die Anschaffungskosten eines Roboters 112.000
bis 217.000 Euro, ist man bei Roboterstundenkosten von 3 bis 6
Euro. Diese rund 5 Euro muss man in Relation setzen zu den 30
bis 50 Euro, die der Mann oder die Frau in Deutschland kosten.
Selbst die 10 Euro Stundenlohn in China sind noch doppelt so
viel, wie der Roboter kostet.
Da wir damit rechnen müssen (und auch politisch nichts anderes
wollen!), dass diese Lohnkosten in etwa bestehen bleiben, ist Automatisierung mit Augenmaß ein geeigneter Weg, um die hohen
Lohnkosten gerade in Deutschland zu dämpfen und zu einer
neuen „Mischkalkulation“ bei den Arbeitskosten zu kommen.
d) Beschäftigung
Die Frage ist nun natürlich: Was geschieht, wenn wir in den kommenden Jahren vermehrt Arbeitsplätze durch Roboter ersetzen?
Wird dann die Anzahl der Arbeitslosen wieder steigen – bedingt
durch noch mehr Automatisierung? Die Antwort lautet: Nein.
Bundesweit arbeiten derzeit mehr als fünf Millionen Menschen
in der Industrie, bei Volkswagen in Deutschland sind 120.000 in
der Produktion beschäftigt. Was uns in den nächsten 20 Jahren
helfen wird, ist eine demografische Besonderheit, vorwiegend in
Deutschland, schwächer ausgeprägt in anderen westeuropäischen Ländern: Wirtschaftswunder und Babyboom (1955 bis
1975) haben 20 Jahrgänge außergewöhnlich stark besetzt. Diese
„Wirtschaftswunderkinder“ gehen in den nächsten Jahren auf
die 60 zu – und dann in Rente.
Im Zusammenfallen des neuen Automatisierungsschubs durch
Industrie 4.0 und des Renteneintritts der köpfemäßig größten
Jahrgänge der deutschen Geschichte ergeben sich enorme
Chancen für eine beschäftigungspolitisch verträgliche Gestaltung der Automatisierung.
Zwischen 2015 und 2030 werden außergewöhnlich viele Beschäftigte die Unternehmen altersbedingt verlassen – im Volkswagen-Konzern etwa 23.000 mehr als im langjährigen Durchschnitt. Deshalb haben wir die Möglichkeit, Menschen durch Roboter zu ersetzen und trotzdem in bisherigem Umfang Nachwuchskräfte einzustellen. Umgekehrt könnten wir diesen
Rentnerabgang auch gar nicht durch junge Mitarbeiter ersetzen.
Beschäftigungspolitisch wäre ein Automatisierungsschub also
verträglich – aber warum sollten wir ihn begrüßen oder gar vorantreiben? Hier kommen wieder die Faktoren von Ergonomie
und qualifizierter Arbeit ins Spiel: Wir haben ein starkes Interesse an guter, qualifizierter Arbeit für alle. Obwohl es in den vergangenen Jahren gelungen ist, einen großen Teil der Industriearbeitsplätze zu optimieren, gibt es Routinearbeiten, die noch
immer nicht ergonomisch sind. Sieben Stunden lang im Minutentakt eine Nockenwelle mit exakt sechsmal acht Tropfen Öl zu
versorgen, dies erfordert Präzision, Aufmerksamkeit und ist
gleichzeitig monoton und anstrengend – kurz: harte Arbeit. Man
muss diesen Tätigkeiten nicht nachweinen, wenn es bessere Alternativen gibt.
Im Gesamtbild heißt das: Ergonomie und qualifizierte Arbeit bilden die zwei Hauptfaktoren einer „Guten Arbeit 4.0“. Wir können und müssen dabei auch das Thema altersgerechte Arbeit angehen. Wir haben die Chance, unsere Wettbewerbsfähigkeit zu
verbessern, und zwar mit höherer Qualifikation und gleichzeitig
in der Summe niedrigeren Arbeitskosten, und können das im
Einklang mit der Beschäftigungssicherheit tun.
Unsere Gestaltungsspielräume sind dabei erheblich. Denn klar
ist: Das zweite Maschinenzeitalter kommt nicht über uns, sondern wird von Menschen gestaltet. Die Ausprägung der Technik
kann durch steuernde Eingriffe, durch arbeitspolitische
10
dr. horst neumann
altersstruktur stammbelegschaft
volkswagen konzern deutschland 2014
Entscheidungen und normative
Abb 3: Vorgaben gestaltet werden – zum
Guten wie zum Schlechten. Denn
im künftigen Verhältnis der
menschlichen Arbeit zu den Maschinen sind verschiedene Ausprägungen denkbar. Hier seien
nur drei genannt:
• Arbeits-zentriert – das ist die
alte Welt der Manufakturen,
des Handwerks. Die weltweit
erfolgreiche Makers-Bewegung
knüpft hieran gerade an.
• Technik-zentriert – das ist z.B.
der Fordismus, aber auch die
tayloristische Arbeitsorganisation, welche die Menschen nur
zwischen den Maschinen
einpasst.
• Ausgewogen im Verhältnis von
Mensch und Technik – das ist
die Welt von morgen, die trotz
oder gerade wegen der Hochautomatisierung menschlichen
Bedürfnissen bei der Arbeit
Rechnung trägt. Voraussetzung hierfür: Wir sorgen dafür,
dass der Mensch nach wie vor Maßstab der Arbeitsorganisation ist. Andernfalls droht die Dominanz der Maschinen, ein
Entwicklung zu Taylorismus Total (T2) oder – wenn die Menschen nicht mehr mitmachen – die Regression in die vermeintlich gute alte Zeit: eine Neuauflage des
Manufakturwesen.
Abb 4: fabrik
Wir in Deutschland sind mit einem ausgewogenen Verhältnis von
menschlichem Können und maschineller Kraft und Präzision
immer gut gefahren. Die Stärke unserer Volkswirtschaft beruht
ganz maßgeblich auf einer Industrie, die stets auf einen Ausgleich zwischen Mensch und Technik bedacht war. Mit „Guter
Arbeit 4.0“ bei Volkswagen wollen wir dafür sorgen, dass dies
auch im zweiten Maschinenzeitalter so bleibt.
der zukunft: 3 entwicklungspfade
11
p r o f. d r . h a r t m u t h i r s c h - k r e i n s e n ( t u d o r t m u n d )
Wandel von Arbeit bei Industrie 4.0 –
Technologieschub mit eindeutigen Konsequenzen?
Hartmut Hirsch-Kreinsen, Dr. rer.pol., Dipl.Wirtsch.Ing., ist seit 1997 Profes-
sor für Wirtschafts- und Industriesoziologie an der TU Dortmund, Lehrstuhl
Wirtschafts- und Industriesoziologie; Promotion und Habilitation an der TU
Darmstadt. Arbeitsschwerpunkte sind: wirtschaftlicher Strukturwandel, in-
dustrielle Innovationsprozesse sowie Entwicklungstendenzen von Produktionsarbeit insbesondere unter den Bedingungen der Digitalisierung. Seit
2013 ist er sozialwissenschaftliches Mitglied im wissenschaftlichen Beirat
der Plattform Industrie 4.0 bei acatech.
Im Mainstream der aktuellen Diskussion über die Entwicklungsund Anwendungsmöglichkeiten der Informationstechnologie
wird davon ausgegangen, dass gegenwärtig ein ausgesprochener
technologischer Entwicklungsschub stattfinde. Er öffne bislang
völlig neue und unbekannte technologische Nutzungspotentiale
mit geradezu disruptiven sozialen und ökonomischen Folgen
(Avant 2014). In Hinblick auf die industrielle Produktion wird
danach ein neues Zeitalter erkennbar, das im deutschen Sprachraum als „4. Industrielle Revolution“ bzw. „Industrie 4.0“ (Forschungsunion/acatech 2013) bezeichnet wird.
Abb. 1: industrie
Insbesondere im Kontext der weit über die Grenzen der Fachöffentlichkeit hinausreichenden Industrie 4.0-Debatte wird unisono davon ausgegangen, dass im Fall einer breiten Diffusion dieser neuen Technologien sich die bisherige Landschaft der Arbeit
in der industriellen Produktion nachhaltig verändern wird. Obgleich zu dieser Frage derzeit kaum valide Forschungsergebnisse
vorliegen, legt eine Vielzahl von Studien die Auffassung nahe,
dass sich mit den neuen Technologien absehbar ein generelles
„Upgrading“ von Tätigkeiten und Qualifikationen verbinden
wird (z.B. Spath et al. 2013; Bauernhansel 2014; Kagermann
4.0 als sozio-technisches systemQuelle: eigene Darstellung
12
p r o f. d r . h a r t m u t h i r s c h - k r e i n s e n ( t u d o r t m u n d )
2014; Plattform ­Industrie 4.0 2014). Als
die zentrale Ursache hierfür gilt, dass digitale Technologien einfache Tätigkeiten
weitgehend automatisieren und daher
substituieren. Als eine weitere Ursache
hierfür wird der Umstand angesehen,
dass der Einsatz digitaler Technologien
ganz generell zu einer steigenden Verfügbarkeit einer großen Vielfalt von Informationen über laufende Prozesse führt.
Deren Komplexität und Nutzung ziehe
neue und erhöhte Anforderungen an Tätigkeiten und Qualifikationen nach sich.
So betont beispielsweise Henning Kagermann, einer der Protagonisten der Vision
von Industrie 4.0, dass Mitarbeiter in Zukunft weniger als „Maschinenbediener“
Prof. Hirsch-Kreinsen beantwortet Diskussionsfragen zum Wandel der Arbeit in der Industrie 4.0.
eingesetzt werden, „sondern mehr in der
Rolle des Erfahrungsträgers, Entscheiders und Koordinators…
Vieldimensionaler Wandel von Produktionsarbeit
die Vielzahl der Arbeitsinhalte für den einzelnen Mitarbeiter
Ausgangspunkt der Analyse ist die Dimension der unmittelbaren
nimmt zu“ (Kagermann 2014 : 608).
Mensch-Maschine Interaktion. Aus arbeitssoziologischer Sicht
Demgegenüber verfügt sozialwissenschaftliche Arbeitsforschung erweist sich hier als zentrales Problem, inwieweit die Beschäfüber einen breiten Fundus konzeptioneller und empirischer For- tigten unmittelbar am System überhaupt in der Lage sind, dieses
schungsergebnisse, die instruktiv zeigen, dass die Entwicklung,
zu kontrollieren und damit die Verantwortung über den Systemdie Implementation neuer Technologien, also auch die von Inbetrieb zu übernehmen. Denn es kann davon ausgegangen werdustrie 4.0-Systemen, alles andere als bruchlos und widerden, dass die überwachenden Personen bei technologisch komspruchsfrei verlaufen und vor allem die sozialen Effekte kaum
plexen und automatisierten Systemen nicht in jedem Fall in der
eindeutig ableitbar sind. Spätestens seit der kritischen Debatte
Lage sind, diesen Funktionen nachzugehen, da die funktionale
um den „Technikdeterminismus“ in den 1970er und 1980er
und informationelle Distanz zum Systemablauf zu groß ist. Die
Jahren wird davon ausgegangen, dass zwischen technischen Sys- Folge ist, dass das Bedienungspersonal die Anlagenzustände
teme und ihren Konsequenzen für Arbeit eine von vielen
nicht mehr zutreffend einschätzen kann und unter Umständen
nicht-technischen und sozialen Faktoren beeinflusste Beziehung falsche Entscheidungen in Hinblick auf Eingriffe in den automabesteht. Keineswegs darf eine durch Technikauslegung eindeutitischen Prozess trifft. Die Automationsforschung spricht in diege und festliegende Beziehung zwischen beiden Dimensionen
sem Zusammenhang von den „ironies of automation“ (Bainbridangenommen werden (Lutz 1987; zusammenfassend Pfeiffer
ge 1983), wonach automatisierte Prozesse auf Grund ihres ho2013).
hen Routinecharakters bei Störungen nur schwer zu bewältigenDie Analyse des Zusammenspiels der neuen Technologie und der
de Arbeitssituationen erzeugen. Eine an solchen
dadurch induzierten personellen und organisatorischen VeränHerausforderungen orientierte Gestaltung der Mensch-Maschiderungen erfordert vielmehr den Blick auf das Gesamtsystem
ne-Schnittstelle muss nun sicherstellen, dass hinreichend qualider Produktion und die hier wirksamen Zusammenhänge. Die
fizierte Arbeitskräfte in der Lage sind, ihren Überwachungsaufneuen Produktionssysteme sind daher, einer lange zurückreigaben effektiv nachzukommen.
chenden arbeitssoziologischen Debatte folgend, als sozio-techEine weitere zentrale Dimension und Herausforderung ist die
nische Systeme zu verstehen (Trist/Bamforth 1951). Allein in
Gestaltung der Aufgaben und Tätigkeitsstrukturen auf der operadieser analytischen Perspektive sind hinreichend begründete
tiven Ebene des Shopfloors im Kontext der smarten ProduktionsAussagen über die Entwicklungsperspektiven und Gestaltungssysteme. Folgt man den verfügbaren Evidenzen, so lassen sich
möglichkeiten für Arbeit möglich (vgl. Abb. 1).
die absehbaren Entwicklungstendenzen wie folgt skizzieren:
Daher muss auch von einem weiten Verständnis von Produkti• Zum Einen ist davon auszugehen, dass Arbeitsplätze mit niedonsarbeit ausgegangen werden. Denn betroffen von den absehrigen Qualifikationsanforderungen und einfachen, repetitiven
baren Wandlungstendenzen sind alle direkt und indirekt wertTätigkeiten durch intelligente Systeme in hohem Maße substischöpfenden Tätigkeiten in Industriebetrieben; das heißt, be­tuiert werden. Als Beispiele hierfür sind einfache Tätigkeiten
troffen sind die operative Ebene des Fertigungspersonals, wie
in der Logistik, bei der Maschinenbedienung und bei der bisaber auch die Bereiche des unteren und mittleren Manageher manuellen Datenerfassung und -eingabe zu nennen. In
ments von Produktionsprozessen sowie die Gruppe der techniwelchem Umfang Substitutionsprozesse aber eintreten werschen Experten. Folgt man diesen kategorialen Bestimmungen,
den ist derzeit kaum abschätzbar.
so erweisen sich Wandlungstendenzen und Gestaltungserfor• Zum Zweiten kann für die früher qualifizierte Facharbeiteredernisse von Produktionsarbeit in den folgenden Dimensionen
bene eine Tendenz zur Dequalifizierung von Tätigkeiten beals relevant. 1
fürchtet werden. Zu nennen sind hier Aufgaben wie
1
Vgl. hierzu und zum Folgenden ausführlich: Hirsch-Kreinsen (2014) sowie Hirsch-Kreinsen et al. (2015).
13
p r o f. d r . h a r t m u t h i r s c h - k r e i n s e n ( t u d o r t m u n d )
Neben den angesprochenen Aufgaben- und Qualifikationsanforderungen muss bei der Arbeitsgestaltung auf der operativen Arbeitsebene auch das mögliche hohe Kontrollpotential der neuen
Systemtechniken in Rechnung gestellt werden. Die Frage, welche Möglichkeiten sich hiermit verbinden und wie sie faktisch
in Unternehmen genutzt werden, lässt sich derzeit kaum beantworten. In jedem Fall aber wird die Furcht vor dem durch die
neuen technologischen Systeme möglichen „gläsernen Mitarbeiter“ ein wichtiger Einflussfaktor auf die Akzeptanz der neuen
Technologien bei Beschäftigten und Arbeitnehmerinteressenvertretungen sein.
Fragt man, wie sich Produktionsarbeit in der hierarchischen Dimension verändert, so finden sich bislang nur wenig eindeutige
Forschungsergebnisse. Höhere hierarchische Ebenen der Planungs- und Managementbereiche sind entweder indirekt von einer Systemeinführung auf der Shopfloor Ebene betroffen oder
neue Planungs- und Steuerungssysteme finden unmittelbar in
diesen Bereichen Einsatz. Zusammenfassend können widersprüchliche Konsequenzen für die indirekten Bereiche angenommen werden:
• Zum Einen deuten Evidenzen darauf hin, dass auf Grund der
dezentralen Selbstorganisation der Systeme und einer entsprechend flexiblen Arbeitsorganisation auf der operativen
Ebene ein Teil von bisher auf der Leitungsebene von technischen Experten und vom Produktionsmanagement ausgeführten Planungs- und Steuerungsfunktionen „nach unten“ abgegeben werden. Das heißt, mit Industrie 4.0-Systemen ver­
bindet sich ein Dezentralisierungsschub und Hierarchieabbau innerhalb oft ohnehin schon relativ „flach“ strukturierter
Fabrikorganisationen.
• Zum Zweiten ist davon auszugehen, dass eine ganze Reihe von
Aufgaben in indirekten Bereichen automatisiert und damit vereinfacht oder gar substituiert werden können. Je nach Systemauslegung kann es sich dabei um Planungs- und Steuerungsaufgaben, Tätigkeiten der Instandhaltung und des Service wie
aber auch qualitätssichernde Aufgaben handeln.
• Zum Dritten dürften komplexitätsbedingt erweiterte und neue
Planungsaufgaben auf diese Bereiche zukommen. Einige Hinweise deuten darauf hin, dass angesichts der Systemkomplexität Aufgaben des „troubleshooting“ deutlich an Bedeutung
gewinnen. Zudem kann davon ausgegangen werden, dass auf
der Planungs- und Managementebene früher getrennte Aufgaben und Kompetenzen, beispielsweise IT- und Produktionskompetenzen, verschmelzen.
• Obgleich sie bislang wenig eindeutig sind, lassen diese Hinweise den Schluss zu, dass die Planungs- und Managementbereiche in Folge der Einführung von Industrie 4.0-Systemen
längerfristig ebenso nachhaltig betroffen sein werden wie die
operative Ebene. Mehr noch, es ist davon auszugehen, dass
der Wandel und eine entsprechende Gestaltung auch der Leitungsebenen unverzichtbare Voraussetzung für die Beherrschung der neuen Technologien ist.
Abb. 2: polarisierte
Abb. 3: schwarm-organisation
­ aschinenbedienung sowie verschiedene Kontroll- und ÜberM
wachungsfunktionen, die automatisiert werden. Auch Dispositionsentscheidungen in der Produktionslogistik könnten
mithilfe der neuen Systeme teilweise automatisiert werden.
Sie greifen folglich nur noch in seltenen Ausnahmefällen in
die Produktionsabläufe ein. In der Forschung wird daher von
einer verbleibenden „Residualkategorie“ von qualifizierter
Produktionsarbeit gesprochen.
• Zum Dritten kann aber auch eine Qualifikationsaufwertung
und Tätigkeitsanreicherung erwartet werden. Als Grund hierfür können die erhöhte Komplexität der Fertigung und die informationstechnologische Dezentralisierung von Entscheidungs-, Kontroll- und Koordinationsfunktionen angesehen
werden. Daher werden die betroffenen Beschäftigten auf der
operativen Ebene gefordert sein, zunehmend eigenständig zu
planen und Abläufe abzustimmen. Erforderlich wird beispielsweise ein breiteres Verständnis über das Zusammenwirken des gesamten Produktionsprozesses, der Logistikanforderungen sowie der Lieferbedingungen.
organisation
Quelle: eigene Darstellung
Quelle: eigene Darstellung
14
p r o f. d r . h a r t m u t h i r s c h - k r e i n s e n ( t u d o r t m u n d )
Gestaltungsalternativen existieren
Resümiert man die vorliegenden Befunde über den Wandel von
Tätigkeits- und Qualifikationsstrukturen, so wird zunächst deutlich, dass die Perspektive einer vollständigen Automatisierung
und der menschenleeren Fabrik aus technologischen und ökonomischen Gründen keine realistische Perspektive darstellen
kann. Zugleich ist aber auch kein „one-best-way“ der Entwicklung von Arbeit an smarten Produktionssystemen erkennbar.
Auszugehen ist vielmehr von einem breiten Spektrum divergierender Muster der Arbeitsorganisation:
Das eine Muster entspricht einem Gestaltungsansatz, der auf
den skizzierten Tendenzen der innerbetrieblichen Heterogenisierung von Aufgaben, Qualifikationen und Personaleinsatz beruht. Es finden sich in den Produktionssystemen einerseits eine
vermutlich nur noch geringe Zahl einfacher Tätigkeiten mit geringem oder keinem Handlungsspielraum, die laufende standardisierte Überwachungs- und Kontrollaufgaben ausführen. Andererseits ist eine ausgeweitete oder auch neu entstandene Gruppe
hoch qualifizierter Experten und technischer Spezialisten anzutreffen, deren Qualifikationsniveau deutlich über dem bisherigen Facharbeiterniveau liegt. Diesen Beschäftigten obliegen
nicht nur dispositive Aufgaben etwa der Störungsbewältigung,
sondern sie übernehmen verschiedentlich auch Aufgaben des
Produktionsmanagements. Verkürzt kann dieses arbeitsorganisatorische Muster als Polarisierte Organisation bezeichnet werden (vgl. Abb. 2).
Das andere Muster des Spektrums wird von einem arbeitsorganisatorischen Gestaltungsansatz gebildet, der metaphorisch als Schwarm-Organisation bezeichnet werden kann.
Diese Form der Arbeitsorganisation ist durch eine lockere
Vernetzung sehr qualifizierter und gleichberechtigt agierender Beschäftigter gekennzeichnet. Einfache und niedrig qualifizierte Tätigkeiten sind hier nicht anzutreffen, denn sie
sind weitgehend durch die Automatisierung substituiert worden. Zentrales Merkmal dieses Organisationsmusters ist, dass
es keine definierten Aufgaben für einzelne Beschäftigte gibt,
vielmehr handelt das Arbeitskollektiv selbst organisiert, hoch
flexibel und situationsbestimmt je nach zu lösenden Problemen im und am technologischen System. Anders formuliert,
dieses Muster der Arbeitsorganisation zielt auf die explizite
Nutzung informeller sozialer Prozesse der Kommunikation
und Kooperation und der damit verbundenen extrafunktionalen Kompetenzen und des akkumulierten spezifischen Prozesswissens der Beschäftigten (vgl. Abb. 3).
Insgesamt bezeichnen diese beiden arbeitsorganisatorischen
Muster grundlegend unterschiedliche Perspektiven von Produktionsarbeit. Vermutlich werden sich auf Dauer Mischformen und
Zwischenlösungen einspielen. Diese beiden Muster verweisen
jedoch darauf, dass Unternehmen bei der Einführung von Industrie 4.0-Systemen nicht nur organisatorische und personalpolitische Wahlmöglichkeiten haben, sondern sich damit auch je
nach der konkreten betrieblichen Situation auch sehr verschiedene soziale und ökonomische Effekte verbinden können. Welcher Art diese sind und welche Einflussgrößen die konkrete Arbeitsgestaltung bei der Einführung von Industrie 4.0-Systemen
bestimmen, muss Gegenstand intensiver Forschungs- und Entwicklungsanstrengungen sein.
LITERATUR
Avant, R. (2014): The third great Wave. The
Economist, October 4th, Special Report
Bainbridge, L. (1983): Ironies of automation.
Automatica 19(6), 775-779
Bauernhansel, Thomas (2014): Die Vierte
Industrielle Revolution – Der Weg in ein
wertschaffendes Produktionsparadigma, in:
Bauernhansel, Thomas; ten Hompel, Michael;
Vogel-Heuser, Birgit (Hg.): Industrie 4.0 in
Produktion, Automatisierung und Logistik.
Springer Vieweg, Wiesbaden, 5-36
Forschungsunion/acatech (2013):
Deutschlands Zukunft als
Produktionsstandort sichern.
Umsetzungsempfehlungen für das
Zukunftsprojekt Industrie 4.0.
Abschlussbericht des Arbeitskreises Industrie
4.0. Berlin
Hirsch-Kreinsen, H. (2014): Wandel von
Produktionsarbeit – „Industrie 4.0“. WSIMitteilungen, 67(6), 421-429
Hirsch-Kreinsen, H./Ittermann, P./Niehaus, J.
(Hg. 2015 - i.E.): Digitalisierung von
Industriearbeit. Editione sigma, Berlin
Kagermann, H. (2014): Chancen von Industrie
4.0 nutzen. In: Bauernhansl, T./ten Hompel,
M./Vogel-Heuser,B. (Hg.): Industrie 4.0 in
Produktion, Automatisierung und Logistik.
Anwendung, Technologien, Migration.
Springer Vieweg, Wiesbaden, 603-614
Lutz, B. (1987): Das Ende des
Technikdeterminismus und die Folgen, in:
Lutz, B. (Hg.): Technik und Sozialer Wandel.
Verhandlungen des 23. Deutschen
Soziologentages. Campus, Frankfurt
am Main, 34-57
Pfeiffer, S. (2013): Arbeit und Technik. In:
Hirsch-Kreinsen, Hartmut/Minssen, Heiner
(Hg.): Lexikon der Arbeits- und
Industriesoziologie. Edition sigma,
Berlin, 48-53
Plattform Industrie 4.0 (2014): Neue Chancen
für unsere Produktion. 17 Thesen des
Wissenschaftlichen Beirats der Plattform
Industrie 4.0. Berlin
Spath, D./Ganschar, O./Gerlach, S./Hämmerle,
M./Krause, T./Schlund, S. (Hg. 2013):
Produktionsarbeit der Zukunft – Industrie 4.0.
Stuttgart
Trist, E./Bamforth, K. (1951): Some social
and psychological consequences of the long
wall method of coal-getting. Human
Relations 4(1), 3-38
15
p r o f. d r . - i n g . w i l h e l m b a u e r ( f r a u n h o f e r i a o s t u t t g a r t )
Arbeitsorganisation in der Fabrik 4.0
Professor Dr.-Ing. Wilhelm Bauer ist Leiter des Fraunhofer-Instituts für Arbeitswirtschaft
und Organisation IAO sowie des Instituts für Arbeitswissenschaft und Technologie­
management IAT der Universität Stuttgart. Er verantwortet mit über 500 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern Forschungs- und Umsetzungsprojekte in den Bereichen
­Innovationsforschung, Technologiemanagement, Leben und Arbeiten in der Zukunft,
Smarter Cities. 2012 vom Land Baden-Württemberg als „Übermorgenmacher“ geehrt,
­leitet er die Fraunhofer-Initiative „Morgenstadt“ und ist Mitglied in der „Nationalen
­Plattform Zukunftsstadt“ der Bundesregierung.
Wir befinden uns nach der Erfindung der Dampfmaschine, der
Industrialisierung und dem Start des Computerzeitalters, mit
dem »Internet der Dinge und Dienste« am Beginn der nächsten
industriellen Revolution. Die Digitalisierung eröffnet eine Vielzahl neuer Möglichkeiten, die das Leben der Menschen einfacher machen und neue Chancen für gesellschaftliche, soziale
und kulturelle Entwicklungen bieten.
Bedürfnisse und Verhalten von Menschen im Wandel
Veränderungen im Bereich »Mensch und Gesellschaft« liegen in
erster Linie im demografischen Wandel und einer zunehmenden
Diversity der Gesellschaft begründet. Im Einklang mit der Gesamtentwicklung der Demografie in Deutschland wird das Durchschnittsalter der Belegschaften in vielen Bereichen über die
nächsten Jahre anwachsen. Für die Arbeit bedingt diese
Abb. 1: treiber
Entwicklung die zunehmende Ausrichtung auf Aspekte der gesundheits- und alternsgerechten Arbeitsgestaltung. Zudem werden in den nächsten zehn bis 15 Jahren in vielen Bereichen überproportional viele Mitarbeiter aus dem aktiven Berufsleben ausscheiden, da die starken »Baby-Boomer«-Jahrgänge dann in Rente gehen.
Parallel zu dieser Entwicklung wachsen die Unterschiede zwischen den Lebenswelten der Generationen, die in der betrieblichen Realität in einer höheren Individualisierung der Einzelinteressen zum Ausdruck kommen. Der Unterschiedlichkeit der
favorisierten Arbeitsweise sowie den individuellen Ansprüchen
auf höhere zeitliche Flexibilität und räumliche Mobilität der Mitarbeiter durch kollektive Regelungen gerecht zu werden, gestaltet sich zunehmend schwierig. Insbesondere mit Blick auf die
vielzitierten »Generation Y« und »Generation Z« werden die
der transformation
16
p r o f. d r . - i n g . w i l h e l m b a u e r ( f r a u n h o f e r i a o s t u t t g a r t )
Abb. 2: individuelle
und unternehmerische interessen
Unterschiede der Altersgruppen und der Wandel der zugrundeliegenden Erwartungen sichtbar. Die diese Generationen charakterisierenden Erwartungshaltungen und Vorstellungen einer
flexiblen und selbstbestimmten Lebens- und Arbeitsweise sind
schon heute in großen Teilen durch einen nativen Umgang mit
Mobilgeräten und Vernetzung geprägt.
Abb. 3: smarter
Die Unterschiedlichkeit der Interessen nimmt auch durch einen
steigenden Anteil von Frauen an der Arbeitsbevölkerung sowie
die durch die Globalisierung und die grenzüberschreitende Mobilität ausgelöste Internationalität der Belegschaften und das damit verbundene Aufeinandertreffen unterschiedlicher Kulturen,
Religionen und Lebensanschauungen zu. Familien, in denen
working als folge größerer diversität
17
p r o f. d r . - i n g . w i l h e l m b a u e r ( f r a u n h o f e r i a o s t u t t g a r t )
beide Elternteile berufstätig sind, haben hohe Ansprüche an die
Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Beschäftigte mit Angehörigen, die Zuwendung oder Pflege benötigen, generieren Anforderungen an zeitliche und räumliche Flexibilität in der Arbeit. Das
Bedürfnisprofil variiert in Abhängigkeit der jeweiligen Lebensphase und -situation zunehmend.
Das Thema der Work-Life-Integration rückt mehr und mehr in
den Fokus der Diskussionen zur Gestaltung von Arbeit – Geben
und Nehmen wird zur Maxime der Arbeitsorganisation. Als eine
Folge ist erkennbar, dass die Arbeit sich in den Dimensionen
Struktur, Ort und Zeit weiter differenziert. Nicht mehr die Menschen kommen zur Arbeit, sondern die Arbeit kommt zu den
Menschen!
Technologische Entwicklungen und technische
Innovation im Kontext neuer Geschäftsmodelle und
Wertschöpfungssysteme
Im Bereich »Technologie und Technik« sind drei wesentliche
Entwicklungsebenen sichtbar, die die Umbrüche hin zu einer digital vernetzten und zunehmend autonomen datenbasierenden
Welt verdeutlichen. Dabei sind den Ambitionen von Technikern
scheinbar keine Grenzen gesetzt:
Verschmelzen von realer und virtueller Welt: Arbeitsprozesse
werden sich zukünftig in unterschiedlichen Umgebungen (z. B.
individuell am Arbeitsplatz, unterwegs mittels Smartphonenutzung, kollaborativ innerhalb virtueller Netzwerke) und neuen
Kontexten abspielen (»Computing everywhere«). Die virtuelle
und reale Welt werden integriert, die Realität durch
Abb. 4: strategische
Informationsoverlays erweitert. Im Internet der Dinge kommunizieren intelligente vernetzte Objekte miteinander und mit den
Menschen und ermöglichen z. B. die autonome Steuerung von
Materialflüssen und Logistik. Mittels generativer Verfahren
(3D-Druck) können Alltagsgegenstände, aber auch industrielle
Bauteile in »Stückzahl 1« zu vergleichbaren Kosten einer Massenproduktion hergestellt werden – eine personalisierte Produktentstehung wird möglich.
Intelligence everywhere: Die Menschen erhalten technische
Unterstützung und Verstärkung, die ihnen beinahe übernatürliche Kräfte geben und allumfassendes Wissen bereitstellen wird.
Beschäftigte können hiervon entsprechend des jeweiligen Kompetenzprofils profitieren, z. B. durch Analysealgorithmen, die
die effiziente Filterung von Datenströmen und die Bereitstellung
der erforderlichen Informationen an den jeweiligen Nutzer zur
richtigen Zeit gewährleisten. Kontextbasierte Systeme reagieren
zudem auf ihre Umwelt und stellen proaktiv passgenaue Handlungsempfehlungen zur Verfügung, um Geschäftsprozesse digital gestützt zu optimieren. Autonome Systeme unterstützen den
Menschen und nehmen ihm zunehmend auch Entscheidungen
ab. Die Fortschritte im Bereich der künstlichen Intelligenz (KI)
und Robotik führen zu intelligenteren Maschinen und leisten einen wesentlichen Beitrag für die zukünftige Arbeitsteilung und
neue Wertschöpfungskooperationen durch multimodale
Mensch-Roboter-Kollaboration (MRK). Auch Dienstleistungsbereiche werden durch die Präsenz von Robotern und autonomen
Systemen weitergehend automatisiert und entwickeln sich zu digitalen Entitäten.
technologietrends 2015
18
p r o f. d r . - i n g . w i l h e l m b a u e r ( f r a u n h o f e r i a o s t u t t g a r t )
Aufkommen einer neuen IT-Realität: Cloud Computing ermöglicht die durchgängige Synchronisation von Dokumenten und
den orts- wie auch zeitunabhängigen Zugriff auf diese durch
mobile Endgeräte. Flexible und dynamische Anwendungen und
skalierbare Infrastrukturmodelle sind der Garant für neue digitale Geschäftsmodelle und Wertschöpfungssysteme (»Smart
Business«) und den weiteren Ausbau des Internets als Business-Plattform. Diese ist geprägt durch Kundeninteraktion und
Anwendervielfalt und bedeutet die Abkehr von klassischen Produkten und Services hin zu individualisierten Leistungsbündeln
(Produkt-Service-Innovationen). Schutz- und Sicherheitsmaßnahmen dienen der Absicherung vor der sogenannten
Cyberkriminalität.
Die Fabrik 4.0 im Internet of Things
In der aktuellen Diskussion prägt momentan vor allem der Begriff »Industrie 4.0« die öffentliche Diskussion. Internet und
Mobiltechnologien haben über die letzten zehn Jahre unser Leben und Arbeiten grundlegend verändert. Die Vernetzung von
physischer und virtueller Welt durchdringt immer weitere Bereiche – gerade die Arbeit im Büro hat sich fundamental verändert. Zusammen mit einer neuen Stufe der Automatisierung und
der Diffusion des Konzepts des Internet der Dinge und Dienste
vollzieht sich momentan die Übertragung in die industrielle
Produktion.
Industrie 4.0 bezeichnet vor diesem Hintergrund die echtzeitfähige, intelligente Vernetzung von Menschen, Maschinen und
Objekten zum Management von Systemen. Über IP-Adressen
vernetzte Objekte, die mit eingebetteter Hard- und Software
(»Cyber-Physical Systems«) ausgestattet sind, interagieren mit
ihrer Umwelt. Die sich selbst organisierende Smart Factory bildet dabei Vision und Gegenstandsbereich – ähnlich wie Smart
Mobility, Smart Logistics, Smart Grid, Smart Building oder
Smart Health. Nach Mechanisierung, Industrialisierung und
Automatisierung wird der intelligenten Vernetzung der Industrie das Potenzial einer vierten industriellen Revolution zugetraut. Aufgesetzt als industrie-politisches Programm zur Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft umfasst Industrie 4.0 ein ganzes Bündel an Technologien, Lösungen und Anwendungen, deren Kern auf die Übertragung des
Konzepts des »Internet der Dinge« auf die industrielle Wertschöpfung und die Produktion abzielt. Bezogen auf die voraussichtlichen Anwendungsbereiche werden signifikante Produktivitätsgewinne erwartet.
Neben der Entwicklung im Bereich Industrie 4.0 wird vielfach
eine nächste Welle der Automatisierung durch Robotersysteme
erwartet. Diese begründet sich im rapiden Preisverfall, vor allem
im Bereich der industriell einsetzbaren Leichtbaurobotik. Ähnlich wie bei Industrie 4.0 existiert allerdings auch beim Thema
Robotik momentan noch eine große Diskrepanz zwischen Erwartungshaltung und betrieblicher Realität. So sind zwar heute
noch sehr wenige Leichtbauroboter im industriellen Einsatz, für
die nächsten Jahre wird hingegen mit einem massiven Aufbau
neuer Anwendungen gerechnet. Die skizzierten Entwicklungen
der Automatisierung und Digitalisierung hängen zumindest indirekt zusammen. Die zunehmende Automatisierung direkter –
vor allem taktgebundener Tätigkeiten in Fertigung, Montage und
Logistik – intensiviert Koordinations- und Kooperationsprozesse
LITERATUR
acatech. Promotorengruppe Kommunikation
der Forschungsunion Wirtschaft und Wissenschaft (Hrsg.) 2013: Umsetzungsempfehlungen für das Zukunftsprojekt Industrie 4.0, Abschlussbericht des Arbeitskreises Industrie
4.0. Berlin.
Bauer, W.; Herkommer, O.; Schlund, S. (2015):
Die Digitalisierung der Wertschöpfung
kommt in deutschen Unternehmen an - Industrie 4.0 wird unsere Arbeit verändern. In:
ZWF – Zeitschrift für den wirtschaftlichen Fabrikbetrieb. Jahrg. 110, 1-2, S. 2-7.
BMBF (Bundesministerium für Bildung und
Forschung) (Hrsg.) (ohne Jahr): Zukunftsbild
»Industrie 4.0«, Bonn. http://www.bmbf.de/
pubRD/Zukunftsbild_Industrie_40.pdf.
BITKOM (2014): Industrie 4.0 – Volkswirtschaftliches Potenzial für Deutschland. Studie. Fraunhofer IAO. Berlin.
Brand, L. et al. (2009): Internet der Dinge.
Übersichtsstudie, Zukünftige Technologien
Nr. 80, Hrsg. v. Zukünftige Technologien
Consulting der VDI Technologiezentrum
GmbH, Düsseldorf.
Brynjolfsson, E.; McAfee, A. (2014): Second
Machine Age. Work, Progress, and Prosperity
in a Time of Brilliant Technologies. New York.
DIHK (Deutscher Industrie- und Handelskammertag) (Hrsg.) (2015): Wirtschaft 4.0: Große
Chancen, viel zu tun. Das IHK-Unternehmensbarometer zur Digitalisierung. Berlin. http://
www.dihk.de/presse/
meldungen/2015-02-05-unternehmensbarometer-digitalisierung.
Gartner, Inc.: Gartner Identifies the Top 10 Strategic Technology Trends for 2015. 8. Oktober
2014; http://www.gartner.com/newsroom/
id/2867917; abgerufen am 7. Januar 2015.
Heng, S. 2014: Industrie 4.0 – Upgrade des Industriestandorts Deutschland steht bevor,
Deutsche Bank Research. Frankfurt a.M.
Ingenics/Fraunhofer IAO 2014: Industrie 4.0 –
Eine Revolution der Arbeitsgestaltung. Wie
Automatisierung und Digitalisierung unsere
Produktion verändern werden. Ulm.
Spath, D. (Hrsg.) (2013): Produktionsarbeit der
Zukunft – Industrie 4.0.
Windelband, L.; Spöttl, G. (2011): Konsequenzen der Umsetzung des »Internet der Dinge«
für Facharbeit und Mensch-Maschine-Schnittstelle. In: FreQueNz-Newsletter
2011, 11-12. http://www.frequenz.net/
uploads/ tx_freqprojerg/frequenz_newsletter2011_web_final.pdf.
19
p r o f. d r . - i n g . w i l h e l m b a u e r ( f r a u n h o f e r i a o s t u t t g a r t )
Abb. 5: arbeitsorganisation
in der fabrik 4.0 – ganzheitliche
gestaltung guter arbeit
zwischen Menschen und Maschinen, die wiederum Ansatzpunkt
und Gegenstand für Digitalisierung sind.
Aspekte der Arbeitsorganisation in der Fabrik 4.0
Arbeitsorganisation in der industriellen Produktion wird immer
noch stark von den großen Entwicklungen der Produktions- und
Arbeitsgestaltung der vergangenen Jahrzehnte geprägt: Humanisierung der Arbeit, CIM (Computer-integrated Manufacturing),
Lean Management und Wandlungsfähigkeit. Der heute mit Industrie 4.0 durch die Digitalisierung und Automatisierung von
Wertschöpfungssystemen und -prozessen erwartete Entwicklungssprung beruht einerseits auf den neuen Möglichkeiten, die
sich durch die Weiterentwicklung der IT ergeben; gleichzeitig
sind Effizienzsteigerungen zu erzielen, um Übertreibungen, wie
sie im Zuge vieler CIM-Projekte stattgefunden haben, zu vermeiden. Industrie 4.0 wie auch die Weiterentwicklung des Lean Managements stellen die engere Verzahnung von Produktentwicklung, Produktionsplanung und Produktion in den Vordergrund.
Bedingt durch die Trends der immer stärker ausgeprägten Individualisierung von Produkten, sinkender Produktlebenszyklen
und der Verkürzung der Lieferzeiten gewinnt die schnelle Reaktion auf Kundenanfragen und -änderungen immer mehr an Bedeutung. Dies schlägt sich neben der stärkeren Verzahnung der
Bereiche auch in einer weiteren Übernahme von indirekten Tätigkeiten durch Produktionsmitarbeiter nieder. Bezogen auf die
indirekten Bereiche der Industriearbeit lassen sich heute unterschiedliche Durchdringungsgrade beobachten. Während die
Digitalisierung im Engineering und in der Planung kaum mehr
wegzudenken ist, sind Steuerung, Disposition und indirekte Tätigkeiten auf dem betrieblichen Hallenboden heute vorwiegend
von manuellen Prozessen geprägt.
Aufgrund der noch offenen Entwicklung der Industrie 4.0 können noch keine eindeutigen Einschätzungen über Arbeitsorganisations- und damit verbundene Kompetenzentwicklungspfade
getroffen werden. Deshalb werden im Folgenden Einschätzungen in Verbindung mit zwei auf Windelband und Spöttl (2011)
zurückgehende Extremszenarien bzw. polar entgegengesetzte
Entwicklungsrichtungen angeführt. Bei der ersten Richtung,
dem »Automatisierungsszenario«, wird ein immer größer werdender Teil der Entscheidungen durch die Technik getroffen.
Dies würde den Raum für autonome menschliche Entscheidungen und Handlungsalternativen immer weiter einschränken und
wäre mit der Entstehung einer Kompetenzlücke verbunden: In
einem zunehmend automatisierten System muss der Mensch
nur noch in Störfällen eingreifen, aber zumindest die Mitarbeiter der unteren wie auch mittleren Qualifikationsebene könnten
die dazu notwendigen Kompetenzen nicht mehr erlangen. Bei
der zweiten Entwicklungsrichtung, die hier als »Spezialisierungsszenario« bezeichnet wird, dient die Technik zur Unterstützung menschlicher Entscheidungen und somit von Problemlösungen. Im Unterschied zum Automatisierungsszenario bleibt
hier auch den Produktionsmitarbeitern zumindest der mittleren
Qualifikationsebene ein wesentlich größerer Anteil der
20
p r o f. d r . - i n g . w i l h e l m b a u e r ( f r a u n h o f e r i a o s t u t t g a r t )
Entscheidungen überlassen, womit Prozessoptimierungen, Ein­
griffe bei Störungen und Problemlösungen, und damit vielfältigere, wenn nicht höhere Anforderungen verbunden sind. Im Automatisierungsszenario sollen die Aufgaben von den technischen
Teilen des sozio-technischen Systems übernommen werden, in
die nur Hochqualifizierte eingreifen können.
Im Spezialisierungsszenario sind die Mensch-Technik-Schnittstellen so gestaltet, dass neben den Hochqualifizierten zumindest Fachkräfte der mittleren Qualifikationsebene mit der Technik interagieren können.
Eine Übersicht über zentrale Bereiche zur ganzheitlichen Gestaltung guter Arbeit in der Fabrik 4.0 veranschaulicht die Abbildung 5.
Wichtig ist es zu betonen, dass sich die Arbeit in der Fabrik 4.0
weiterhin an den Grundpfeilern der Arbeitsgestaltung orientiert,
die die klassischen Elemente von »TOP« (Technik, Organisation
und Personal) als ganzheitliches Gestaltungsfeld ansehen und
die Wirkungsdimensionen Humanität und Produktivität in einem balancierten Gestaltungsraum adressieren.
Wenn durch physische Assistenz nicht ergonomische Arbeit
verbessert oder ersetzt wird, ist dies gut so. Wenn alternsgerechte Arbeitsgestaltung dazu beiträgt, Menschen länger im Arbeitssystem zu halten und damit einen Beitrag zum Fachkräftemangel zu leisten und zugleich Menschen die Möglichkeiten
eröffnet, länger arbeiten zu können, ist dies bestens. Wenn lokationsbasierte und kontextsensitive Systeme helfen, dass
Abb. 6: arbeit
technische Anlagen im Sinne von »Predictive Maintenance«
eine höhere Verfügbarkeit gewährleisten und gleichzeitig bei
den Anlagenführern zu weniger Stress bei Anlagenstillstand
führen, dann ist das gute Arbeit. Wenn durch ein vollständiges
digitales Produktionsbild (»Digitale Fabrik«) Simulationen der
Prozesse und Abläufe in Echtzeit erfolgen können und die Produktionsmitarbeiter sofort Aussagen über Ursachen und mögliche Lösungsszenarien bei Produktionsstörungen erhalten,
dann verringert dies Stress bei der Arbeit. Wenn eine Produktionssteuerung unter Einbindung von mit mobilen Apps ausgestatteten Beschäftigten möglich wird, führt das zu mehr
Work-Life-Balance bei den Beschäftigten und zu einer optimalen Produktionssteuerung. Wenn arbeitsprozessintegriertes
Lernen durch zeitgemäße mobile und personalisierte Lernmodule unterstützt wird und Motivation fördert, führt dies zu
mehr Produktivität des Systems und zur Sicherung der Beschäftigungsfähigkeit der Belegschaft. Wenn durch multimodale
Mensch-Technik-Interaktion vernetztes und kollaboratives Arbeiten (z. B. in der Mensch-Roboter-Kollaboration) gefördert
wird, schafft dies neue und interessante zukünftige Jobs.
Umfragen zeigen es deutlich: die Anforderungen an die Qualifikation der in der Fabrik 4.0 Beschäftigten verändern sich erheblich. Informationstechnische und soziale Kompetenzen werden
immer wichtiger. Dies bedeutet nicht die Abkehr von anderen,
z. B. mechatronischen Kompetenzanforderungen, zeigt aber die
Richtung der Veränderungen auf.
in der industrie 4.0 – neue qualifikationsanforderungen
21
s ta t e m e n t s
Stimmen aus der Podiumsdiskussion
Prof. Dr.-Ing. Wilhelm Bauer,
Fraunhofer IAO Stuttgart
„Unsere Gesellschaft und Wirtschaft
Dr. Jozef Nanasi,
der Welt – stehen aufgrund von
Engineering,
– und mit ihr auch viele andere auf
Leiter Industrial
weitreichenden Veränderungen in
Volkswagen Konzern
den Bedürfnisstrukturen und im sozialen Verhalten von
Mensch und Gesellschaft sowie aufgrund der dyna-
„Das Industrial Enginee-
mischen technologischen Entwicklungen und disruptiven
Innovationen bei Geschäftsmodellen und Wertschöp-
fungssystemen vor großen Herausforderungen. Arbeitsund Lebenswelten befinden sich in einer gewaltigen
Transformation: Das Internet und digitale Technologien,
allen voran auch die mobile Nutzung von Daten und deren Interpretation, gestalten nicht nur unseren Alltag
neu, sondern führen auch zu einem tiefgreifenden Wandel von Wirtschaft und Arbeitswelt insgesamt.“
ring wird sich durch Indus-
trie 4.0 deutlich verändern. Zusätzlich zu den
bestehenden Aufgaben muss der Betrachtungs- und Optimierungsumfang auf
Mensch-Roboter-Kooperationen ausgeweitet
werden. In Bezug auf die Optimierung von Produktivität und Ergonomie brauchen wir neue
Analyse und Simulationstools. Gleichzeitig
brauchen wir neue Methoden, um komplexe
und/oder verdeckte Wirkungszusammenhänge
begreifbar zu machen, zum Beispiel durch Datamining. Nur so können wir Prozesse ganzheitlich optimieren.
Die genannten Entwicklungen bleiben nicht
ohne Folgen für die Teamarbeit. Neue Technologien, Analyse- und Optimierungswerkzeuge
machen Prozesse besser beherrschbar und befähigen Teams zu einem effizienteren Prob-
lemlösungsverhalten. Allerdings prognostizieren wir steigende Anforderungen an die
Flexibilität der Teams, um sich auf ein stetig
veränderndes Arbeitsumfeld einstellen zu können. Dadurch entstehen zusätzliche Ausbil-
dungs- und Schulungsbedarfe für die Teammitglieder. “
22
s ta t e m e n t s
Frank Iwer, IG Metall
„Industrie 4.0 wird nicht automatisch eine spezifische neue Form der Arbeitsorganisation
herbeiführen, aber sie schafft neue Spielräume für die Gestaltung der Arbeit. Dabei geht es
aus unserer Sicht darum, den Stellenwert von Produktionsarbeit als langfristige Basis für
Wertschöpfung und Wohlstand zu erhalten und gleichzeitig die Interessenlagen der Menschen einzubringen.
Die Veränderungen werden nicht abrupt eintreten, sondern sich über einen längeren Zeitraum und in unterschiedli-
chen Geschwindigkeiten vollziehen. Für Betriebsräte und Gewerkschaften ist so ein komplexer Prozess schwierig,
deshalb braucht es mittelfristig tragfähige Leitbilder. Wir identifizieren hierfür drei zentrale Themenfelder:
Die (1) Flexibilisierung von Arbeitszeitregelungen und Einsatzorten birgt die Chance, Arbeitseinsätze viel feinkörniger zu gestalten und dabei zugleich Zeitbedürfnisse der Beschäftigten zu berücksichtigen. Sie birgt allerdings
auch das Risiko, Unwägbarkeiten der Produktion den Beschäftigten aufzubürden. Aus technischer Sicht besteht
die Herausforderung darin, komplexe Fragen der (2) Regelung von Datenspeicherung, -nutzung und -auswertung
zu lösen. Neue Möglichkeiten der (3) Arbeitsorganisation bergen zudem die Gefahr, dass die Spreizung zwischen
ganzheitlichen (komplexen) und kleinteiligen (einfachen) Tätigkeiten deutlich zunimmt.“
Michael Riffel,
Gesamtbetriebsrat Volkswagen
„Mit Industrie 4.0 werden sich Arbeitsorganisation und Arbeitsbedin-
gungen erheblich verändern. Weder die Geschwindigkeit des Wandels darf
dabei unterschätzt werden, noch darf sich der Blick einseitig auf den direkten Bereich der Produktion beschränken. Gerade auch auf den soge-
nannten indirekten Bereich (Entwicklung, Konstruktion, Planung und Steuerung u.a.) kommen
weitreichende Veränderungen zu.
Gleichzeitig differenzieren sich die Ansprüche und Erwartungen der Beschäftigten an die Ar-
beitswelt immer weiter aus. Das hat zuletzt die Befragung des Betriebsrates „Gute Arbeit im
Büro“ bestätigt. So wünschen sich etwa die Hälfte aller Mitarbeiter mehr Freiräume bei der Ar-
beitszeit und beim Arbeitsort. Technische Innovationen bieten Chancen, neue Spielräume für die
Beschäftigten zu schaffen. Dabei müssen wir allerdings sicherstellen, dass neue Flexibilität nicht
einseitig zu Lasten der Beschäftigten geht.
Gestaltung von Arbeitsorganisation steht für die Interessenvertretung schon immer im Mittelpunkt. Mit dem Volkswagen-Weg haben wir bei Volkswagen ein bewährtes Instrument. Damit
kann es auch in Zukunft gelingen, den Veränderungsprozess sowohl im Interesse des Unternehmens (z.B. kontinuierliche Produktivitätsfortschritte) als auch im Interesse von Beschäftigten
(z.B. mehr Beteiligung durch Teamarbeit und Shop-Floor-Management) zu gestalten.“
Auch bei der Arbeit der Zukunft wird es darum gehen, den Spagat zwischen den individuellen
und kollektiven Schutz- und Gestaltungsinteressen hin zu bekommen.“
23
impressionen
impressionen
Dr. Alexandra Baum-Ceisig führte
durch die Veranstaltung, an der rund
200 Experten aus Unternehmen,
Wissenschaft, Politik, Gewerkschaften
und Verbänden teilnahmen.
Neben Dr. Neumann und Stefan Wolf begrüßte
Im Anschluss an die Vorträge beteiligten sich
Dr. Josef Baumert als Vorstand für Produktion
zahlreiche Konferenzbesucher an der regen
und Logistik der Volkswagen Nutzfahrzeuge die
Diskussion und stellten so den Transfer des
Konferenzteilnehmer und betonte die
Gehörten in andere Unternehmensbereiche sicher.
Wichtigkeit der konsequenten Einführung von
Industrie-4.0-Technologien für die
Wettbewerbsfähigkeit der industriellen
Produktion.
24
25
p r o f. d r . f r i e d r i c h h u b e r t e s s e r ( p r ä s i d e n t b u n d e s i n s t i t u t f ü r b e r u f s b i l d u n g )
Ausbildung und Qualifizierung für die Fabrik 4.0 –
die Sicht des Bundesinstituts für Berufsbildung
Prof. Dr. Friedrich Hubert Esser. Jahrgang 1959. Ausbildung im Bäckerhandwerk.
Abitur über den „Zweiten Bildungsweg“. Studium der Wirtschaftswissenschaften an der TU Braunschweig sowie der Betriebswirtschaftslehre und Wirt-
schaftspädagogik an der Universität zu Köln. Langjährige wissenschaftliche
Tätigkeit am FBH/Uni Köln sowie von 2004 bis 2011 Leiter der Abteilung „Berufliche Bildung“ beim ZDH. Seit Mai 2011 Präsident des Bundesinstituts für Berufsbildung (BIBB) in Bonn.
Berufliche Handlungsfähigkeit sichert
langfristige Beschäftigungsfähigkeit
Laut Berufsbildungsgesetz hat die Berufsausbildung die für die
Ausübung einer qualifizierten Tätigkeit in einer sich wandelnden Arbeitswelt notwendigen beruflichen Fertigkeiten, Kenntnisse und Fähigkeiten (berufliche Handlungsfähigkeit) in einem
geordneten Ausbildungsberuf zu vermitteln. Das bedeutet: Berufsausbildung in Deutschland ist kein On-the-Job-Training, das
kurzfristig „Skills“ zum Ausüben einzelner Tätigkeiten vermittelt. Vielmehr geht es darum, auf Grundlage breit angelegter
Kompetenzen (junge) Menschen zu befähigen, komplexe Aufgabenstellungen zu meistern – und dies selbständig, im Team, in
veränderten Kontexten und auch durch permanentes
Weiterlernen.
Klar ist: Die Arbeit in der Fabrik 4.0 wird anspruchsvoll und
mehr soziale sowie personale Kompetenzen verlangen. Wer verantwortungsvolle und autonome Tätigkeiten übertragen will,
muss freilich darauf achten, dass das Personal sehr gut in der
Lage ist, abstrakt zu denken, sich selbst zu organisieren und damit selbständig zu handeln. Die Rahmen(lehr)pläne für Ausbildungsbetriebe und Berufsschulen eröffnen Spielräume bei der
Ausbildungsgestaltung. Diese Spielräume sind aus meiner Sicht
für die Förderung der in der Fabrik 4.0 benötigten Kompetenzen
noch besser zu nutzen. In diesem Zusammenhang möchte ich
darauf hinweisen, dass wir bei der Novellierung von Ausbildungsberufen durch offen formulierte Kompetenzbeschreibungen über mindestens eine Dekade die Möglichkeit der Nutzung
dieser Spielräume durch Betriebe und Berufsschulen sichern.
Die Digitalisierung ist eine Herausforderung
für das duale Berufsbildungssystem, an der sich
seine Zukunftsfähigkeit bemisst
Das Duale System der Berufsausbildung steht insbesondere mit
Blick auf die demographische Entwicklung sowie angesichts der
wachsenden Studierneigung der Schulabgänger vor großen Herausforderungen. Über die möglichst zügige Aufnahme von für
die Fabrik 4.0 benötigten Qualifikationsanforderungen in ganzheitliche Berufslaufbahnkonzepte, vom Aufbau von Prozessund Systemwissen über die Beherrschung von Programmiersprachen bis hin zu berufsspezifischen Details wie dem Umgang
mit Software in fahrzeugtechnischen Systemen, können die Berufe des Dualen Systems zukunftsfest und damit auch attraktiver
gegenüber Studienangeboten gemacht werden.
Denn für Unternehmen und Mitarbeiter sind berufsbegleitende
Aufstiege vorteilhaft – wegen der Kosten, des Verbleibs im Unternehmen sowie als Brücke zwischen Arbeiten und Lernen. Wir
sollten uns darüber im Klaren sein, dass dual Ausgebildete im
Wettbewerb mit Absolventen akademischer Ausbildungen auch
im Zeitalter von Wirtschaft 4.0 bestehen müssen.
Die Betriebe und die Berufsschulen müssen
ihr Ausbildungsverhalten ändern, um sich
an neue Qualifikationsbedarfe anzupassen
Die mit der Weiterentwicklung von Betrieben zur Fabrik 4.0
einhergehenden Veränderungen der betrieblichen Anforderungen verlangen Flexibilität und Veränderungsbereitschaft
bei Unternehmern und Mitarbeitern. Die Unternehmen sollten
26
p r o f. d r . f r i e d r i c h h u b e r t e s s e r ( p r ä s i d e n t b u n d e s i n s t i t u t f ü r b e r u f s b i l d u n g )
In der anschließenden Podiumsdiskussion erläutert Prof. Esser seine Thesen zu den notwendigen Veränderungen
im deutschen Berufsbildungssystem bezüglich der Anforderungen der Industrie 4.0.
bei ihrer Ausbildungsplanung nicht nur ihren quantitativen,
sondern auch ihren qualitativen Fachkräftebedarf prüfen – und
zwar mit Blick auf die möglichen künftigen Arbeitsplätze und
auf die Tätigkeitsprofile der Facharbeiter. Für schnellere bedarfsbezogene Anpassungen eignen sich vor allem Zusatzqualifikationen. Zugleich ist gerade für kleine und mittlere Betriebe
evident: Die Verbundausbildung muss noch stärker genutzt
werden, vor allem im Dienstleistungssektor und im Handwerk.
Berufsschulen sollten sich noch mehr als Dienstleister verstehen und ihr Profil hinsichtlich möglicher beruflicher Einsatzgebiete der Absolventinnen und Absolventen schärfen. Sinnvoll
können unter anderem Schwerpunktschulen bzw. –Klassen
sein, zum Bespiel für Windenergieanlagen, für Gebäudetechnik und für Aufzugs- und Fahrtreppenbau. Dies wird jedoch
noch genauer zu prüfen sein.
Last but not least müssen Betriebe und Berufsschulen noch
mehr in die Qualifizierung ihres Ausbildungspersonals investieren; denn sowohl Ausbildern wie auch Berufsschullehrern
kommt eine Schlüsselfunktion bei der Qualifizierung für die
Wirtschaft und Gesellschaft 4.0 zu. Von ihren Kompetenzen
hängt es letztlich ab, wie schnell und wie gründlich die neuen
Qualifikationsanforderungen mit entsprechend effektiven Lehrund Lernarrangements zum Standard in Betrieben und berufsbildenden Schulen werden. Von Bedeutung ist dabei auch die
Vernetzung – zwischen Ausbildern und Berufsschullehrern in
der Region sowie mit den Prüfungsausschüssen in den Kammern
und Innungen.
Die vorhandenen Ausbildungsberufe sind
zukunftsorientiert und offen für sich verändernde
Qualifikationsanforderungen
Es ist wichtig, dass die Inhaber von Ausbildungsberufen über
Jahrzehnte ihres Arbeitslebens in der Lage sind, veränderte Aufgaben zu meistern. Ausbildungsberufe müssen gleichwohl
angesichts der Digitalisierung künftig noch mehr als Basisberufe
verstanden werden, die kontinuierliche Fortentwicklung ermöglichen. Dem dürfen auch Unternehmen, Prüfungsausschüsse
und Sozialparteien nicht entgegenstehen.
Die Digitalisierung betrifft die meisten Ausbildungsberufe, unter
anderem in den Bereichen Gesundheit und Pflege (hier wäre
etwa der Pflegeroboter zu nennen), öffentliche Verwaltung,
Bauindustrie und Bauhandwerk, Verkehr und Logistik. Beispielsweise möchte der Online-Versandhändler „Amazon“ bis
2017 kleine Pakete mit Drohnen ausliefern; eingeschränkte
Tests dürfen schon jetzt stattfinden. Im Kontext von Industrie 4.0
bzw. Wirtschaft 4.0 oder bei der Digitalisierung könnten neue
Berufsprofile entstehen: in der Instandhaltung (an der Schnittstelle zwischen virtuellem und realem System, Diagnostik und
Prozess-Sicherheit) oder bei der Systemführung – dabei geht es
um hochanspruchsvolle Routinetätigkeiten als Systemführer,
zum Beispiel in der Automobilindustrie.
Besonders bedeutsam für den zu erreichenden Ausbildungserfolg ist die allgemeine Bildung. Ergebnisse aus der Qualifikationsforschung zeigen, dass sich die Komplexitäts-, Problemlösungs-, Lern- und vor allem auch Flexibilitätsanforderungen in
den Berufen erhöhen werden. Gerade bei den
­g ewerblich-technischen Berufen ist eine hohe Diagnose­
kompetenz bei Wartung, Service und Reparatur zu erwarten.
Um in der Berufsausbildung das geforderte Prozesswissen aufbauen zu können, bedarf es einer angemessenen
Ausbildungsreife.
Ein regelmäßiges Screening, insbesondere der von der Digitalisierung betroffenen Ausbildungsberufe, wird erforderlich sein
und in enger Kooperation zwischen Wissenschaft, Politik und
Praxis erfolgen. Das BIBB wird in bewährter Qualität dazu beitragen, dass die mit Wirtschaft 4.0 einhergehenden Tätigkeitsprofile
möglichst schnell und valide identifiziert werden, um die Berufe
fundiert und evidenzbasiert weiterzuentwickeln.
27
p r o f. d r . l a r s w i n d e l b a n d ( p ä d a g o g i s c h e h o c h s c h u l e s c h w ä b i s c h g m ü n d )
Qualifikationen und Ausbildungsgestaltung
in Industrie 4.0
Prof. Dr. Lars Windelband, Professor für Technik und ihre
Didaktik und Prodekan an der Pädagogischen Hochschule
Schwäbisch Gmünd sowie Institutsleiter des Instituts
Bildung, Beruf und Technik. Arbeitsschwerpunkte:
Veränderungen in der Mensch-Maschine-Schnittstelle,
Digitalisierung der Arbeitswelt, Früherkennungs- und
Berufsbildungsforschung.
Stand der Umsetzung „Industrie 4.0“
Das Ziel von „Industrie 4.0“ besteht darin, eine höhere Form der
Automatisierung durch eine Verknüpfung des gesamten Produktionsumfeldes zu einer intelligenten Umgebung zu erreichen.
Das „Internet der Dinge“ (IdD) spielt dabei eine entscheidende
Rolle. Durch das Zusammenwirken mit dem „Internet der Dienste“ können Unternehmen mit ihrem gesamten Umfeld kommunizieren. Die Basis bilden dabei Cyber-Physical Systems (CPS),
die die Maschinen, Lagersysteme, Betriebsmittel etc. digital miteinander vernetzen. Ergebnis ist die Auflösung der klassischen
Produktionshierarchie von der zentralen Steuerung hin zu einer
dezentralen Selbstorganisation der Produkte. Das Produkt lenkt
im Zeitalter „Industrie 4.0“ den Produktionsprozess eigenständig. Ergebnis wäre eine grundlegende neue Form der Steuerung
und der Organisation von Produktionsprozessen. Damit wäre ein
neues Automatisierungsniveau erreicht (Hirsch-Kreinsen 2014,
S. 6), da die Selbstoptimierung intelligenter, dezentraler Systemkomponenten und ihre autonome Anpassungsfähigkeit an sich
wandelnde Rahmenbedingungen in Echtzeit erfolgen soll.
Doch wie weit sind die Unternehmen auf dem Weg hin zu „Industrie 4.0“? Das aktuelle IHK-Unternehmensbarometer zur Digitalisierung (DIHK 2015) befragte 1.849 Unternehmen zum Stand der
eigenen Umsetzung der Digitalisierung und deren Beeinflussung
der Geschäfts- und Arbeitsprozesse. 94 Prozent der Unternehmen
sahen eine Beeinflussung der Geschäfts- und Arbeitsprozesse
durch eine vermehrte Digitalisierung. Auf die Frage „Wie schätzen
Sie den Stand der Digitalisierung in Ihrem Unternehmen insgesamt ein?“, antworten 27 Prozent aller Befragten mit „voll“ oder
„nahezu voll“ entwickelt. Dabei kann die Frage der Digitalisierung
nicht mit der Entwicklung von „Industrie 4.0“ gleichgesetzt werden. In „Industrie 4.0“ sollen Automatisierung und Digitalisierung zugunsten effizienterer Fertigungsmethoden verschmelzen.
Hier sehen sich vor allem die großen Mittelständler und Großunternehmen (ab 500 Mitarbeiter) mit ca. 37 Prozent gut aufgestellt,
wohingegen die kleineren Unternehmen noch Nachholbedarf (26
Prozent sehen sich gut aufgestellt) haben (DIHK 2015, S. 7).
Anwendungsfelder und Kompetenzen in der „Industrie 4.0“
Für die Fragen der weiteren Kompetenzanforderungen an die
Beschäftigten im Umgang mit jenen Industrie
4.0-Anwendungen bleibt zu klären, welche Funktionen im konkreten Anwendungsfall tatsächlich von CPS übernommen werden und welche beim Menschen verbleiben. Vom Grad und Umfang der Aufgabenübernahme durch CPS im Rahmen der jeweiligen Industrie 4.0-Anwendungen lassen sich erste Konsequenzen hinsichtlich zukünftig benötigter Kompetenzen von
Beschäftigten ableiten.
Zurzeit werden unterschiedliche Anwendungsszenarien der
Mensch-Maschinen-Schnittstelle für den Einsatz von CPS in der
Produktion diskutiert (vgl. Gorecky et al. 2014):
• Instandhaltung (d.h. Wartung, Inspektion, Instandsetzung
und Optimierung) von Produktionsanalagen durch Bereitstellen von interaktiven, virtuellen Handlungsanweisungen,
• Überwachung von Produktionsprozessen sowie Qualitätskontrolle durch das kontextsensitive Abrufen und Bereitstellen von
Informationen, z.B. bezüglich des Status eines CPS,
• Planung und Simulation von Produktionsprozessen, indem
z.B. das Verhalten von CPS vorgezeichnet wird,
• Einsatz von Leichtbaurobotern (sensitive Robotik) bei Automobilherstellern und -zulieferern in enger Zusammenarbeit
mit den Beschäftigten.
Unternehmen wählen beispielsweise aufgrund unterschiedlicher Markt- und Produktionsanforderungen verschiedene Kombinationen aus Technologieeinsatzvarianten und Organisationsoptionen. Allerdings zeigen die vorhergehenden Ausführungen,
dass sich Industrie 4.0 schon rein technologisch noch in der Entwicklung befindet. Somit können Aussagen über Technologie-,
Arbeitsorganisations- und damit verbundene Kompetenzentwicklungspfade noch nicht hinreichend eindeutig getroffen werden und werden in den einzelnen Branchen und Unternehmen
unterschiedlich aussehen. Dabei zeichnen sich zwei Entwicklungsrichtungen ab:
1. Die Technologien mit einem offenen Informationssystem werden so entwickelt und konfiguriert, dass auf dieser Basis der
Mensch die Entscheidungen trifft oder
2. eine restriktive, kontrollierende Technologie wird umgesetzt,
die auf der Basis von automatisch generierten Informationen
eigenständig, selbständig Entscheidungen trifft.
28
p r o f. d r . l a r s w i n d e l b a n d ( p ä d a g o g i s c h e h o c h s c h u l e s c h w ä b i s c h g m ü n d )
Diese beiden Entwicklungsrichtungen sollen die Chancen und
Gefahren einer Entwicklung zu Industrie 4.0 symbolisieren.
Windelband/Spöttl (2012, S. 217) sprechen von einer Entwicklungsrichtung hin zum Assistenzszenario und/oder hin zum
Automatisierungsszenario. Bei einer Entwicklung in Richtung
Assistenzszenario würde der Mensch eine Mitgestaltungsmöglich behalten und Industrie 4.0 würde ein „Assistenzsystem“
zur Unterstützung der Fachkraft sein. Die Fachkompetenz der
Fachkräfte wird dabei bei jedem Auftrag benötigt. Die Kompetenzanforderungen setzen voraus, dass die notwendigen Informationen zur Beherrschung der Arbeitsprozesse bereitgestellt
werden und für die Kompetenzentwicklung passende Qualifizierungsansätze zur Verfügung stehen. Fachkraft (oftmals Facharbeiterniveau) und Technologie würden sich hier gegenseitig
kontrollieren und beeinflussen, jedoch würde der Mensch immer noch die Entscheidungsgewalt behalten. Bei der zweiten
Richtung, dem „Automatisierungsszenario“, wird ein immer
größer werdender Teil der Entscheidungen durch die Technik
getroffen. Dies würde den Raum für autonome menschliche
Entscheidungen und Handlungsalternativen immer weiter einschränken und wäre mit der Entstehung einer Kompetenzlücke
verbunden: In einem zunehmend automatisierten System muss
der Mensch nur noch in schwerwiegenden und nicht vorhersehbaren Störfällen eingreifen.
Schlussfolgerungen für die Ausbildung
Welche genauen Informationen benötigt die Fachkraft z.B. innerhalb des Instandhaltungsprozesses für das Produktionssystem? Wie können die Daten so aufbereitet werden, dass die
Fachkraft diese direkt für den Arbeitsprozess nutzen kann?
Diese Herausforderung kann nur gemeistert werden, wenn die
Fachkräfte bei der Entwicklung und Implementierung der
CPS-Technologien für die Instandhaltung direkt beteiligt werden. Diese Entwicklung führt zu einer Veränderung des Aufgabenspektrums für die Fachkräfte, die mit höheren Komplexitäts-, Abstraktions- und Problemlösungsanforderungen verbunden sind. Mit Bezug auf fachliche Anforderungen wird die
zukünftige Instandhaltung mehr vertieftes und kombiniertes
Wissen über IT sowie elektronische und mechanische Systeme
verlangen, um bei Störungen schnell reagieren und handeln zu
können. In diesem Kontext wird ein größerer Bedarf nach Kompetenzen zur Parametrisierung sowie Programmierung und
Anwendung von spezieller Software entstehen. Weiterhin werden zumindest Basiskompetenzen bezüglich Netzwerk-, Funkund Übertragungstechnik verlangt, um Ursachen von Störungen identifizieren sowie mit den IT-Experten kooperieren zu
können. Kontroll- und Instandhaltungsaufgaben verlangen
fortgeschrittene Kenntnisse dieser Art. Fachkräfte benötigen
vertieftes Prozesswissen. Instandhaltungspersonal steht höheren Anforderungen bei der Interpretation von Informationen
gegenüber. Gleichzeitig verlangen ein steigender Anteil von
Planungsaufgaben sowie die zunehmende Maschinenkommunikation vertiefte Systemkenntnisse. In diesem Zusammenhang sind Analysefähigkeiten und Methodenkompetenzen notwendig, um mit abstrakten Informationen umgehen zu können
und einen schnellen Überblick über den Produktionsprozess
zu gewinnen (FreQueNz 2011).
Durch die Verschiebungen der Kompetenzen sollte man neben
einer Neuordnung von verschiedenen Berufen (u.a. IT-Berufen
und/oder dem Mechatroniker/in) auch über eine grundlegende
Neustrukturierung der Berufe nachdenken. Eine Zusammenfassung von ähnlichen, berufsübergreifenden Handlungen, Arbeitsprozessen und Kompetenzen zu einem Kernberuf wäre eine
Möglichkeit auf die gestiegenen Anforderungen mit einer hohen
Prozesskompetenz zu reagieren. Dazu müssen jedoch erst einmal die Veränderungen in der Arbeitswelt innerhalb von Industrie 4.0 genau untersucht werden.
LITERATUR
Deutscher Industrie- und Handelskammertag
(DIHK) (Hg.) 2015: Wirtschaft 4.0: Große Chancen,
viel zu tun. Das IHK-Unternehmensbarometer zur
Digitalisierung. Berlin. http://www.dihk.de/presse/meldungen/2015-02-05-unternehmensbarometer-digitalisierung [zuletzt aufgesucht am
23.02.2015]
FreQueNz (Hg.) 2011: Zukünftige Qualifikationserfordernisse durch das Internet der Dinge in der
industriellen Produktion. Zusammenfassung der
Studienergebnisse. http://www.frequenz.net/
uploads/tx_freqprojerg/Summary_indProd_final.pdf [zuletzt aufgesucht am 23.02.2015]
Gorecky, D./Schmitt, M./Loskyll, M. 2014:
Mensch-Maschine-Interaktion im Industrie
4.0-Zeitalter. In: Bauernhansl, T./ten Hompel, M./
Vogel-Heuser, B. (Hg.): Industrie 4.0 in Produktion,
Automatisierung und Logistik. Wiesbaden, S.
525-542.
Grote, G. 2005: Menschliche Kontrolle über technische Systeme – Ein irreführendes Postulat. In:
Karrer, K./Gauss, B./Steffens, C. (Hg.): Beiträge der
Forschung zur Mensch-Maschine-Systemtechnik
aus Forschung und Praxis. Düsseldorf, S. 65-78.
Hirsch-Kreinsen, H. 2014: Wandel von Produktionsarbeit – „Industrie 4.0“, Soziologisches Arbeitspapier Nr. 38, Dortmund. http://www.wiso.
tu-dortmund.de/wiso/is/de/forschung/soz_arbeitspapiere/Arbeitspapier_Industrie_4_0.pdf
[zuletzt aufgesucht am 10.02.2015]
Windelband, L.; Spöttl, G. 2012: Diffusion von
Technologien in die Facharbeit und deren Konsequenzen für die Qualifizierung am Beispiel des
„Internet der Dinge“. In: Faßhauer, U. (Hrsg.): Berufs- und wirtschaftspädagogische Analysen. Barbara Budrich. Opladen & Farmington Hills, S.
205-219.
29
s ta t e m e n t s
Stimmen aus der Podiumsdiskussion
Gerardo Scarpino, Vorsitzender GBA Bildungsausschuss,
Volkswagen
„Die Beschäftigten von morgen
müssen ganz andere Aufgaben
bewältigen, als sie es heute tun.
Das bedeutet, dass unsere Kolleginnen und Kollegen
gezielt neue Kompetenzen aufbauen müssen.
Die Qualifizierung zu Themen, die sich aus der Evo-
lution hin zur Industrie 4.0 ergeben, ist aus unserer
Prof. Dr. Sabine Pfeiffer, Institut
sel für den Weg in die „Fabrik 4.0“. Als GBR Bil-
Forschung München
Sicht kein Modethema. Sie ist vielmehr ein Schlüs-
dungsausschuss unterstützen wir betriebliche und
für Sozialwissenschaftliche
überbetriebliche Initiativen zur Weiterentwicklung
„Das System der Dualen Ausbildung
dere wenn sie zukünftig dazu beitragen Fertig-
giert vorausschauend auf neue Be-
von Aus- und Weiterbildungskonzepten, insbeson-
ist innovativer als sein Ruf und rea-
keiten und Kenntnisse der Kolleginnen und Kolle-
darfe. Das sieht man etwa am Aus- und Weiterbildungs-
auf- und auszubauen. Um das erfolgreich zu gestal-
Produktionstechnologen. Auch bestehende gewerb-
gen zur Digitalisierung von Arbeit und Gesellschaft
ten, braucht es eine technische Grundausstattung
im Unternehmen und das Wissen und die Kompe-
tenz über Zugang und Nutzen von digitalen Medien
und Lerninhalten.
Dabei ist uns besonders wichtig, dass neue Konzepte
nicht zu einer „2-Klassen-Belegschaft“ führen, in der
einige wenige Berufe gefördert und weiterentwi-
ckelt werden, während andere außen vor gelassen
werden.
Wir fordern eine Gesamtstrategie des Unterneh-
mens für eine kontinuierliche Modernisierung des
gesamten Aus- und Weiterbildungsangebotes. Wir
sollten uns dabei auch stets unserer bisherigen
Stärken in der Aus- und Weiterbildung und in der
Qualifizierung besinnen.
Und noch etwas: Lernen braucht Zeit und funktionierende Prozesse – diese Zeit zum Lernen muss recht-
zeitig eingeplant werden und Prozesse müssen frühzeitig entwickelt und eingerichtet werden.“
system für die IT-Berufe oder am Berufsbild des
lich-technische Ausbildungsberufe werden ein „Upgrading“ in Richtung IT- und Systemwissen benötigen. Für
die Veränderung der Ausbildung wie für nötige Weiterbildungsschritte durch Industrie 4.0 gilt: Mehr IT- und
Systemwissen dort einzubauen, wo bereits fundiertes
Fach- und Erfahrungswissen vorhanden ist.
Neben der Weiterentwicklung von Aus- und Weiterbildung
lautet aber die wichtigste Frage: Wie nutzen wir das be-
reits vorhandene Fach- und Erfahrungswissen unserer Dual
Ausgebildeten für die Gestaltung von Industrie 4.0 heute?
Dafür fehlt uns eine Kultur für agile und partizipative Innovationsprozesse auf dem Hallenboden. Deutschland hat
durch die Duale Ausbildung eine weltweit fast einmalige
Qualifikationsstruktur. Gelingt es, dieses Fach- und Erfahrungswissen für die Gestaltung von Industrie 4.0 zu nutzen, werden technische Lösungen entstehen, die nicht
leicht kopierbar sind und die genau dadurch einen nachhaltigen Wettbewerbsvorteil sichern. Zudem sind partizipative, innovationshaltige Arbeitsplätze auch zukünftig für
junge Menschen attraktiv.“
30
s ta t e m e n t s
Ralph Linde, Leiter Volkswagen Group Academy
„Die Qualifizierung muss alle Mitarbeiter, vom Auszubildenden bis zum
Manager, erreichen. Jede Generation hat dabei eine unterschiedliche Techniksozialisierung. Um sich in Aus-und Weiterbildung auf das Thema einzustellen, müssen Lerninhalte, -orte und -arten angepasst werden.
In der Ausbildung wird die Entwicklung der Kompetenzanforderungen die
Ausbildungsberufe verändern. Einige Grundfertigkeiten bleiben gleich. Andere Inhalte werden
durch die Digitalisierung leichter, z.B. durch nutzerfreundliche Bedienoberflächen oder die Vi-
sualisierungen. Das Beherrschen vernetzter Systeme und Anlagen, Kompetenzen wie Program-
mieren und Parametrisieren kommen neu hinzu. Zur Weiterentwicklung der Ausbildungsberufe hat VW gemeinsam mit dem Bildungs- und Wirtschaftsministerium eine Initiative
gestartet, die die bundesweite Entwicklung der Ausbildungsberufe zum Ziel hat.
Um die Ausbildung bei Volkswagen noch näher am Beruf auszurichten, werden Ausbildungs-
stationen näher an die Berufsfamilien gebracht. Gemeinsam mit den Experten werden Ausbildungsinhalte regelmäßig erfasst und weiterentwickelt. Veränderte Anforderungen an die
Kompetenzen der Fachkräfte können schnell erkannt, in die Ausbildung integriert und somit
umgesetzt werden, z.B. bereits heute im Hinblick auf die zunehmende Digitalisierung.“
In der Podiumsdiskussion erörtern Ralph Linde, Prof. Friedrich Hubert Esser, Dr. Konstanze Kurz, Prof. Lars Windelband, Prof. Sabine Pfeiffer und Gerardo
Scarpino (v.l.n.r.) die Stärken und Potenziale der deutschen Berufsausbildung vor den Herausforderungen der Industrie 4.0.
31
dr. techn. norbert elkmann (fraunhofer iff magdeburg)
Arbeitssicherheit bei
Mensch-Roboter-Kooperationen
Dr. techn. Norbert Elkmann schloss 1993 sein Studium als Dipl.-Ing. für Maschi-
nenbau an der Universität Bochum ab und promovierte 1999 an der Technischen
Universität in Wien. Seit 1998 leitet er das Geschäftsfeld Robotersysteme am
Fraunhofer-Institut für Fabrikbetrieb und -automatisierung IFF in Magdeburg.
Sein Forschungsinteresse gilt Assistenzobotern, Inspektionsrobotern und der sicheren Mensch-Roboter-Kollaboration. Er hat mehr als 80 Publikationen veröffentlicht und ist Mitautor des Springer Handbook of Automation.
Herausforderungen und Motivation
Die produzierende Industrie in Deutschland steht vor großen
Herausforderungen. Um die weltweit führende Position z.B. im
Maschinen- und Automobilbau zu halten bzw. auszubauen, müssen Herausforderungen wie dem demografischen Wandel und
der Verbesserung der Wirtschaftlichkeit durch erhöhte Flexibilität und Effizienz begegnet werden. Ein wesentlicher Ansatz zur
Bewältigung der Herausforderungen und Erreichung der vorgenannten Ziele besteht in der Mensch-Roboter-Kooperation
(MRK): durch das Zusammenführen der Stärken der Robotertechnik wie Präzision, hohen Handhabungslasten und ununterbrochenem Einsatz mit den motorischen, sensorischen sowie
perzeptiven und kognitiven Fähigkeiten des Menschen besteht
ein immenses Verbesserungspotential für zukünftige Produktions- und Montagesysteme. Dies setzt eine konsequente Aufhebung der räumlichen Trennung von Mensch und Roboter voraus: Mensch und Roboter teilen sich den Arbeitsraum oder arbeiten direkt Hand in Hand zusammen. Die bisherige Absicherung der Roboterzellen durch trennende Schutzeinrichtungen
ist somit hinfällig. Durch den Wegfall der trennenden Schutzeinrichtungen müssen neue Maßnahmen ergriffen werden, damit
keine Gefahren für anwesende Personen bestehen.
Sicherheitskonzepte gemäß Normung
EN ISO 10218 und TS 15066
Für die Produktionsplanung und die Robotik ergeben sich daraus
eine Vielzahl von neuen Forschungsfeldern und Fragestellungen.
Bisher waren Roboter strikt vom Arbeitsraum des Menschen
durch trennende Schutzeinrichtungen abgeschirmt. Bei Wegfall
dieser Schutzeinrichtungen muss dennoch ausgeschlossen sein,
dass Roboter den Menschen verletzen können. Die Sicherheitsthematik ist von grundlegender Bedeutung, da die Erfüllung der
Sicherheitsanforderungen über die Möglichkeiten und insbesondere auch die Grenzen der Mensch-Roboter- Kooperation maßgeblich entscheidend sein wird.
Die relevanten Normen DIN EN ISO 10218-1 „Industrieroboter –
Sicherheitsanforderungen Teil 1: Roboter“) und DIN EN ISO
10218-2 „Industrieroboter – Sicherheitsanforderungen Teil 2:
Robotersysteme und Integration“ (DIN EN ISO 10218-2 2011)
wurden 2011 in überarbeiteter Form veröffentlicht und beschreiben auch die Anforderungen an die Mensch-Roboter-Kooperation. Sie werden durch die ISO/TS 15066 „Robots and Robotic Devices – Safety Requirements for industrial robots –
Collabo­rative operation“, die sich gegenwärtig in der Bearbeitung befindet und Ende 2015 veröffentlicht wird, ergänzt. Die
bisherigen Grenzwerte aus der DIN EN ISO 10218 aus dem Jahr
2006, die u.a. eine maximale Kontaktkraft ohne Angabe einer
Kontaktfläche von 150N und eine nicht näher definierte Leistungsbegrenzung von 80W festlegte, sind nicht länger gültig. In
der ISO/TS 15066 werden Vorgaben für die Risikobeurteilung
und Gefahrenidentifikation, die Anforderungen an eine Geschwindigkeits- und Abstandsüberwachung sowie biomechanische Grenzwerte für den Kollisionsfall zwischen Mensch und Roboter enthalten sein. Die biomechanischen Grenzwerte definieren erstmals maximal zulässige Kraftwerte und Flächenpressungen für unterschiedliche Bereiche des menschlichen Körpers.
In den Normen werden vier grundsätzliche Sicherheitsansätze
für die Mensch-Roboter-Kooperation aufgeführt:
• Handführung: Manuelles Führen des Roboters z.B. durch Joystick oder Kraft-/ Momentensensor
• Sicherheitsbewerteter überwachter Halt: Roboter muss sicher anhalten bei Personenzutritt in Kollaborationsraum
• Geschwindigkeits- und Abstandsüberwachung: Sichere Robotergeschwindigkeit und festgelegter Mindestabstand zu Personen sowie Geschwindigkeitsreduzierung bei Annäherung
einer Person und Sicherheitshalt bei Verletzung des
Mindestabstands
• Leistungs- und Kraftbegrenzung: Sensorische, mechanische
und/oder elektronische Begrenzung von Kraft bzw. Druck bei
Kollision zwischen Mensch und Roboter
Gemäß der Normung wird für jede Anwendung eine spezifische
Risikoanalyse verlangt, die neben dem Roboter und der eingesetzten Sicherheitssensorik auch das Werkzeug, den Greifer,
den Prozess und das Werkstück betrachtet sowie das Kooperationsszenario mit dem Menschen. Daraus leiten sich die Maßnahmen wie z.B. maximale Robotergeschwindigkeit und die notwendigen Sicherheitstechnologien ab, um die Anlage sicher
32
dr. techn. norbert elkmann (fraunhofer iff magdeburg)
betreiben zu können. Grundvoraussetzung für kooperierende
Roboter sind sichere Steuerungen für Roboter als auch sicherheitszertifizierte Sensorik. Eine sichere Robotersteuerung, die
heute von nahezu allen Roboterherstellern angeboten wird,
überwacht die Geschwindigkeit und Position der Roboterbewegung und stoppt den Roboter im Falle einer Abweichung von der
Sollposition bzw. -geschwindigkeit sofort.
Je nach Einsatzfall können Einzelsicherheitsmaßnahmen ausreichen oder aber auch die Kombination verschiedener Technologien notwendig werden. Die Kombination einer Arbeitsraumüberwachung zur Detektion des Betretens des Warnfeldes
durch Menschen mittels optischer Arbeitsraumüberwachung
oder mittels ortsaufgelöstem Fußboden kann die gemäß Risikoanalyse erforderliche Reduzierung der Robotergeschwindigkeit
sicherstellen. Der Roboter kann zudem z.B. mit interner Momentensensorik oder mit taktiler Sensorik ausgestattet sein und
somit Kollisionen zuverlässig detektieren und den Roboter im
Kollisionsfall sofort stoppen. Auf diese Weise kann eine hohe Effizienz der Roboterzelle bei gleichzeitiger Sicherheit für den
Menschen gewährleistet werden.
Um alle Möglichkeiten der Mensch-Roboter-Kooperation unter
Berücksichtigung der Sicherheit nutzen zu können sind vielfältige
neue Technologien und Sensorsysteme notwendig. Je nach Anwendungsszenario und dem Kooperationsgrad zwischen Mensch
und Roboter (Koexisitenz oder Kollaboration im gemeinsamen Arbeitsraum) müssen die erforderlichen Roboter- und Sensorsysteme ausgewählt werden und als Komplettsystem betrachtet werden. Die bereits heute vorhandenen Technologien ermöglichen
schon eine Vielzahl an Anwendungen. Für die Zukunft sind aber
weitere Roboter- und Sensorsysteme erforderlich, um auf Basis eines Sicherheitstechnologiebaukastens die notwendige Absicherung und Effizenz der Roboterzelle umzusetzen.
© Fraunhofer IFF, Magdeburg 2015 Dr. Norbert Elkmann
Das Fraunhofer IFF arbeitet intensiv an der Entwicklung neuer
Technologien für die sichere Mensch-Roboter-Kooperation.
Nachfolgend werden neue Entwicklungen und Projekte für die
Sicherheitsansätze „Geschwindigkeits- und Abstandsüberwachung“ und „Leistungs- und Kraftbegrenzung“ näher
beschrieben.
Neue Entwicklungen: MRK-Ansatz „Geschwindigkeitsund Abstandsüberwachung“
Der MRK-Ansatz „Geschwindigkeits- und Abstandsüberwachung“ unterscheidet sich von dem Ansatz „Sicherheitsbewerteter überwachter Halt“ dadurch, dass der Roboter nicht beim
Betreten des Roboterarbeitsraums durch den Menschen gestoppt werden muss. Vielmehr muss ein sicherer Abstand zwischen dem Menschen und dem Roboter gemäß Norm ISO
13855 sichergestellt werden. Hierbei werden die Roboter- sowie die Annäherungsgeschwindigkeit des Menschen, die Reaktionszeit der Robotersteuerung und der Roboterbremsweg sowie die Auflösung des Sensorsystems (Detektion des Körpers
oder des Arm oder der Hand des Menschen) berücksichtigt.
Beim Unterschreiten des minimal zulässigen Abstandes muss
der Roboter gestoppt werden, damit sichergestellt ist, dass sich
der Roboter im Falle einer Berührung mit dem Menschen nicht
mehr bewegt. Aktuell existiert kein zertifiziertes Sensorsystem,
dass diese Anforderungen in optimaler Weise umsetzt. Verfügbare Sensorsysteme wie Laserscanner oder das optische Arbeitsraumüberwachungssystem der Firma Pilz (Safety-Eye) erkennen zuverlässig die Position des Menschen im Arbeitsraum
des Roboters. Die notwendigen Minimalabstände zum Roboter
gemäß der Norm ISO 13855 betragen aber in der Regel 2 m und
mehr, da die aktuelle Roboterposition nicht berücksichtigt
wird und die Sensorauflösung den Körper des Menschen, aber
nicht der Hand oder des Fingers zuverlässig detektiert.
Um eine minimale Annäherung des ­Menschen neben
dem Roboter zu gewährleisten und den MRK- Ansatz
„Geschwindigkeits- und Abstandsüberwachung“ optimal
zu erfüllen sind zwei zentrale
Anforderungen umzusetzen:
• Sichere Detektion von Hand
bzw. Finger und nicht nur
des menschlichen Körpers
(Rumpf oder Beine), dadurch Reduzierung des erforderlichen Abstandes gemäß Norm zwischen Mensch
und Roboter um 0,85m
• Dynamische Schutzraumgenerierung, online- Berechnung des Minimalabstandes
zwischen Mensch und Roboter gemäß der aktuellen Roboterbewegung (Kopplung
mit Robotersteuerung)
33
dr. techn. norbert elkmann (fraunhofer iff magdeburg)
Das Fraunhofer IFF hat ein neuartiges optisches Arbeitsraumüberwachungssystem auf Basis von Projektor- und Kameratechnik entwickelt, das erstmalig beide vorab aufgeführten Anforderungen erfüllt und den MRK-Ansatz „Geschwindigkeitsund Abstandsüberwachung“ umsetzt. Das patentierte System
dient dazu, eine Annäherung von Menschen an den Roboter robust und sicher zu detektieren und darauf durch z.B. eine Geschwindigkeitsreduzierung bzw. Stopp des Roboters zu reagieren. Dazu werden Sicherheitsbereiche (Warn- und/oder Schutzfelder) in Form von Linien, Muster oder Flächen direkt in die
Umgebung wie z.B. den Fußboden oder Arbeitsplatz projiziert.
Verletzungen dieser Sicherheitsbereiche durch eine Unterbrechung der Projektionsstrahlen bzw. -fläche durch den Menschen
werden von den umgebenden Kameras zuverlässig detektiert.
Für den Bediener sind zudem jederzeit sowohl aktive Warn- und
Schutzfelder sichtbar.
Neben dem Aspekt der zertifizierbaren Sicherheitssensorik erfüllt das System auch Anforderungen hinsichtlich der Ergonomie
und Akzeptanz. Aufgrund der Sichtbarkeit der Warn- und
Schutzfelder ist dem Menschen jederzeit bekannt, wo sich die Sicherheitsbereiche befinden und er kann eine Verletzung derer
aktiv vermeiden. Durch zusätzliche Einblendungen wie z.B. aktuelle Roboterzustände oder die bevorstehende Roboterbewegung kann die Transparenz für den Menschen weiter erheblich
erhöht werden. Durch die Kombination mehrerer Projektoren
und Kameras kann die Größe des möglichen Überwachungsbereichs an die anwendungsspezifischen Anforderungen adaptiert
werden. Durch die Kopplung des Arbeitsraumüberwachungssystems mit der Robotersteuerung wird eine dynamische Anpassung
der Sicherheitsbereiche bezüglich Form, Größe und Lage auf Basis aktueller Gelenkstellungen und -geschwindigkeiten des
© Fraunhofer IFF, Magdeburg 2015 Dr. Norbert Elkmann
Roboters möglich. Somit können Sicherheitsbereiche generiert
werden, die den Roboter minimal umschließen und damit einen
maximalen Umgebungsraum für den Menschen freigeben.
Neue Entwicklungen: MRK-Ansatz „Kraftbegrenzung“
Der MRK-Ansatz „Kraftbegrenzung“ beschreibt die Anforderungen für den Fall, dass eine Kollision zwischen einem Menschen
und einem in Bewegung befindlichen Roboter stattfindet. In dem
Fall ist eine Kollisionserkennung sowie eine sensorische, mechanische und/oder elektronische Begrenzung von Kraft bzw. Druck
bei der Kollision zwischen Mensch und Roboter notwendig.
Aktuell entwickeln nahezu alle Roboterhersteller Kleinroboter,
die mittels interner Sensorik Kollisionen erkennen und den
Roboter im Berührungsfall stoppen. Ein Beispiel ist z.B. der auf
dem Markt verfügbare KUKA Leichtbauroboter iiwa, der auf Basis der Momentenmessung in allen Robotergelenken Kollisionen erkennt.
Das Fraunhofer IFF hat eine Sensorik entwickelt, die an jedem
Roboter (auch Schwerlastroboter) anwendbar ist und Kollisionen zwischen dem Mensch und dem Roboter zuverlässig erkennt. Das patentierte taktile Sensorsystem lässt sich an jede beliebige Roboterform anpassen und gewährleistet eine lückenlose
Umhüllung des Roboters. Die Basis des taktilen Sensorsystems
bildet ein leitfähiges Elastomer, das unter Druckbelastung seine
Leitfähigkeit ändert. Eine wesentliche Besonderheit des taktilen
Sensorsystems ist die Möglichkeit der Integration energieabsorbierender Dämpfungsschichten.
Gemäß der gültigen Normen darf es bei einer Kollision zwischen
Mensch und Roboter zu keinem Schmerz und bei Fehlverhalten
des Menschen oder Fehlfunktion der Technik zu keiner bleibenden Verletzung kommen. Im Zusammenhang mit der ISO TS
15066 wurde begonnen, einen umfassenden Körperatlas zu erstellen, der die maximalen mechanischen Beanspruchungen für alle
Körperstellen für den quasi-statischen Kollisionsfall
zusammenfasst. Mit Hilfe
des Körperatlas können Arbeitsplätze mit Mensch-Roboter-Kooperation prozessoptimal eingerichtet und
den Sicherheitsvorgaben
gerecht werden.
Am Fraunhofer IFF werden
aktuell erstmalig die physikalischen und biomechanischen Eigenschaften von
dynamischen Mensch-Roboter-Kollisionen auf Basis
von Versuchen mit Probanden ermittelt. Das Ziel der
Studien liegt in der Ermittlung der biomechanischen
Belastungsgrenzen für den
dynamischen Schmerz- und
34
dr. techn. norbert elkmann (fraunhofer iff magdeburg)
Verletzungseintritt. Hierzu hat das
Fraunhofer IFF eine neuartige Messvorrichtung entwickelt, mit der Probandenversuche durchgeführt werden können. Die Messvorrichtung
besteht aus einem gekoppelten
Stoßpendel. Über die Auslenkung des
Pendels wird die Kollisionsgeschwindigkeit sicher und reproduzierbar
eingestellt. Zusätzlich kann die Pendelmasse variiert werden. Die Variation von Pendelgeschwindigkeit und
-masse ermöglicht die exakte Einstellung unterschiedlich hoher Impulse
und Stoßkräfte. Bei einem Kollisionsversuch werden die Stoßkraft, die
Flächenpressung und die Kollisionsgeschwindigkeit erfasst.
Die Studien werden von medizinischer Seite von der Klinik für Unfallchirurgie, der Klinik für Dermato© Fraunhofer IFF, Magdeburg 2015 Dr. Norbert Elkmann
logie und Venerologie, dem Institut
für Rechtsmedizin und dem Institut für Neuroradiologie der Uni- Vorarbeiten und einsetzbare Systeme. Um alle Möglichkeiten der
Mensch-Roboter-Kooperation vor dem Hintergrund der Sicherversitätsklinik der Otto-von-Guericke Universität Magdeburg beheitsanforderungen ausschöpfen zu können sind aber noch vielgleitet. Die zuständige Ethikkommission der Otto-von-Guericke
fältige Forschungs- und Entwicklungarbeiten notwendig sowie
Universität Magdeburg hat den Studien zur Ermittlung der bioweitere grundsätzliche Untersuchungen wie die Ermittlung der
mechanischen Belastungsgrenzen auf Basis der Kollisionsversubiomechanischen Belastungsgrenzen bei Kollisionen zwischen
che mit Probanden zugestimmt.
Mensch und Roboter.
Wichtig sind zunächst zahlreiche Referenzanwendungen im
Ausblick
industriellen Umfeld, die den Sicherheitsanforderungen genüDie Mensch-Roboter-Kooperation wird sich sehr schnell im ingen. Weiterhin wird die Entwicklung MRK-optimierter Robodustriellen Umfeld etablieren, es bestehen bereits seitens der
ter, Sensorik, Greifer, Montagewerkzeuge und Kommunikativerfügbaren Technologien und der Normung weitreichende
onsschnittstellen unter Berücksichtigung der Sicherheitsanforderungen/
Zertifizierung im Vordergrund stehen müssen. Ein
weiterer wichtiger Forschungsschwerpunkt werden
Technologien für die intuitive
Interaktion zwischen Menschen und Roboter sein, um
die Akzeptanz der Menschen
zu fördern und den Umgang
mit dem Roboter zu erleichtern. Weiterhin sind digitale
Planungswerkzeuge für die
Auslegung von MRK-Zellen
notwendig. Zudem ist es wichtig, dass bei der Neuplanung
von Produktionsstätten (z.B.
Vor- und Endmontage) die
MRK-Anforderungen und die
verfügbaren Technologien mit
in die Planung einbezogen
und umgesetzt werden.
© Fraunhofer IFF, Magdeburg 2015 Dr. Norbert Elkmann
35
s ta t e m e n t s
Dr. Mathias Umbreit,
Berufsgenossenschaft Holz
und Metall
Stimmen aus der
Podiumsdiskussion
„Die Berufsgenossenschaft Holz und
Metall ist als Versicherer nicht nur
tätig wenn es um Entschädigungs-
zahlungen in der Folge von Unfällen kommt, sondern
kümmert sich vor allem auch um eine effektive Prävention solcher Unfälle. Über die uns zugeordneten Gemein-
schaftsaufgaben der Deutschen Gesetzlichen Unfallver-
Jörg Nothdurft,
Leiter Arbeitsschutz, Volkswagen
„Die Arbeitssicherheit ist in die
Prozesse zur Gestaltung von Ar-
beitsplätzen fest eingebunden. Wir
haben dies bei Volkswagen durch
eine Regelung des Vorstandes (Organisationsanweisungen) fixiert, die sicherstellt, dass alle Fachabtei-
lungen in den Gestaltungs- bzw. Beschaffungsprozess
eingebunden werden.
Hierdurch wissen alle Betroffenen rechtzeitig, was geplant ist und können ihre Fachkenntnisse einbringen. Zusätzlich wird ein Sperranhänger an der neuen Anlage
angebracht, der nur von der Arbeitssicherheit entfernt
werden darf. So ist sichergestellt, dass unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter erst an diesem Arbeitsplatz
tätig werden, wenn alle sicherheitstechnischen Anforderungen erfüllt sind.
Bei der Entscheidung für neue Technologien sind wir
sehr sensibel und verlassen uns nicht nur auf die Angaben der Hersteller, sondern fordern auch die Überprüfung durch unabhängige Dritte (z.B. TÜV). Nur wenn
wir sicher sind, dass unsere Mitarbeiter ungefährdet arbeiten können, geben wir den Arbeitsplatz frei.
sicherung beteiligen wir uns aktiv an den internationalen
Normungsverfahren. Dort werden aktuelle Forschungsergebnisse zum Beispiel zu biomechanischen Gren-
zwerten im Falle von Kollisionen mit eingearbeitet.
Zudem werden im Rahmen von Projekten praktische
Handlungsanleitungen für die Betriebe entwickelt. Dazu
gehören auch umfangreiche Beratungstätigkeiten bei
OEMs. Die individuelle Betreuung von Unternehmen
stößt allerdings schnell an Kapazitätsgrenzen. Daher verfolgt die Berufsgenossenschaft Holz und Metall die Strategie, Hersteller und Anwender durch Beratungen, Seminare und Zertifizierungen soweit zu unterstützen, dass
sie selbst in der Lage sind, sichere kollaborierende Robotersysteme bereitzustellen.
MRK ist sind aus Sicht der Berufsgenossenschaft kein
Selbstzweck. Wir erhoffen uns von kollaborierenden Robotern positive Auswirkungen auf die Ergonomie, eine
Reduktion monotoner Tätigkeiten und die Möglichkeit,
Handarbeitsplätze für Beschäftigte angenehmer zu ge-
stalten. Zudem besteht die Chance, die durch die demografische Entwicklung entstehende Beschäftigtenlücke,
und den dadurch absehbaren Mangel an Fachkräften,
auszugleichen. Hierzu werden allerdings sowohl alle Formen der MRK als auch weiter fortschreitende „klassische“ Automatisierung nötig sein.“
Wir müssen bei der jetzigen Entwicklung der neuen si-
cheren Steuerungen für MRK-Anwendungen bedenken,
dass die Industrie erst am Anfang einer neuen Generation Roboter steht. Heute reden wir noch über die maximalen Kräfte, die im Falle einer Kollision auf den
Menschen einwirken dürfen. Aber die Zukunft liegt in
Systemen, die eine Kollision sicher verhindern.“
36
s ta t e m e n t s
Dr. Holger Heyn (Technologieentwicklung Roboter, Volkswagen)
„Unsere Motivation MRK einzusetzen besteht darin, die Ergonomie zu verbessern, den
Mitarbeiter zu entlasten und die Qualität der Tätigkeit zu erhöhen. Zugleich wollen
wir mit Hilfe von MRK die Produktivität steigern und die Präzision in der Fertigung
weiter erhöhen. Verschiedenste Robotersysteme und Sicherheitskonzepte sind zwar
bereits heute verfügbar, befinden sich teilweise allerdings noch in einem frühen Reife-
stadium. Wir arbeiten im Konzern mit allen uns derzeit bekannten Lösungsanbietern für MRK (Roboterhersteller, Lieferanten für Systemkomponenten und Systemintegratoren), mit der Berufsgenossenschaft und
mit Forschungsinstituten zusammen, um die Vielfalt der mit MRK verbundenen Fragestellungen beantworten zu können. Dies sind vielfach technische, aber auch nicht-technische Aspekte.
Wir verfolgen dabei das Ziel, optimale und sichere MRK-Lösungen nach aktuellem Stand von Technik Wissenschaft zu implementieren. Dabei sind ungewollte Kontakte zwischen Mensch und kollaborierendem
Roboter durch entsprechende technische Lösungen so weit wie möglich auszuschließen.“
Dr. Constanze Kurz, IG Metall
„Der menschengerechten Gestaltung
Andreas Heim,
trale Rolle zu, um ihr Potenzial sowohl
Arbeitssicherheit, Gesundheit
von MRK-Lösungen kommt eine zen-
Vorsitzender Ausschuss für
in ergonomischer als auch qualifikato-
& Umwelt, Volkswagen
rischer Hinsicht im Interesse der Be-
schäftigten auszuschöpfen. Dem Arbeits- und Gesundheitsschutz fällt in diesem Zusammenhang die Aufgabe zu, neue
„Für uns ist der Einsatz von koope-
rierenden Robotern eine Frage von
Gefährdungen des Arbeitsvermögens durch kollaborieren-
Chancen und Risiken, die gegeneinander abgewogen
Schutzkonzepte zu entwickeln, welche die Risiken – die
zurzeit ergonomisch nicht optimale Arbeitsplätze ha-
de Leichtbauroboter zu analysieren sowie Sicherheits- und
heute noch vorhanden sind – zu minimieren. Zugleich muss
das Handlungs- und Regelungsfeld des Arbeits- und Ge-
sundheitsschutzes stärker als bislang Bestandteil der Organisations- und Qualifizierungsgestaltung werden. Das Thema Ergonomie muss gezielt in arbeitspolitische
Gestaltungsansätze eingebettet werden, die auf eine Anreicherung der Tätigkeiten sowohl in fachlich-technischer Hinsicht als auch mit Blick auf soziale oder organisatorische
Kompetenzen zielen. „Ganzheitlich gedacht“ können Auf-
wertungs- und Requalifi­zierungs­strategien besser greifen.
Der Weg dahin: Weg vom Spezialistenkonzept (Beauftragte
für Arbeitssicherheit) hin zu einer durchgängigen Aufgabe
für alle Beschäftigten.
In jedem Fall muss die Ausgestaltung und Weiterent-
wicklung und Anwendung von MRK verstärkt auf Impulsen beruhen, die von den Beschäftigten kommen.
Beteiligung sollte bereits in der Phase der Technikent-
wicklung beginnen und dazu beitragen, eine Entfaltung
des Arbeitsvermögens mit der Umsetzung guter Arbeit
gerade auch in MRK zu verwirklichen.“
werden müssen. Chancen sehen wir überall da, wo wir
ben, z.B bei Überkopfarbeit oder schweren Teilen. Wenn
Roboter dort den belastenden Teil der Arbeit übernehmen entlasten wir die Kolleginnen und Kollegen.
Risiken sehen wir im Bereich der Arbeitssicherheit.
Wenn wir Roboter ohne Schutzzaun betreiben wollen
und sie dichter an den Menschen rücken, müssen wir
auch alles dafür tun, dass nichts passieren kann. Die
Sicherheitstechnik ist zum Teil noch nicht ausgereift
und Kollisionsrisiken sind selbst mit dem aktuellen
Stand der Technik nicht auszuschließen.
Roboterhersteller, Verbände und Berufsgenossenschaften
diskutieren welche Verletzungsschweren denn gerade
noch tolerabel sind. Als tolerabel gelten Beanspru-
chungen der Haut und der darunter liegenden Gewebe,
bei denen es nicht zu tieferem Durchdringen der Haut
und des Gewebes mit blutenden Wunden kommen kann.
Das mag tolerabel für Ingenieure und Techniker sein, das
ist aber nicht akzeptabel für die Arbeitnehmervertretung.
Unsere Forderung lautet: Mensch-Roboter-Kooperation
darf nicht zur Mensch-Roboter-Kollision führen. Jede Art
der Körperverletzung muss ausgeschlossen werden!“
37
p r o f. d r . - i n g . j a n a d i t t m a n n ( a d v a n c e d m u l t i m e d i a u n d s e c u r i t y, u n i v e r s i t ä t m a g d e b u r g )
Datensicherheit in
der vernetzten Fabrik
Prof. Dr. Jana Dittmann studierte Wirtschaftsinformatik an der TU
Darmstadt. Sie ist Leiterin des Advanced Multimedia and Security Lab
(AMSL) der Otto-von-Guericke Universität Magdeburg, mit dem Fokus
auf multimediaspezifische Sicherheitsaspekte der Technik, IT,
Anwenderwahrnehmung, Anwenderinteraktion und rechtlicher
Dimensionen.
Die Digitalisierungstrends der Fabrik 4.0 sind eindeutig - Wertschöpfungsnetzwerke sind mit Sicherheit die Zukunft! Produktive Wertschöpfung bedarf der Vernetzung und auf den Punkt gebracht ist Sicherheit der Rahmen für Gute Arbeit in der Fabrik
heute und in der Zukunft. Sicherheit kann auch als das grüne
Band – als Gürtel, der alles zusammen hält, verstanden werden
und ist somit die Basis für unser Handeln. Es liegt an uns allen,
Sicherheit kreativ und zielführend in der vernetzten Fabrik zu
gestalten, um die existierenden Kernkompetenzen in der Prozess-und Systemintegration als Erfolgsfaktor langfristig zu erhalten und auszubauen.
Motivation
Mit den aus der IT-Security bekannten Sicherheitsaspekten Vertraulichkeit, Authentizität, Integrität, Verfügbarkeit und
Verbindlichkeit kann das prinzipielle Schutzbedürfnis im Detail
zum Beispiel pro Information, Nutzer oder pro IT-Komponente
formuliert und Datenschutzaspekte einbezogen werden. In der
Vergangenheit hat es sich bekanntermaßen gezeigt, dass es eine
Vielzahl von Motivationen für einen digitalen Angriff gibt, sie
werden von Hackern, Spionen, Terroristen, beauftragten Angestellten, professionellen Kriminellen, Vandalen, Voyeuren durchgeführt (siehe zum Beispiel in [1]). Dabei nutzen Angreifer prinzipiell Schwachstellen als Systemeigenschaft, die Missbrauchsmöglichkeiten bieten. Vor dem Hintergrund von existierenden
Schwachstellen im Design, der Implementierung und Konfiguration, werden heute fünf bekannte Basisangriffe einzeln oder
kombiniert genutzt: Lesen, Verändern, Unterbrechen, Erzeugen/
Fälschen und Stehlen/Entfernen (siehe Sicherheitsaspekte Abbildung 1). Projiziert man diese Basisangriffe abstrakt auf ein
Abb. 1: sicherheitsaspekte
38
p r o f. d r . - i n g . j a n a d i t t m a n n ( a d v a n c e d m u l t i m e d i a u n d s e c u r i t y, u n i v e r s i t ä t m a g d e b u r g )
Abb. 2: vernetzung
System, kann eine Abschätzung der aktuellen als auch mittelfristigen Bedrohungslage in Funktion und Struktur erfolgen. Aus den
Erkenntnissen kann dann der Handlungsbedarf abgeleitet werden. Es bietet sich daher an, alle Basisangriffe frühzeitig bei der
Konzeption der Fabrik 4.0 einzubeziehen und auch in der Implementierung und Konfiguration sowie in der Aktualisierung (Update) gezielt zu berücksichtigen und zu testen. Hier können bekannte organisatorische und technische IT-Security-Maßnahmen
zur Prävention, Detektion und zur Wiederherstellung definiert
werden, die zum Beispiel nach [2] zum normalen Schutzbedarf
gestaltet und durch eine Risikoanalyse mit darüberhinausgehenden Maßnahmen ausgestattet werden sollten. Organisatorische
Maßnahmen sind zum Beispiel explizite Gesetzgebung, Definition von Sicherheitsrichtlinien und Schutzprofilen, Festlegung von
Vorbehalten und/oder Definition von Wahlfreiheit, Zweckbindung, Erforderlichkeitsprinzipien, Auskunftspflichten und Anspruch auf Transparenz, Verfahrensrechtliche Sicherungen.
Technische Maßnahmen sind zum Beispiel die Nutzung von Kryptographie, verdeckte Kommunikation, Isolation und Abschottung, Firewall, Virenscanner und IT-Forensikmaßnahmen.
Das Zusammenspiel von Security und Safety muss ebenfalls
gezielt einbezogen werden, um Schaden im Bereich Leib und Leben auszuschließen.
Vernetzungsaspekte: Lokale und globale
Beobachtbarkeit im Cyberspace
Im Folgenden soll das Thema Wertschöpfungsnetzwerke und Datensicherheit vor dem Hintergrund der Vernetzung der technischen Komponenten und der arbeitenden und wirkenden Menschen betrachtet und die sich ergebenden Implikationen aus
ganzheitlicher Sicht der digitalen Beobachtung weltweit angesprochen werden. Prinzipiell verbinden und öffnen Wertschöpfungsnetzwerke der Fabrik 4.0 einzelne Funktionen zwischen
den Betrachtungseinheiten (Komponenten und Mensch-Maschine-Interaktion) und bilden neue Strukturen aus. Die neuen
Funktionen in neuen Strukturen sind jedoch nicht alleinstehend, sie sind eingebettet in andere bestehende oder sich auch
neu bildende Strukturen und letztendlich Internet-basiert global
vernetzt, weltweit (siehe Vernetzung Abbildung 2). Wertschöpfungsnetzwerke sind somit nicht isoliert vom Internetkontext zu
bewerten, zu organisieren und zu ­sichern, da eine prinzipielle
digitale Erreichbarkeit und Offenlegung inhärent erfolgt. Auch
39
p r o f. d r . - i n g . j a n a d i t t m a n n ( a d v a n c e d m u l t i m e d i a u n d s e c u r i t y, u n i v e r s i t ä t m a g d e b u r g )
sind die Funktionen und Strukturen sowie deren Internet-Kontext dynamisch ändernd und Wechselwirkungen müssen somit
stets im Zusammenhang ganzheitlich betrachtet und fortwährend gestaltet und angepasst werden.
Die prinzipielle Vernetzung verbindet und öffnet die digitale Fabrik 4.0 und ermöglicht eine lokale und globale Beobachtbarkeit
im Cyberspace der technischen Komponenten als auch der Menschen, die in der Fabrik 4.0 arbeiten. Durch die technische Ausstattung ist die Feststellung und Festlegung von Zeit-Ort-Personen-Service-Maschinen-Eigenschafts-Beziehungen nicht nur
durch die Wertschöpfungsketten der Fabrik 4.0 selbst, sondern
beispielsweise auch durch social media Dienste, news-Dienste,
Suchmaschinennutzung, SmartHealth, Connected Living etc. gegeben. Schauen wir uns ein Beispiel an:
Die Nutzung von Suchmaschinen ist für viele Mitarbeiter eine erhebliche Erleichterung beim Arbeiten. Begrifflichkeiten, Funktionsweisen, Neuigkeiten können schnell nachgeschlagen, Trends
können recherchiert, Details nachgeschlagen, Dienstreisen geplant, Reiserouten bestimmt und gezielt interessierende Örtlichkeiten angeschaut werden. Doch was sieht die Suchmaschine?
Alle Anfragen eines Clients sind sichtbar und können seitens der
Suchmaschine analysiert werden, welche Themen aktuell von
Interesse sind und die Anfragen können in den Zusammenhang
gesetzt werden, was es potentiell ermöglicht, aktuelle Aktivitäten, Schwierigkeiten oder Bedarfe auszumachen. Der Client
kann durch seine genutzte IP-Adresse, falls diese nicht gezielt
anonymisiert wird, auf eine Region, auf Aufenthaltsorte, auf ein
Unternehmen etc. durch Nutzung von Metawissen bezogen werden. Durch weitere Clienteigenschaften wie Informationen über
Betriebssystem und Browserdetails kann über sich ändernde
IP-Adressen hinweg sehr einfach eine Individualisierung erfolgen. Am einfachsten kann man dies sehen, wenn man in einer
Suchmaschine nach dem Wetter recherchiert, hier sind meist in
der Suchansicht von den weiterführenden Linktreffern bereits
ortsbezogene Wetterdetails zu sehen. In Endgeräte integrierte
GPS-Module erlauben darüber hinaus eine noch präzisere geografische Ortung.
Durch die Nutzung von Internetdiensten in der Fabrik 4.0 – auf
Fabrik-eigenen als auch auf privat mitgebrachten Geräten – können Daten und Informationen von innen nach außen zu Dritten
diffundieren, sie werden verfügbar und können gezielt gesammelt und verarbeitet werden. Die vielfältigen Möglichkeiten zur
Individualisierung von Eigenschaften der Endgeräte (Komponenten) und die Verknüpfung mit Metadaten können ggf. eine
umfassende Analyse der gesamten Wertschöpfungskette der Fabrik 4.0 für Dritte ermöglichen. Dies sollte zumindest allen bewusst sein bzw. sollten gezielt Richtlinien erstellt werden, um die
Sichten auf und den potentiellen Erkenntnisgewinn über die Fabrik 4.0 und ihre Akteure von Dritten zu minimieren. Eine gezielte Bestimmung von Diensten, die genutzt werden, sollte explizit erfolgen, um sich selbst ein Bild der Lage zu verschaffen,
was von Dritten gesehen werden kann. Des Weiteren sollte
überlegt werden, welche Dienste nicht bzw. welche Alternativen
genutzt werden sollten.
Durch die lokale als auch globale Beobachtbarkeit eröffnen
sich somit neue Sichtweisen auf die Akteure der Wertschöpfungsnetzwerke durch Dritte, die bisher nicht oder schwer erfolgen konnten, welche als Nutzungsrisiken bezeichnet werden
können. Diese werden verstärkt durch die permanente digitale
Präsenz und somit „Unlöschbarkeit“ der erzeugten Informationen gegenüber Dritten. Im heutigen Alltag trifft IT jeden und
somit trifft auch der häufig vorherrschende Default IT-Alltag
die Fabrik 4.0. Beispielsweise müssen neue Effekte der Informationstransparenz durch BYOD, Social Media & Connected
Living und der damit einhergehende potentielle Cross System
Information Leakage – die Verkettbarkeit aller Informationen
in privaten und beruflichen Bereich einbezogen werden. Man
sollte davon ausgehen, dass die Mitarbeiteraktivitäten seitens
Dritter sehr vollständig protokolliert und in den Kontext der Arbeit gestellt und langfristig beobachtet und analysiert werden
können. Welche Informationen hier bei Dritten im Detail vorliegen ist für die Fabrik 4.0 weder vollständig nachzuvollziehen
noch abzuschätzen.
Wertschöpfungsnetzwerke – Forschungsaspekte
Die globale Vernetzung ermöglicht somit einen „Wissensvorrat“
seitens Dritter anzuhäufen und kann neue „Wissen“-Risiken und
„Wissen“-Hoheiten eröffnen, die gezielt zu Wirtschafts-Spionage/-Sabotage/-Ausspähung genutzt werden könnten. Auch sind
neue weltweite Bedrohungsformen denkbar, wie zum Beispiel
„Erfolgsfaktor“- oder „Schwachstellen“-Sniffing, -Targeting (Angebots- und Preisbildung, digitale Ausgrenzung/Erpressung)
oder Human and machine ressource profiling etc.
Betrachtet man Wertschöpfungsnetzwerke aus dem Blickwinkel
der Schadcodedynamik – Fabrik 4.0, Internet of Things etc. – ist
zu erwarten, dass es zu einer Vereinfachung und Automatisierung von gezielten Angriffen kommt (siehe Sicherheitsaspekte
Abbildung 3 – Folie 3). In verschiedenen Berichten wird bereits
darauf verwiesen, dass ein erheblicher Mangel an Authentizität
der Endgeräte oder Endnutzer beklagt wird bzw. Schwierigkeiten in der technischen Umsetzung vorliegen. Existierende
„hooks“ im Design – unzureichende Default-Einstellungen – bereiten ebenfalls Sorgen.
Die Fabrik 4.0 sollte deshalb die Chance nutzen, konzeptionell
Funktion und Struktur sowie Informationen und Daten ganzheitlich zu reflektieren und gezielt neu zu sortieren und zu gestalten.
Möglichkeiten der Abschottung sind mit bekannten Strategie wie
NeedToKnow, Simplicity und OpenSoftware-Ansätzen zu diskutieren und zu gestalten. Zielkonflikte sollten explizit identifiziert, aufgegriffen und kreativ gelöst werden.
Die Integration des Fahrzeugs stellt die Fabrik 4.0 vor weitere
Herausforderungen. Zum Beispiel die Integration Mensch im
Fahrzeug selbst. Hier sollten Lösungen zum Datenschutz auch
als Herstellerschutz verstanden werden, um eine gezielte
40
p r o f. d r . - i n g . j a n a d i t t m a n n ( a d v a n c e d m u l t i m e d i a u n d s e c u r i t y, u n i v e r s i t ä t m a g d e b u r g )
Reduktion von „Wissen“-Risiken zu erreichen. Safetyaspekten
kann durch gezielte Nutzung und Fortführung der bekannten
Asimov Laws (siehe zum Beispiel in [3] und [4]), als Design-Richtlinie und Basis für mehr Gesamtsicherheit begegnet
werden.
Vielfältigkeit des Zusammenspiels
in Wertschöpfungsnetzwerken
Die Fabrik 4.0 muss die Security und Safety einzelner Komponenten sowie deren komplexe Strukturwirkung beherrschen
und regelmäßig überprüfen. Dies sollte in allen Aspekten erfolgen – in Design, Produktion, Auslieferung, Konfiguration, Nutzung, Update, Weiterverkauf, Ausmusterung, Beendigung, Weiterverwertung, Zerstörung. Es sollte beachtet werden, dass die
Gesamtsicherheit die Sicherheit des schwächsten Glieds
bedeutet.
Qualifikationen – Lehre – Datensicherheit
in der vernetzten Fabrik
Sicherheit muss als fortwährende Aufgabe verstanden werden
und somit sind Qualifikationen gefragt, die Menschen in die
Lage versetzen, Bedrohungen frühzeitig zu erkennen, Systemanpassungen zu formulieren und Re-Design vorschlagen zu können. Dazu müssen die Akteure die Faktoren Mensch und Technik, globale Sichten, Zusammenhänge und Wirkungen mit Langzeitaspekten unter sich ändernden Bedingungen sowie Unsicherheit, Fehler, Verlust, Completeness im Auge haben.
Nicht-Wissen und fehlendes Erfahrungsspektrum (not-me-Syndrom, „Weil-Sucht“) führen oft dazu, dass Chancen global verpasst werden und Risiken entstehen.
Qualifikationen sind gefragt, alle Beteiligten sollten ein Grundverständnis und eine Sensitivität für die Mächtigkeit von IT besitzen, da Sicherheit auch mit der Akzeptanz der Mitarbeiter steht
und fällt. IT-Fachkräfte sollten über ein Basiswissen zur IT-Security verfügen, um gezielt und schnell handeln zu können, und
zur Gestaltung der Fabrik 4.0 sollten IT-Security-Experts mit social skills und Kreativität ausgestattet sein, um die Herausforderungen mit allen Beteiligten zu meistern.
Kernbotschaften:
Die Fabrik 4.0 ist als sozio-technisches System zu verstehen,
welches sich dem Internet in vielen Facetten öffnet und somit
erreichbar und analysierbar wird. Dies eröffnet neue Bedrohungsformen wie „Wissen“-Risiken und „Wissen“-Hoheiten als
Bedrohung der Vertraulichkeit und Geheimhaltung durch Beobachtbarkeit und Verkettbarkeit oder erlaubt gezielte Angriffsformen wie zum Beispiel Gefährdung von Vertrauen und
Funktionssicherheit, der Verfügbarkeit oder Integrität. Gestaltungsspielräume sollten gezielt im Design, der Konfiguration
und Umsetzung diskutiert und genutzt werden, um Risiken zu
minimieren und um Zielkonflikte und Nutzungsrisiken in Einklang zu bringen.
„Upgrading“ auf Fabrik 4.0 ist kein Automatismus:
Eine Abkehr vom „Silodenken“: Zwar ist es notwendig, die Eigensicherheit der Komponenten selbst zu erreichen, jedoch ist
es auch dringend notwendig, die Gesamtstruktur unter Einbeziehung aller digitalen Handlungsspielräume der Technik und des
Menschen mit den sich daraus ergeben gestalterischen Grenzen
zu reflektieren und gezielt eine Umordnung bisheriger Sichtweisen auf Informationen und Daten durchzuführen. Die Fabrik 4.0
ist keine Vernetzung von digitalen Inseln, sondern ist digital global eingebettet mit vielfältigen Wechselwirkungen von anderen
digitalen Diensten und Infrastrukturen, die gezielt einbezogen
oder ausgeschlossen werden müssen.
Die gesamtheitliche Sichtweise muss Einfluss auf die Systemkonzeption bzw. -schnittstellen haben und erfordert eine ständige
Überprüfung und Anpassung an sich ändernde Situationen in
der Verknüpfung von realen und digitalen Welten.
LITERATUR
[1] John D. Howard and Thomas A.
Longstaff: A Common Language for
Computer Security Incidents, Sandia National Labs, 1998 (see in http://prod.sandia.gov/techlib/access-control.
cgi/1998/988667.pdf, website request
26.5.2015
[2] BSI IT-Grundschutz - die Basis für Informationssicherheit - https://www.bsi.
bund.de/DE/Themen/ITGrundschutz/itgrundschutz_node.html, website request 11.3.2015
[3] I. Asimov. 1942. Runaround. Astounding Science Fiction.
[4] D.Weld, O.Etzioni. 1994. The first law
of robotics (a call to arms). Proceedings
of the twelfth national conference on
Artificial intelligence (vol.2), AAAI‘94,
ACM, USA, ISBN 0-262-61102-3.
41
s ta t e m e n t s
Gunter Wachholz, Betriebsrat
Stimmen aus der
Podiumsdiskussion
Volkswagen
„Der Betriebsrat steht grundsätz-
lich positiv zur Einführung von In-
dustrie 4.0 in der Fabrik. Der Einsatz
Dr. Martin Hofmann,
Leiter Konzern IT und
Organisation
„Sichere IT-Systeme sind eine
Grundvoraussetzung für die vernetzte Fabrik“, sagt Konzern IT-
Chef Dr. Martin Hofmann. Sie schützen sowohl die Produktionsanlagen als auch das Produkt selber vor
Manipulation und unbefugtem Zugriff. Darüber hinaus
spielt die Absicherung der Mensch-Maschine-
Interaktion eine zunehmend wichtigere Rolle.
Klar ist: Schon heute wachsen IT und Produktion auf
dem Shopfloor zusammen. Das stellt IT-Sicherheit vor
neue Herausforderungen. Sie entwickelt sich zur Querschnittsaufgabe, betrifft und fordert das ganze Unternehmen. Dabei gilt es, Sicherheit nicht als festen, einmal erreichten Zustand misszuverstehen, sondern
vielmehr als stetigen Prozess zu begreifen, der konti-
nuierlicher Anstrengung und Arbeit bedarf. Jeden Tag
aufs Neue und immer intelligenter.“
fortschrittlicher IT-Techno­-
logien kann zur Erleichterung und zur sinnvollen Unterstützung der Arbeit der Beschäftigten führen. Die darf
aber nicht in einer kompletten Automatisierung der Ar-
beit münden. Die Beschäftigten in der Fertigung müssen
auch zukünftig immer die Hoheit über ihre Tätigkeit und
ihre Entscheidungen am Arbeitsplatz haben.
Zudem sollte der Einsatz von technischen Hilfsmitteln
wie z.B. Datenbrillen, Wearables und Tablet-Technologie
nur zur Unterstützung der Arbeit dienen, auf keinen Fall
aber zur Leistungs- und Verhaltenskontrolle. Zudem
muss die Sicherheit der IT-Systeme in der Fertigung ei-
nen extrem hohen Stellenwert haben, um eine Schädi-
gung der Beschäftigten auszuschließen. Es müssen mindestens die gleich hohen Anforderungen gelten wie für
die IT-Sicherheit im Internet-vernetzten Fahrzeug.
Aus Sicht des Betriebsrates ist es zudem unabdingbar,
dass die Beschäftigten in der Fabrik nicht nur entspre-
chend qualifiziert werden, sondern auch endlich einen
umfassenden Zugang zu allen im Unternehmen üblichen Informations- und Kommunikationsmöglichkeiten erhalten.“
Frank Rieger, Sprecher des Chaos Computer Clubs, Autor
„Das Thema Industrie 4.0 kommt zu einem relativ ungünstigen Zeitpunkt in der Geschichte der
IT-Sicherheit. Wir können uns zwar recht gut gegen bekannte Angriffsszenarien schützen, aber
wir haben keine Möglichkeit, uns gegen gezielte Attacken von mit entsprechenden Ressourcen
ausgestatteten Akteuren zu schützen. Erste Auditerfahrungen mit vernetzten Robotersystemen
waren mit Blick auf die IT-Sicherheit leider nicht sehr ermutigend. In den Werkhallen stoßen wir
zudem häufig auf veraltete IT-Systeme, die nie dafür ausgerichtet waren, ans Netz zu gehen.
In der heutigen universitären Ausbildung spielen sichere Programmiertechniken praktisch keine Rolle. Das gilt
insbesondere für die Informatikausbildung im Rahmen ingenieurswissenschaftlicher Studiengänge. Wir sollten
unverzüglich damit beginnen, die IT-Sicherheit in der universitären Ausbildung zu stärken und anschließend da-
ran arbeiten, moderne Sicherheitskonzepte und Prüfsysteme in die Produktion zu bringen.
Zudem brauchen wir einen grundlegenden Paradigmenwechsel, was die Haftung für IT-Systeme betrifft. Es muss
möglich sein, IT-Anbieter in für Industrieanlagen übliche Haftungszyklen zu nehmen. Wichtig dabei ist, dass entsprechende Vorschriften nicht dazu führen, dass nur noch Großanbieter Systeme ausliefern können während kleineren
Firmen der Marktzugang verwehrt bleibt. Dies könnte z.B. durch Versicherungen geschehen. Großunternehmen wie
VW können im Rahmen ihres Umgangs mit Lieferanten und der Politik diese Entwicklung positiv beeinflussen.“
42
dr. carl benedikt frey (university of oxford)
Beschäftigungseffekte
der Digitalisierung
Dr. Carl Benedict Frey ist Co-Direktor des Oxford Martin Programme on Technology and Employment an der University of Oxford. In seiner Forschung beschäftigt
er sich mit dem Übergang von Industrienationen zur digitalen Wirtschaft, sowie
Herausforderungen für wirtschaftliches Wachstum, Arbeitsmärkte und urbane
Entwicklung. 2013 erschien sein weltweit beachteter Artikel „The Future of Employment: How susceptible are jobs to computerisation?“ zusammen mit Prof.
Michael Osborne (University of Oxford).
The digital revolution has brought undisputable gains, including the World Wide Web, Google and the iPhone. Nevertheless
its impact on the workforce has arguably been more disruptive
than technological revolutions of the past. In our widely discussed paper entitled The Future of Employment: How Susceptible are Jobs to Computerisation?, my co-author Michael Osborne and I estimate that 47 percent of the US workforce is now
susceptible to automation. Although these estimates cannot be
directly transferred to other countries, the type of jobs that will
be affected is the same. In particular, similar to the United
States, jobs in transportation, logistics, as well as office and administrative support, are at “high risk” of automation. Furthermore, the bulk of service and sales occupations, where the most
job growth has occurred over the past decades, are how for the
first time at risk.
Digital technologies do however not only destroy jobs, but also
create jobs in entirely new occupations and industries. For example, Video and Audio Streaming industry, Online Auctions, and
Web Design constitute new industries that appeared in official
classifications for the first time in 2010, following a series of recent innovations. Yet, the magnitude of new jobs created from the
arrival of new technologies throughout the 2000s has been strikingly small: in 2010 only about 0.5 percent of the US workforce
was employed in new industries that did not exist a decade earlier. Workers in these industries are also much better educated
than most workers, meaning that although technological progress continues to create new jobs, these have largely been confined to skilled labour. Thus, as technology races ahead, workers
will need to acquire more sophisticated skills, allowing them to
reallocate to new jobs being created.
43
impressionen
impressionen
Die interaktive Begleitausstellung der Konferenz
machte unter anderem Virtual Reality-Technologien
live erlebbar, die zukünftig Einzug in viele
Produktionsprozesse halten können.
Die Konferenzteilnehmer nutzten die Pausen und
Begleitausstellungen um sich auszutauschen, Wirtschaft,
Gewerkschaften, Forschung und Politik zu verbinden und so
das Netzwerk „Gute Arbeit 4.0“ mit Leben zu füllen.
44
Die Firma Kuka Robotics präsentierte
Roboterentwicklungen wie den LBR iiwa, mit
denen die Mensch-Roboter-Kooperation
sicher und effizient gestaltet werden kann.
45
o l a f l i e s ( m i n i s t e r f ü r w i r t s c h a f t, a r b e i t, v e r k e h r l a n d n i e d e r s a c h s e n )
Präsentation der Gewinner
des 5. Robotics-Awards
Den ROBOTICS AWARD für angewandte Roboterlösungen verleihen
Deutsche Messe AG, der Industrieanzeiger und die Robotation Academy
bereits seit fünf Jahren im Rahmen der HANNOVER MESSE.
Eine unabhängige Jury von Robotik-Experten beurteilt die Einreichungen nach verschiedenen Kriterien. Dazu gehören besonders der technische Innovationsgrad der Lösung sowie ihr Nutzen für Industrie, Umwelt und Gesellschaft. Darüber hinaus
spielen aber auch der wirtschaftliche Nutzen für die Anwender
und das Nachfragepotenzial auf den Absatzmärkten eine Rolle.
Überreicht wurde er von Olaf Lies, dem Niedersächsischen Minister für Wirtschaft, Arbeit und Verkehr sowie zugleich auch
Schirmherr des ROBOTICS AWARD. Die incubed IT GmbH überzeugte mit einer Roboterlösung für Shuttles, die sich intelligent,
autonom und flexibel im Raum bewegen. Auf Platz zwei schaffte
es die Goldfuß Engineering GmbH aus Balingen mit einem Dual­
arm-Roboter, der das Handling von Verpackungen optimiert.
Den dritten Platz belegte die MRK-Systeme GmbH aus Augsburg
mit einem Roboter, der Werkern in der Automobil-Endmontagebei Audi Bauteile anreicht.
Olaf Lies überreicht den ROBOTICS AWARD
als Schirmherr der Auszeichnung.
46
o l a f l i e s ( m i n i s t e r f ü r w i r t s c h a f t, a r b e i t, v e r k e h r l a n d n i e d e r s a c h s e n )
Die Preisträger der incubed IT GmbH aus Hart bei Graz (Österreich)
Unten: Den Gewinnern gratulierten
(v.l.n.r.): Dr. Horst Neumann, Stefan
Wolf, Jörg Hofmann, Olaf Lies.
47
j ö r g h o f m a n n ( z w e i t e r v o r s i t z e n d e r d e r i g m e ta l l )
Leitbilder und Leitplanken
für Industrie 4.0 und Digitalisierung
Wir wissen keineswegs genau, was Industrie 4.0 und Digitalisierung für Arbeit und
Beschäftigung bedeutet, wie tief und wie weit der quantitative und qualitative
Wandel der Industriearbeit reichen wird. Schon deshalb, weil der Prozess der
fortschreitenden Digitalisierung der Arbeit ergebnisoffen ist. Das betrifft den
technologischen, wie den sozio-ökonomischen und den organisatorischen
Entwicklungspfad. Vieles hängt davon ab, was wir jetzt tun – also wie die Weichen
heute gestellt werden, welche Leitbilder und Leitplanken entwickelt werden.
Nehmen wir die Frage der Beschäftigung: Konferenzteilnehmer
Carl Frey von der Universität Oxford kündigt aufgrund seiner Studie zur Zukunft der Beschäftigung aus dem Jahr 2013 einen erheblichen Verlust von Arbeitsplätzen und eine tiefgreifende Veränderung von Berufsbildern an – betroffen seien insbesondere
die traditionellen industriellen Arbeitsfelder. Zu diesem Schluss
kommen auch andere wissenschaftliche Studien. In der BCG-Studie, die pünktlich zur Hannover-Messe 2015 erschienen ist, wird
hingegen prognostiziert, dass sich allein der deutsche Maschinenbau über 100.000 neue Arbeitsplätze freuen kann, gerade in der
Produktion. Anders gesagt: 4.0 soll sowohl als ein „echter Produktivitätsbeschleuniger“ wirken als auch Garant für zusätzliches
jährliches Wachstum von 30 Milliarden Euro netto sein.
Was stimmt nun? Möglicherweise werden in der aktuellen Diskussion die kurzfristigen Folgen überschätzt, die langfristigen
Folgen indes unterschätzt. Unstrittig ist: Die Digitalisierung wird
die Arbeitswelt fundamental verändern – insbesondere was die
in Zukunft abverlangten Qualifikationen angeht. Wir brauchen
ohne Zweifel eine solide und präventive Abschätzung der Folgen
der Technik für Gesellschaft und Arbeit.
Was wir aber vor allem brauchen, ist ein klares Bild davon, wie
gute Arbeit in einer digitalisierten Welt aussehen soll. Ein
Leitbild,
• das die Trends der demografischen Entwicklung und der
zunehmenden Individualisierung der Lebens- und Arbeitswelt aufgreift, das das Interesse der Beschäftigten an
mobiler Arbeit, hoher Zeitsouveränität und damit auch an
einer besseren Vereinbarkeit von Privat- und Berufsleben
berücksichtigt und
• das Interesse der Beschäftigten an einer guten Arbeit aufgreift, die Gesundheit erhält, Handlungsspielräume erweitert und Qualifikation fördert.
Oder anders: Industrie 4.0 muss ihren gesellschaftlichen Nutzen
unter Beweis stellen.
Industrie 4.0 als reine Rationalisierungsstrategie ist aus unserer
Sicht der grundfalsche Ansatz. Gewerkschaften und Betriebsräte
sind hier auch keine Akzeptanzbeschaffer. Sie wollen ihre Gestaltungsansprüche an Arbeit 4.0 verwirklicht sehen. Es geht dabei keineswegs um „weiche“ Themen.
Es geht um
• Chancengleichheit, Gerechtigkeit und Teilhabe, Grenzverschiebungen im Bereich der Mitbestimmung im Betrieb wie
in der Gesellschaft,
• die Frage, ob Maschine oder Mensch bestimmen, wie wir
künftig arbeiten werden.
Es geht – kurz gesagt – darum, den Menschen in den Mittelpunkt
zu stellen und für die Digitalisierung einen in sozialer wie in
technischer Dimension gleichermaßen innovativen Entwicklungsweg zu gehen. Ich möchte hierzu einige Anmerkungen
machen:
1. Technik und Arbeitsgestaltung sind nicht vorherbestimmt,
sondern durchaus beeinflussbar. Die Öffnung der Industrie
4.0-Debatte in Richtung Arbeit, die Abkehr von einem rein ingenieurwissenschaftlichen geprägten Zielbild cyber-physikalischer Systeme durch die Einbeziehung sozio-ökonomischer
Zielbilder war ein erster wichtiger Schritt. Dieses Zielbild einer arbeitszentrierten Technikgestaltung gilt es zu schärfen.
2. Unternehmen, Gewerkschaften, Politik und Wissenschaft
müssen die Digitalisierung der Arbeitswelt als gemeinsames
Zukunftsprojekt erkennen, das Beiträge zur Lösung zentraler
gesellschaftlicher Fragen bietet. Industrie 4.0 wird ohne Akzeptanz bei Beschäftigten, Betriebsräten und Gewerkschaften
scheitern. Wenn Betriebsräte gemeinsam mit den Unternehmen den Prozess der Digitalisierung proaktiv angehen, wenn
Gestaltungskompetenz und Beteiligungsmöglichkeiten auf
breiter Front aktiviert und auf betrieblicher Ebene „in Form
gebracht“ und greifbar gemacht werden, dann ergeben sich
für den Industriestandort Deutschland neue Chancen, seine
Stärken auch in Zukunft auszuspielen und hierdurch Wachstum und Beschäftigung zu sichern. Diese Stärken sind: gut
qualifizierte und engagierte Belegschaften, Mitbestimmung
und Beteiligung sowie hohe Innovationsfähigkeit bei Produkten und Prozessen.
3. Die neuen Techniken können den arbeitenden Menschen
sinnvoll unterstützen. In einer humanorientierten Industrie
4.0 wird es mehr gut qualifizierte und weniger körperlich belastende Arbeit geben. Digitalisierung und Konnektivität
48
j ö r g h o f m a n n ( z w e i t e r v o r s i t z e n d e r d e r i g m e ta l l )
ermöglichen das Aufbrechen starrer Arbeitsstrukturen und
Hierarchien. Damit können nicht nur neue Chancen für qualifiziertes, selbstorganisiertes Arbeiten, sondern auch neue
Chancen auf eine bessere Vereinbarkeit von Arbeit und Leben
eröffnet werden.
Industrie 4.0. ermöglicht eine bessere Berücksichtigung einer gewachsenen Vielfalt in den Beschäftigtenstrukturen.
Junge und Ältere, Einsteiger und Erfahrene – angepasste Assistenz kann unterstützen, ausgleichen und auch zur Inklusion ansonsten Ausgeschlossener beitragen.
4. Zur Realisierung dieser Chancen bedarf es auf dem Weg in
die digitalisierte Arbeitswelt einer nachhaltigen Forschungs-,
Bildungs- und Industriepolitik, die am Menschen ausgerichtet ist. Gerade der Erstausbildung und Weiterbildung wird
eine zentrale Rolle zukommen. Um die neuen Technologien
und Prozesse zu beherrschen und dabei mit dem Tempo der
Veränderungen und Entwicklungen Schritt zu halten, muss
die berufliche Bildung deutlich dynamischer agieren als heute. Die Taktzahl der Digitalisierung ist hoch und beschleunigt
sich weiter.
Meine These ist: unser System der Erstausbildung und Weiterbildung ist für diese Geschwindigkeit noch nicht gerüstet.
In der Weiterbildung haben wir in der Auseinandersetzung
um die tarifliche Bildungsteilzeit nochmals vor Augen geführt
bekommen, wie selektiv und unzureichend berufliche Weiterbildung heute praktiziert wird. Ein erster Schritt ist mit dem
Tarifvertrag nun gemacht.
In der beruflichen Erstausbildung haben wir mit der Reform
der Berufsbilder eine wichtige Voraussetzung geschaffen:
Eine breite, fundierte Erstausbildung, auf der berufliche Spezialisierung und neue Anforderungen durch Weiterbildung
aufbauen können. Die Berufsbilder gilt es nun neu zu justieren; viele Unternehmen haben damit bereits angefangen.
Dagegen haben wir in der akademischen (Erst-)Ausbildung
eine völlig überzogene Kleinteiligkeit und Spezialisierung –
ein Hemmschuh für die Anforderungen des Arbeitsmarktes
einer Industrie 4.0, der nach Veränderung ruft.
5. Entscheidend ist, dass die Mitbestimmung als Korrektiv in
den Unternehmen gestärkt wird. Nur wenn IG Metall, Betriebsräte und Beschäftigte die Arbeitswelt der Zukunft mitgestalten, wird die industrielle Wertschöpfung hierzulande
human und nachhaltig profitabel statt rein profit- und technikzentriert sein. Beschäftigte, Betriebsräte und die IG Metall müssen von Beginn an gezielt auf die Arbeitsorganisation und Technikgestaltung Einfluss nehmen. Dies geschieht
bereits in ersten Pilotprojekten. Für die Mitbestimmungspraxis in der digitalen Arbeitswelt müssen die Mitbestimmungsrechte entsprechend den neuen Herausforderungen
und technologischen Möglichkeiten erweitert und angepasst werden.
6. Eine große Herausforderung, die sich aus der Digitalisierung
ergibt, ist der Beschäftigtendatenschutz. Bis heute gibt es in
Deutschland kein eigenes Beschäftigtendatenschutzgesetz.
Die heutige Rechtslage muss zwingend weiterentwickelt werden. Wir kommen mit den klassischen Instrumenten zur Verhinderung von Leistungs- und Verhaltenskontrollen nicht mehr weiter. Datenschutzzäune hochzu­
ziehen wird immer schwieriger. Umso mehr braucht es
Schutzzäune für Arbeitnehmer: Arbeitnehmerrechte in der
digitalen Arbeitswelt müssen gestärkt werden.
Alles in allem: Es geht um viel. Wir wollen den Weg in die Digitalisierung der Arbeitswelt zu einer Erfolgsstrategie für Unternehmen und Beschäftigte machen. Wir haben deshalb als IG Metall
die Digitalisierung der Arbeitswelt ganz oben auf die Agenda gesetzt. Uns geht es um die Beantwortung der Fragen, die diese
Entwicklung für die Beschäftigten aufwirft.
Wir müssen uns vernetzen, um unser am Menschen orientiertes
Zielbild einer digitalisierten Arbeitswelt der Zukunft umzusetzen. Deshalb lade ich ausdrücklich alle Mitstreiterinnen und
Mitstreiter für diese Idee dazu ein, sich an der von Management
und Betriebsrat der Volkswagen AG gemeinsam mit der IG Metall
gegründeten offenen Plattform für gute Industriearbeit zu beteiligen (www.gutearbeit4punkt0.de).
Sie steht Unternehmen, Betriebsräten und Wissenschaftlern
gleichermaßen offen. Hier sollen Ideen, Konzepte und Praxisbeispiele für gesunde, qualifikationsfördernde Arbeitsbedingungen in der Industrie 4.0 ausgetauscht und damit auf den Weg gebracht werden. In diesem Rahmen werden u.a. Tagungen, Workshops und Expertenforen stattfinden.
49
impressionen
impressionen
In der abschließenden Diskussionsrunde fassen
Dr. Alexandra Baum-Ceisig, Stephan Wolf, Jörg Hofmann,
Dr. Horst Neumann, Prof. Dr. Hartmut Hirsch-Kreinsen,
Dr. Josef Baumert und Dr. Constanze Kurz (v.l.n.r.) ihre
Positionen zusammen und bilanzieren einen
erkenntnisreichen Tag.
Dr. Horst Neumann skizziert die Ziele und
nächsten Schritte von Volkswagen auf dem Weg
zur „Guten Arbeit 4.0“ in Deutschland.
50
51
© Volkswagen Aktiengesellschaft
Institut für Arbeit und Personalmanagement
des Volkswagen Konzerns
Brieffach 011/12310
38436 Wolfsburg
Telefon +49 (0)5361 9–0
Telefax +49 (0)5361 9–28282
E-Mail [email protected]
Internet www.volkswagenag.com/info
Stand 10/2015