EINFÜHRUNG IN DIE HEIL- UND SONDERPÄDAGOGIK Was ist Heil

EINFÜHRUNG IN DIE HEIL- UND
SONDERPÄDAGOGIK
Was ist Heil- und Sonderpädagogik?
Heilpädagogik kann allgemein als “Theorie und Praxis der Erziehung unter
erschwerten personalen und sozialen Bedingungen” bezeichnet werden.
Heilpädagogik beschäftigt sich also in der Theorie und Praxis mit Menschen, deren
Entwicklung unter erschwerten Bedingungen verläuft.
Sie wendet sich an Kinder, Jugendliche und Erwachsene, die aufgrund von so
genannten Verhaltensauffälligkeiten, Störungen oder Behinderungen einen
besonderen Erziehungs- und Unterstützungsbedarf haben.
Heilpädagogik ist Erziehung, Förderung, Entwicklungs- und Lebensbegleitung
unter erschwerten Bedingungen.
Der Begriff Heil- und Sonderpädagogik, wie auch unser Unterrichtsfach (HSP)
genannt wird, ist nicht scharf umgrenzt und wird oft gleichbedeutend mit den
Begriffen
Sonderpädagogik, spezielle Pädagogik, Rehabilitationspädagogik,
Behindertenpädagogik und Heilerziehung verwendet.
Der Begriff Heil- und Sonderpädagogik wird auch des öfteren gleichgesetzt mit dem
Ausdruck Integrationspädagogik. Ein Blick in die Geschichte wird zeigen, dass der
Fokus der Heil- und Sonderpädagogik jedoch ein anderer ist, als der der
Integrationspädagogik.
Berufsbild
HeilpädagogInnen erziehen, bilden, fördern und begleiten Menschen mit
„Auffälligkeiten“, „Störungen“ und „Behinderungen“ im Bereich des Verhaltens, der
geistigen, körperlichen und seelischen Entwicklung.
Sie können in folgenden Arbeitsfeldern tätig sein:
• Frühförderung
• Sonderkindergärten, heilpädagogische Kindergärten, integrative Kindergärten,
Kindertageseinrichtungen und –horte,
• Erziehungs-, Familien-, und Schulberatungsstellen,
• Einrichtungen der stationären, teilstationären und ambulanten Kinder- und
Jugendhilfe,
• Werkstätten und Wohnheime für Menschen mit Behinderung
• Berufsbildungs- und Berufsförderungseinrichtungen,
• Schulen
• kinder- und jugendpsychiatrische Abteilungen der Krankenhäuser,
• Rehabilitationseinrichtungen,
• freie Praxen.
1
Geschichtlicher Rückblick
„Das Bedürfnis des Menschen, zu helfen wo ein Mensch in Not ist, hat seine
Geschichte, ebenso wie das entgegengesetzte Bedürfnis, Krankes und NichtNormales zu meiden und zu verbannen…auch hier ist Geschichte zum Verständnis
der Gegenwart und zur Bereitung der Zukunft unerlässlich.“1
Ein gesunder Körper stellt bei den Griechen und Römern das antike Idealbild des
Menschen dar: Ein gesunder Geist in einem gesunden Körper. Mit dem Ideal der
körperlichen und geistigen Tüchtigkeit kam es auch zu einer Geringschätzung
solcher Menschen, die dieser Norm nicht entsprachen. Kindestötung, Aussetzung
von Kindern oder Meidung von missgebildeten und „schwachsinnigen“ Menschen
waren einige der vielen Folgen. Das Schicksal dieser Menschen war vom Mitleid
oder Erbarmen der Gesellschaft die sie umgab abhängig. Sie galten nicht als
vollwertige Individuen und hatten außer der Bettelei und dem Diebstahl (wenn sie
dazu überhaupt imstande waren) keinerlei Erwerbsmöglichkeiten.
Mit dem Christentum kam, wenn auch langsam, eine gesellschaftliche Wandlung im
Verhalten behinderten Menschen gegenüber. Im Namen Christi wurden Spitäler für
Kranke, Dörfer für Aussätzige und Heime für Menschen mit Behinderung gebaut.
Weiteres versuchte man sinnesbehinderten Menschen einfache Arbeiten zu lehren
(z.B. Korbflechten) und Menschen mit einer geistigen Behinderung in
Klosteranstalten zu pflegen. Dies geschah aber nicht flächendeckend für das ganze
christliche Europa, sondern konzentrierte sich meist auf Klöster, deren Mönche und
Nonnen sich der karitativen Arbeit verschrieben hatten bzw. auch um einige sich
stark karitativ betätigende fromme Frauen (z.B. Elisabeth von Thüringen 1207-1231).
Dennoch konnte sich der christliche Gedanke der Nächstenliebe nur langsam
durchsetzen. Denn trotz gutem Willen einzelner Männer und Frauen oder einiger
Klostergemeinschaften in Nächstenliebe tätig zu sein, war die Gesellschaft
gleichzeitig bemüht Menschen mit Behinderung aus dem Straßenbild zu entfernen
um den Nichtbehinderten ihren Anblick zu ersparen. Die Folge davon (besonders in
der Zeit der Aufklärung - ca. 1680 bis 1780) waren immer mehr Anstalten, in denen
Menschen mit einer körperlichen Behinderung und besonders jene mit einer
geistigen Behinderung ein lebenslanges Verwahren und Pflegen erfuhren.
Die Situation dieser Menschen verschlechterte sich zusehends durch den
wirtschaftlichen Aufschwung, der Verstädterung und der zunehmenden
Wettbewerbsorientierung im ausgehenden Mittelalter, in der Neuzeit, ja bis hinein in
unsere jüngste Vergangenheit.
Der Leistungsgedanke erzeugte eine ambivalente Haltung gegenüber Menschen mit
Behinderung. Einerseits wurden sie als leistungsschwach und so für die Gesellschaft
als uninteressant verwahrt und/oder ausgeschlossen, anderseits versuchte man
durch die Sonderschulen und Anstalten Wege zu finden ihr Leistungsniveau zu
heben und sie dann als nützliches Individuum der Gesellschaft wieder
zurückzuführen.
1
Roser, Ludwig Otto (1998): Gegen die Logik der Sondereinrichtung – Die Geschichte der
Menschenwürde,Berlin, S 123
2
In diesen neugegründeten Sonderschulen und Anstalten des 18. und 19. Jhdt.
kamen vorerst nur lernschwache oder sinnesgeschädigte Kinder; Menschen mit einer
geistigen Behinderung galten als nicht bildungsfähig.
Der Begriff “Heilpädagogik” trat in dieser Zeit zum ersten Mal auf. Die beiden
Pädagogen Jan Daniel Georgens (1823-1886) und Heinrich Marianus Deinhardt
(1821-1880) gründeten um 1856 eine Heilpflegeanstalt, in der zum ersten Mal
Pädagogik mit medizinischem Wissen verknüpft wurde. Sie verstanden ihre Tätigkeit
als Zwischengebiet zwischen Medizin und Pädagogik und gaben ihr daher den
Namen Heilpädagogik. Sie veröffentlichten 1861 und 1863 ihr zweibändiges Werk
“Die Heilpädagogik mit besonderer Berücksichtigung der Idiotie und der
Idiotenanstalten”.
Die Zeit des Nationalsozialismus brachte Leid, Verfolgung und Tötung für alle, die
mit dem Stigma der körperlichen und geistigen Behinderung behaftet waren. Die
Vernichtung der Schwachen, Kranken und Krüppel sollte zur Heilung des
Volkskörpers führen. Kurz nach der Machtergreifung Hitlers tritt das „Gesetz zur
Verhütung erbkranken Nachwuchses“ in Kraft. Schätzungsweise bis zu 350.000
Menschen wurden dadurch gegen ihren Willen sterilisiert. Mit Kriegsbeginn tritt
anstelle der Sterilisierungspraxis die Euthanasie. Dem während der
nationalsozialistischen Herrschaft bis 1945 durchgeführten Töten „lebensunwerten“
Lebens konnten nur wenige entkommen, denn alle Kinder mit (u.a.) „Idiotie“,
„Mongolismus“ oder Missbildungen mussten den Gesundheitsämtern angezeigt
werden. Schätzungsweise 275.000 Menschen mit Behinderung wurden in
Vernichtungslagern umgebracht.
In der Nachkriegszeit entstanden in Europa wieder Institutionen in welchen
Menschen mit Behinderung rein pflegerisch versorgt und verwahrt wurden. Das
Hauptaugenmerk lag damals in der Rehabilitation der Kriegsopfer. Menschen mit
einer geistigen Behinderung galten nach wie vor als bildungs- bzw. lernunfähig. Mit
diesen Wesensmerkmalen wurde ihnen jede Möglichkeit abgesprochen ein
„normales“ Leben zu durchlaufen und sich selbst zu verwirklichen.
Parallel zum aussondernden Umgang fand jedoch auch eine neue Zuwendung zum
Menschen hin statt, die vor allem karitativer Natur war. Es entstanden Institutionen, in
denen hauptsächlich Kindern geholfen werden sollte ihre Behinderung zu „mindern“
oder zu „beseitigen“. Einrichtungen dieser Art gab es schon vorher, jedoch
ausschließlich für Menschen mit einer Sinnesbehinderung. In verstärktem Maße
sollten nun auch Kinder mit einer geistigen Behinderung gefördert werden. Neben
der Verwahrung, Pflege und rein medizinischen Versorgung trat vor allem die
Förderung in den Vordergrund. Eltern von Kindern mit einer geistigen Behinderung
gründeten in der 50er Jahren die „Lebenshilfe für das geistig behinderte Kind“, da es
zu dieser Zeit noch keine Kindergärten oder Schulen für Kinder mit einer geistigen
Behinderung gab. Es kam zu einer Ausdifferenzierung des Sonderschulwesens. Es
entstanden Sonderschulen für Kinder mit einer geistigen Behinderung,
Sonderschulen für Kinder mit einer körperlichen Behinderung, Sonderschulen für
Kinder
mit
einer
Sehbehinderung,
Sonderschulen
für
Kinder
mit
Hörbeeinträchtigungen usw.
Die Ausgliederung von Menschen mit einer geistigen Behinderung aus reinen
„Verwahrungsanstalten“ stellte einen bedeutsamen Schritt hin zu einem humaneren
Umgang mit Menschen mit Behinderungen dar.
3
Heil- und Sonderpädagogik wurde zu einer eigenen Fachdisziplin. Sie befasste sich
speziell mit der Erziehung, Förderung und Unterstützung von Menschen mit
Behinderungen verschiedenster Art.
Behinderung wurde im Rahmen der Heil- und Sonderpädagogik als
Entwicklungsrückstand gesehen und zu einem zentralen Gegenstand der Pädagogik.
Für diese Pädagogik galt: Entwicklung zu beschleunigen bzw. nachzuholen. Es ging
darum die Defizite eines Menschen durch Behandlung, Therapie und
Förderung zu lösen, damit dieser wieder in die „normale“ Gesellschaft
aufgenommen werden konnte.
Daraus erklärt sich auch der Name “Heil- und Sonderpädagogik“. Behinderung
wird als Krankheit gesehen, die es zu „heilen“ gilt. Dies wird mit „besonderen“
Methoden versucht, die speziell für eine „besondere“ („ausgesonderte“?)
Personengruppe, in „besonderen“ Institutionen entwickelt wurden.
Im Laufe der Geschichte hat sich speziell seit den 60er und 70er Jahren die
Bedeutung dieses Heilungsgedanken gewandelt. Eine Neuorientierung der Heilund Sonderpädagogik in Richtung Integrationspädagogik begann sich in dieser
Zeit zu vollziehen.
Etymologisch2 bedeutet heil “ganz” (griech. holos). Der Begriff “heil” wurde in
diesem Zusammenhang auch im Sinne der ganzheitlichen Betrachtung des
Menschen verstanden. Der Blick wurde nicht mehr ausschließlich auf die
Defizite (= die Behinderung) eines Menschen gerichtet, sondern es wurde die
ganze Person mit all ihren Fähigkeiten und Begabungen, aber auch mit all
ihren Schwierigkeiten und Einschränkungen wahrgenommen.
Was ist Integrationspädagogik?
Integrationspädagogik ist die „Theorie und Praxis der gemeinsamen Erziehung
und Bildung von Menschen mit und ohne Behinderung“.
Integrationspädagogik befasst sich mit der Frage: Wie können
Rahmenbedingungen geschaffen werden, damit Menschen mit und ohne
Behinderung gemeinsam leben, lernen und sich bestmöglich entwickeln
können? Genau genommen ist Integrationspädagogik damit keine spezielle Disziplin
der Pädagogik, denn sie befasst sich mit allen Menschen in unterschiedlichsten
Lebensbereichen (Bildung, Arbeit, Freizeit, Familie usw.). Deshalb wird sie des
öfteren auch „Allgemeine Pädagogik“ genannt.
Der Grundgedanke lautet: Nicht allein Behinderung oder erschwerte
Bedingungen und deren Behebung dürfen Gegenstand der Pädagogik sein. Es
ist der ganze Mensch mit seinen Fähigkeiten, Problemen und Ressourcen,
sowie seinem sozialen Umfeld bei der Bearbeitung und Lösung von
Problemstellungen zu betrachten und mit einzubeziehen.
2
Etymologisch = Herkunft, Geschichte und Grundbedeutung eines Wortes betreffend
4
Im Duden ist unter dem Begriff Integration folgende Definition zu finden:
Wiederherstellung eines Ganzen, Wiederherstellung einer Einheit, Vervollständigung,
Einbeziehung, Eingliederung in ein größeres Ganzes…“3
Seit etwa 1990 wird für den Begriff Integration auch immer häufiger der Begriff
Inklusion ( = Einschließung, Einschluss) verwendet. So wie die
Integrationspädagogik nichts anderes ist, als eine weitere Entwicklungsstufe der
Heil- und Sonderpädagogik , so kann Inklusion als weitere Entwicklungsstufe der
Integration bezeichnet werden.
Was unterscheidet Inklusion von Integration?
•
Während im Wort Integration eher ein
bestimmten Umständen eine besondere
Menschen in zwei Gruppen einteilt („normal“
die Verschiedenheit im Gemeinsamen
verschieden zu sein“).
•
In der Inklusion wird davon ausgegangen, dass alle Menschen verschieden
sind. Menschen werden nicht aufgrund bestimmter Eigenschaften in Gruppen
eingeteilt (behindert – nicht behindert). Jeder Mensch wird in seinem Sosein
akzeptiert. Es wird keine bestimmte Norm vorgegeben, die alle Menschen zu
erreichen haben. Jeder Mensch kann sein eigenes Lebens-(Lern-)ziel haben.
Dadurch spielt es keine Rolle, ob ein Mensch hochbegabt, behindert oder
nicht behindert ist, jeder erhält ein individuelles Angebot und damit seinen
Platz in der Gemeinschaft.
Inklusion versucht die Gesellschaft bzw. deren Struktur zu verändern,
nicht das Individuum.
•
„Die Mehrheit integriert unter
Minderheit“ steckt und damit
– „behindert“), lässt die Inklusion
bestehen (-> „es ist normal
Geschichte der Integrationspädagogik
Der Aussonderung aus der gemeinsamen Umwelt bzw. der alltäglichen Lebenswelt
stellten sich etwa ab den 60er Jahren u.a. Vertreter der Montessori-Pädagogik,
Elternvereine und Selbstbetroffene entgegen. Der bisher selbstverständliche
Lösungsweg, Menschen mit Behinderung von gemeinsamen Lebens- und
Lernprozess auszuschließen, wurde stark kritisiert. Eltern und Betroffene kämpften
mit Unterstützung engagierter PädagogInnen für die gleichberechtigte Teilhabe von
Menschen mit Behinderung in allen Bereichen des Lebens (Schule, Arbeit,
Freizeit…). Sie forderten, dass Menschen mit Behinderung unabhängig vom
Grad der Behinderung an allen Bereichen der Gesellschaft teilhaben können (=
ungeteilte Integration). Sie versuchen bis heute die Gesellschaft mit dem
Integrationsgedanken vertraut zu machen. Ein wesentlicher Appell dieser Gruppe an
uns ist: „Die Eingliederung in die Gesellschaft kann nicht durch Ausgliederung
vorbereitet werden! Nur im Umgang mit Menschen mit Behinderung kann uns
der behinderte Mensch "alltäglich" werden. Denn Fremdsein schafft Distanz,
Vertrautheit aber ermöglicht Integration.“
3
Duden, Fremdwörterbuch:bearbeitet vom wissenschaftlichen Rat der Dudenredaktion. 5. neu
bearbeitete Auflage. Mannheim, Wien, Zürich. 1990. Dudenverlag.
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