Programmheft - Residenztheater

Zum Stück
Nach Jahren der Flucht erbitten Jason und Medea von König Kreon
für sich und ihre Kinder Hilfe und Asyl. Nach Kreons Willen dürfen Jason
und seine Söhne bleiben, Medea dagegen, die Barbarin, soll das Land verlassen und weiterziehen. Obwohl Medea das fluchbeladene goldene Vlies
tief in der Erde begraben und sich zum Zwecke einer erwünschten Integration von ihren Zauberkräften verabschiedet hat, weist man sie aus. In einem ersten Tagtraum(a) erinnert sie sich an ihre früheste Jugend: Ihr Vater
Aietes tötete aus Furcht vor den Kolonisatoren mit ihrer Hilfe den „Gastfreund“ Pryxus und eroberte das goldene Vlies. Durch die Beschäftigung
mit der Vergangenheit gewinnt Medea Klarheit. Sie bekennt sich zu ihrer
Schuld, begegnet Kreon und seiner Tochter Kreusa mit Offenheit und bittet um Verständnis für ihre Situation.
Kreusa verbindet eine tiefe Jugendliebe mit Jason, der sich, durch
die Jahre der Rastlosigkeit erschöpft, nach Ruhe und einem Zuhause für
sich und seine Kinder sehnt. Medea spürt, wie sie Jason an Kreusa verliert.
Wieder ereilt sie die Erinnerung. In einem zweiten und dritten Tagtraum(a)
erscheint ihr Jason als der fremde Verführer, der sie gegen ihren Willen
um den Preis des Vlieses erobert hat. Immer deutlicher wird ihr Ausgeliefertsein gegenüber Jasons imperialem Vorgehen. In ihren Tagträumen klärt
Medea ihre Beziehung und macht sich bereit für Veränderung. Doch dann
verlangt König Kreon, von den Herolden des Volkes unter Druck gesetzt,
die Übergabe des magischen Widderfells. Medea, auf ihre barbarischen Ursprünge zurückgeworfen, tötet unter den Sternen des griechischen Götterhimmels ihre Kinder und setzt Kreons Palast in Flammen.
Anne Lenk inszeniert Franz Grillparzers 1821 am Wiener Burgtheater
uraufgeführtes dramatisches Gedicht als großes Liebes- und Überlebensdrama. Dabei erzählt sie Grillparzers Trilogie von ihrem dritten Teil („Medea“)
aus und stellt mit Rückblenden in den ersten („Der Gastfreund“) und zweiten Teil („Die Argonauten“) Medeas private Tragödie als eine Verkettung
von Schieflagen in Geschichte und Gegenwart dar. „Das goldene Vlies“,
für Grillparzer ein „sinnliches Zeichen des Wünschenswerten, des mit Begierde Gesuchten, mit Unrecht Erworbenen“ (Tagebuch 1822), wird zum
grotesken Wiederschein europäischer Kolonialgeschichte von den portugiesischen Eroberungen im 15. und 16. Jahrhundert bis zu den imperialen Großmachtträumen der Europäer im 19. und 20. Jahrhundert. Die
Gespenster der Vergangenheit erscheinen Medea als Traumata (altgriech.
„Wunden“) inmitten moderner Beziehungs- und Bürgerkriege, deren Opfer
tagtäglich zahllose Kinder sind.
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Der Mythos vom goldenen Vlies
fußt auf einer mündlichen Überlieferung
vom Beginn der griechischen Kolonisation im 8. und 7. Jahrhundert v. Chr.
Das Vlies war das Fell eines goldenen
Widders, der fliegen und sprechen
konnte, und auf dem Phryxus vor den
mörderischen Absichten seiner Stiefmutter Ino aus Griechenland geflohen
war. In Kolchis, einem fremden Land
am anderen Ende des Schwarzen Meeres, wurde der Widder auf Phryxus´
Bitte hin geopfert, sein Fell im Hain des
Ares aufgehängt und von einem riesigen
Drachen bewacht. Dieses magische
Vlies, das seinen Besitzer schützt und
unbesiegbar macht, sollte Jason, der
rechtmäßige König von Jolkos, später
nach Griechenland zurückholen. Er lud
alle griechischen Prinzen auf sein Schiff,
die Argo, ein, sich an der Expedition zu
beteiligen.
Man vermutet den Hintergrund der
Argonautenfahrt in der kolonialen Gier
der Griechen nach Bodenschätzen.
Noch im 2. Jahrhundert n. Chr. wusste
Appian, dass die Flüsse des Kaukasus
reichlich Goldstaub führten und um
1876 entdeckte man bei Grabungen in
der Region zahlreiche Zeugnisse der
Goldschmiedekunst.
Als Jason und seine Argonauten in
Kolchis angekommen waren, sorgten
die Göttinnen Hera und Aphrodite dafür, dass die Königstochter und heidnische Zauberin Medea sich rettungslos
in Jason verliebte. Mit Medeas Hilfe
konnte Jason nun den Drachen besiegen und das Vlies erobern. Medea aber
folgte Jason, tötete ihren Bruder auf
der Flucht vor ihrem Vater Aietes, dessen Fluch das unglückliche Paar bis zu
seiner Rückkehr in Jasons Heimat verfolgen sollte.
Meike Droste MEDEA Johannes Zirner JASON
Oliver Nägele KÖNIG KREON + KÖNIG AIETES Nora Buzalka KREUSA
Katrin Röver GORA Lukas Turtur ABSYRTUS + KIND DER MEDEA
René Dumont MILO + KIND DER MEDEA
Gerhard Peilstein,
Simon Werdelis, Bijan Zamani PHRYXUS + HEROLD
VON FRANZ GRILLPARZER
SPIELFASSUNG VON ANDREA KOSCHWIT Z UND ANNE LENK
Regie Bühne
Kostüme
Musik
Licht
Dramaturgie
ANNE LENK
JUDITH OSWALD
SIBYLLE WALLUM
LEO SCHMIDTHALS
MARKUS SCHADEL
ANDREA KOSCHWITZ
REGIEASSISTENZ Maria Weise
BÜHNENBILDASSISTENZ Thilo Ullrich
KOSTÜMASSISTENZ Cátia Palminha
DRAMATURGIEASSISTENZ Rose Reiter
REGIEPRAKTIKUM Leon Stork
KOSTÜMPRAKTIKUM Janina Fabian + Céline Kirsch
REGIEHOSPITANZ Bálint Szilágyi
BÜHNENBILDHOSPITANZ Greta Edzard
PREMIERE
6. Dez 2015
Residenztheater
Vorstellungsdauer
ca. 3 Stunden
Eine Pause
BÜHNENMEISTER Andreas Lorenz + Karl-Heinz Weber
BELEUCHTUNGSMEISTER Fabian Meenen
STELLWERK David Jäkel
TON Michael Gottfried
REQUISITE Armin Aumeier + Anna Wiesler
MASKE Lena Bader + Olga Rex
GARDEROBE Michaela Fritz + Caiyan Ngo +
Johannes Schrödl + Ute Stritzel + Jörg Upmann
INSPIZIENZ Wolfgang Strauß
SOUFFLAGE Thomas Rathmann
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Weil eine Fremd‘ ich bin, aus fernem Land,
Verachten sie mich, sehn auf mich herab,
Und eine scheue Wilde bin ich ihnen,
Die unterste, die letzte aller Menschen.
Ich will ja gerne tun, was ihr mir sagt,
Nur sagt mir, was ich tun soll, statt zu zürnen.
Du bist, ich seh‘s, von sittig mildem Wesen,
So sicher deiner selbst und eins mit dir;
Mir hat ein Gott das schöne Gut versagt.
Doch lernen will ich, lernen, froh und gern.
FLUCHT
Viele Menschen erleben die Flüchtlinge als
Bedrohung, als eine Bedrohung „unserer Länder“, „unserer Kultur“, des „Territoriums“, der
„Nation“. Sie erleben sie als Bedrohung eines gesellschaftlichen Organismus. Wer die Plakate und
die Reden rechtspopulistischer Parteien analysiert, sieht, dass immer die als homogen wahrgenommene Nation im Zentrum steht. In diesem
Bild erleben „echte Österreicher“ oder „echte
Ungarinnen“ oder „echte Finnen“, die alle aufgrund ihrer Geburt der jeweiligen Nation angehören, alles, was von außen kommt, als Bedrohung.
Diese Körpermetaphorik ist nicht neu. Wir kennen die Rhetorik des sogenannten Volkskörpers
aus dem Nationalsozialismus, aber auch schon
aus dem 19. Jahrhundert, aus der Romantik. Da
wird die Nation als Körper verstanden, als etwas
Lebendiges, in das Feinde – Seuchen, Krankheiten, Parasiten – eindringen.
In Bezug auf das Flüchtlingsdrama erleben
wir zurzeit eine große Polarisierung, die allerdings erst sehr spät eingesetzt hat. Seit mindestens drei Jahren ertrinken Flüchtlinge im Mittelmeer. Sehr lange wurde das Problem an die
italienische Küste verdrängt, so als ob das Drama
uns nichts anginge. Mit Zahlen kann der Mensch
meist wenig anfangen, diese scheinen abstrakt
und erdrücken einen allenfalls. Erst als wenige
Kilometer von Wien entfernt Menschen in einem
Kühllastwagen erstickt aufgefunden wurden, sind
alle aufgewacht.
Es gibt eine fundamentale archaische Angst
vor der Fremdheit, zu der schon Sigmund Freud
viel gesagt hat. Der Soziologe Zygmunt Bauman
spricht vom postmodernen Fremden, der umherzieht und nirgendwo zu Hause ist. Das sind die
Menschen, die wir nun sehen. Sie sind irgendwo
ausgewandert und kommen nirgendwo an.
Ruth Wodak
TRAUMA
Gewalt und Zerstörung überraschen. Sie verletzen nicht nur oder schmerzen, sie irritieren
auch. Sie scheinen unbegreiflich – noch bevor
sie als unbeschreiblich gelten. Extreme Grenzsituationen, ob ein Erdbeben, eine Geiselnahme
oder Folter, stellen zunächst einmal, jenseits von
dem Grad des Leids und der moralischen Verstörung, die sie auslösen, einen Verlust an kognitiver
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Sicherheit dar: Die vertraute Ordnung des Lebens zerfällt, wenn Menschen in einen Kontext geworfen werden, der all ihre lebensweltlichen und normativen Erwartungen zerschellen lässt.
Die Traumaforschung weist darauf hin, dass gerade
diese Unfähigkeit, das in extremen Situationen Erlebte einzusortieren, den Kern des Traumas ausmacht. Es
wäre demnach nicht der Inhalt der Erfahrung entscheidend für die traumatische Erschütterung, sondern die
Entkopplung von früheren Erlebnissen, die es unmöglich macht, sie sinnvoll zu begreifen. Nicht allein das,
was die Opfer von extremem Unrecht und Gewalt erleben, lässt sie verstört zurück, sondern wie es das eigene
Leben unterbricht, in ein Vorher und Nachher einteilt.
können. Wie mäandernd sich unser Leben auch seinen
Weg bahnt, suchen wir doch danach, den Verlauf in ein
Narrativ bringen zu können. Erzählend begradigen wir
manchmal nachträglich, was sich holpernd und schlängelnd entwickelt hat, aber wir vollziehen doch vor allem
die beabsichtigten wie unbeabsichtigten Bewegungen
nach – und zeichnen das Vorgefundene erst aus, geben
den Zufällen einen Sinn, den Unfällen eine Bedeutung
und uns selbst eine bestimmte Kontur. Manchmal bewirken spätere Erlebnisse eine rückwärtige Umschreibung
des früher Erlebten, manchmal schreibt das Wissen um
Vergangenes die Erfahrung des Neuen so vor, dass es
niemals als Neues, sondern immer nur als bestätigende
Wiederholung des Alten gelesen wird.
*
In extremen Ausnahmesituationen sieht sich das
Opfer aber einer gleichermaßen kompakten wie komplexen Topographie der Gewalt gegenüber. Als ob mit
einem Mal das unthematisierte Hintergrundwissen einer
ganzen Lebenswelt zerfallen, alle impliziten Gewissheiten auf einen Schlag zerstoben wären.
Und so versuchen Opfer von Gewalt und Willkür oft,
eine Art Kontinuität herzustellen, in irgendeiner Weise
Gewissheiten zu retten, die galten, bevor sie in diesen
Irrsinn geworfen wurden. Wer wären sie auch, wenn sie
sich umgehend von allen moralischen und kulturellen
Erwartungen und Referenzen lossagen könnten? Wer
wären sie, wenn sie allzu leicht akzeptieren könnten,
dass alles normativ Gesicherte, alles lebensweltlich
Vertraute auf einmal nicht mehr gesichert sein soll?
Stattdessen versuchen sie an die Person anzuschließen,
die sie waren, bevor die Umstände alles gleichsam verrückt hatten.
*
Es reicht nicht, Mechanismen der Exklusion nur zu
markieren, sie müssen ausbuchstabiert werden in konkrete Erfahrungen, sie müssen übersetzt werden in Bilder und Worte, die anschlussfähig sind für diejenigen,
die diese Erfahrungen nie gemacht haben.
Der größte Gegner von Emanzipation und Anerkennung sind nicht repressive Gesetze allein, sondern mangelnde Vorstellungskraft.
*
Solche Verschiebungen bringen die Zeitlichkeit
durcheinander, weil die erzählende Person sich offensichtlich nicht mit ihrer eigenen Gegenwart in Deckung
bringen kann oder mag. So entkoppelt sie sich von sich
selbst und der grausamen Ordnung, in die sie sich einfügen soll, indem sie Brüche herstellt, die in die eigene
noch unbeschädigte Vergangenheit zurückreichen.
*
Ohne das Sprechen mit anderen als eine Form des
Miteinanders können wir uns weder unserer selbst noch
der Welt wirklich gewiss sein. Wir sind abhängig davon, unsere Erfahrungen in eine Geschichte betten zu
*
Aber das ist es, was ich fordere: dass wir ein präziseres Vokabular entwickeln für unsere Schmerzen an und
in der Demokratie, dass wir immer genauere, immer feinere, immer zartere Worte und Beschreibungen finden
für das, was uns fehlt, dass wir die Begriffe, die uns verletzen, die Praktiken, die uns ausschließen, die Gesetze,
die uns diskriminieren, übersetzen in Erfahrungen, die
so genau, so kleinteilig ausbuchstabiert werden, dass
sie auch diejenigen verstehen, die sie nicht kennen, dass
wir auf diese Weise erkennen, was das Gemeinsame sein
kann und muss und was das Individuelle, und dass wir
auf diese Weise auch innerhalb der Kollektive, denen
wir gerade zugeordnet werden, neue Verschiedenheiten und Vielheiten entdecken und zeigen können.
*
Manches daran ist wie ein Impuls: Da sind Menschen
in Not, die brauchen Hilfe, und so wie man nach einem
Glas Wasser greift, wenn es vom Tisch zu fallen droht,
unbewusst, reflexhaft, so unbewusst und reflexhaft reagiere ich auf Bilder von Flüchtlingen oder Eingeschlossenen. Das ist eine Intuition. Nicht mehr. Das ist nichts
Besonderes. Carolin Emcke
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Was er am liebsten liebt – verderb ihn! –
Und dieses Vlies, das jetzt in seiner Hand,
Soll niederschaun auf seiner Kinder Tod!
EIN GESPRÄCH MIT DER REGISSEURIN ANNE LENK ÜBER „DAS GOLDENE VLIES“
Franz Grillparzers dramatische Bearbeitung des antiken Mythos um die kindermordende Königstochter Medea unterscheidet sich von anderen Interpretationen des
Stoffes und stellt mit seinen drei Abteilungen „Der Gastfreund“, „Die Argonauten“ und
„Medea“ eine große Herausforderung an eine zeitgenössische Inszenierung. Warum hast
Du Dich für „Das goldene Vlies“ interessiert?
Gerhard Peilstein, Oliver Nägele, Bijan Zamani,
Meike Droste, Simon Werdelis
Bei Grillparzer wird die Geschichte der Medea in einem
größeren Zeitraum erzählt, und schon allein dadurch die Figur, die eine der spannendsten Frauen der Theaterliteratur ist,
vergleichsweise positiv geschildert. Wir lernen Medea in ihrer
frühen Jugend kennen, sehen, wie sie sich in Jason verliebt,
ihre Heimat und ihre Ursprungsfamilie verlässt und schließlich
als Mutter zweier Kinder in der Fremde einen schmerzvollen
Trennungsprozess erlebt. Des Weiteren gibt es ein zweites
zentrales Konfliktfeld: die Gier nach Macht und Gold. Alle dramatischen Wendepunkte hängen in Grillparzers Bearbeitung
mit dem Vlies zusammen, Medea dagegen ist hier nicht mehr
die böse Zauberin und Barbarin. Sie ist eine Frau, die sich, was
von Grillparzer erstaunlich modern geschildert wird, in einer
von Männern beherrschten Welt des Reichtums und der Macht
behaupten muss. Insofern entwirft Grillparzer in seinem Stück
eine Welt, die meiner Meinung nach extrem nah an unserem
heutigen Europa oder vielmehr der Europäischen Union liegt,
die, um es mit Giorgio Agamben zu sagen, eine „ideen- und
zukunftslose institutionalisierte Lobby“ ist, „die sich der düstersten aller Religionen, der Religion des Geldes, blind verschrieben hat“. Spannend ist der dramatische Stoff auch als
Teil unserer Kulturgeschichte: ein griechischer Mythos, am
Anfang des 19. Jahrhunderts von einem Österreicher überarbeitet, zeigt das heutige Europa, in dem politische Schieflagen
und grobe Versäumnisse immer wieder für große Tragödien
einzelner Menschen und Familien verantwortlich sind. 6
Im Zentrum von Grillparzers Interpretation steht die Liebesgeschichte von Jason und Medea. Immer wieder wird in
der Literatur auf den bürgerlichen Charakter seiner Interpretation hingewiesen, Grillparzers Vorahnung auf das Freud´sche
Zeitalter der Psychoanalyse. Mit dem Zitat des Liebesgleichnisses der Kugelmenschen von Platon verweist Grillparzer
aber auf einen Idealbegriff von Liebe, der im Zusammentreffen der jugendlichen „Barbarin“ Medea und des von Grillparzer sehr empfindsam gezeichneten Argonauten Jason nicht
nur für die beiden Protagonisten zum existenziellen Problem
werden wird. Wie interpretierst Du mit Deinen Schauspielern
diese Liebe?
Blindtext
Meike Droste, Johannes Zirner
Johannes Zirner, Meike Droste
Herr Grillparzer erzählt uns eine wunderschöne und sehr
tragische Liebesgeschichte. Ein junger Abenteurer verliebt
sich wahnwitzig in eine junge Frau und möchte sie um alles in
der Welt „besitzen“. Sie verlässt und verrät ihre Familie, sieht
ihren Bruder sterben und schließt sich diesem Mann an. Auf
der Basis von so viel Leid und Blut danach auf See eine unbeschwerte neue Liebesbeziehung zu knüpfen, ist nicht einfach.
Schwierig wird es aber besonders dann, wenn Medea und
Jason in dessen Heimat angekommen sind. Man kann dem
Paar dabei zusehen, wie es an den äußeren Umständen zerbricht. Jason sagt zu Kreusa, er könne nur wieder „Mensch
unter Menschen sein“, wenn alles, was er mit Medea erlebt
hat, „ungeschehen sei“. Inmitten seiner Landsleute ist die
Fremde, die Barbarin, so bedrückend, dass er seine Ehe aufgibt. Beide sind auf Hilfe und Asyl angewiesen, aber er hat
als Grieche bessere Chancen. Vor lauter Angst um seine und
der Kinder Sicherheit, lässt er seine Frau fallen – noch bevor
Medea auf Kreons Aufforderung hin das Vlies und das tödliche Brautkleid für Kreusa wieder ausgraben wird. Beides
hatte sie bei Grillparzer am Beginn des dritten Teils tief in die
Erde „versengt“ und sich damit von ihrer Vergangenheit, ihrer Identität und ihrer Heimat losgesagt. Kreon, in seiner Gier
nach dem Vlies, erinnert sie an ihre Zauberkraft, und erst daraufhin zieht Medea die letzte Konsequenz: die Zerstörung des
Palastes und der Mord an den Kindern.
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Nora Buzalka, René Dumont, Meike Droste,
Gerhard Peilstein, Katrin Röver, Johannes Zirner
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Das Vlies benennt Franz Grillparzer (1791-1872) in seiner Selbstbiographie als „sinnliches Zeichen des unrechten
Gutes“. Das goldene Widderfell galt in der antiken Mythologie
als Schutz- und Siegespfand. Was ist für Dich das titelgebende
„goldene Vlies“?
Der Eroberer Phryxus holt das Widderfell vom Tempel in
Delphi zum Schutz für seine Reise und als Pfand für sein Wirken in Medeas Heimat Kolchis. Es soll ihm zur Macht verhelfen. König Aietes möchte sich aber nicht den Fremden unterordnen, tötet sie mit Hilfe des Zaubertranks seiner Tochter
Medea und bereichert sich an ihren Schätzen. Phryxus belegt das Vlies mit einem Fluch. Für mich wird es zum Sinnbild
des modernen Kapitalismus: Es bedeutet Schutz und Fluch.
Die Menschen sind dem Gold gefolgt. Die Griechen sind nach
Kolchis (Georgien) gereist, um Gold zu finden, die Europäer
sind im Zeitalter der Kolonialisierung aus demselben Grund
nach Afrika und Amerika gezogen. Die aktuellen Flüchtlingsströme sind unter anderem eine Konsequenz dieser von Europa ausgehenden Eroberungszüge, die bis heute ihre katastrophalen Spuren besonders in Afrika hinterlassen haben
und täglich weiter hinterlassen. Ich sehe das gegenwärtige
Flüchtlingsproblem als Folge globaler Geldpolitik. Die Menschen haben keine Lebensgrundlage mehr in ihrer Heimat und
müssen oftmals unter Einsatz ihres Lebens in die Fremde ziehen. Diejenigen, die vom Gold profitieren, sinnbildlich, sind
wir Europäer. Das Gold verspricht Schutz und Macht, aber es
ist fluchbeladen. Es macht Menschen zu Monstern und geht
über Leichen. Meike Droste
Bei der Inszenierungsvorbereitung entstand zwischen uns sehr früh
die Idee, die Inszenierung nicht in der Chronologie der drei Abteilungen
von Grillparzers dramatischem Gedicht zu erzählen. Wir beginnen mit dem
dritten Teil und kehren immer wieder in Trauma ähnlichen Rückblenden
zu der Geschichte des Vlieses und der Liebe zwischen Jason und Medea
zurück. Warum?
Meike Droste, Johannes Zirner
Oliver Nägele
In den Erinnerungs- und Traumsequenzen Deiner Inszenierung arbeitest Du gemeinsam mit der Kostümbildnerin
Sibylle Wallum mit historischen Zitaten in Maske und Kostüm
und entwirfst eine spielerische Zeitreise durch die Epochen
der Kolonialisierung bis in die Gegenwart der Flüchtlingsströme aus Mittel- und Nordafrika, die die Europäische Union zu
zersprengen scheint. Das Bühnenbild von Judith Oswald spielt
mit Assoziationen des griechischen Götterhimmels, der mit
seinen zwölf Sternen zum Vorbild der Europaflagge geworden
ist. Welche Visionen stecken hinter diesem Kostüm- und Bühnenbild?
Nora Buzalka, Meike Droste, Johannes Zirner
Nora Buzalka, Katrin Röver, Meike Droste,
Johannes Zirner, Oliver Nägele
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Kostüme sind, wie die Bühne und alles, was auf ihr stattfindet, Zeichen, die auf
etwas verweisen. Und ich mag es sehr, mithilfe von Kostümen zu erzählen: Ich mag
es, wenn sie über pure Ästhetik hinausgehen und inhaltlich werden. Die Kostüme
helfen mittels Verortung, die Geschichte zu konkretisieren. Wir erzählen in einem
sehr groben, auch unsauberen Abriss die europäische Kolonialgeschichte, beginnend mit heutigen Europäern, die von den offenen Grenzen und dem kulturellen
Austausch der verschiedenen Länder profitieren, dann sowohl von den Seefahrern
und Eroberern des 15. und 16. Jahrhunderts als auch von den Imperialisten des 19.
und frühen 20. Jahrhunderts. Das Ganze ist bewusst unscharf und überspitzt gezeichnet, da es meist Rückblicke und Träume aus Medeas Perspektive sind: Es geht
uns dabei also nicht um eine realistische Nachzeichnung, sondern um eine subjektive Skizze. So verbindet sich die Geschichte Medeas mit der Geschichte Europas.
Meine Kostümbildnerin und ich haben beide eine große Liebe für traditionelle oder
kultische Gewänder, für Kleidung, die eine Mode überlebt hat und zum Kulturgut
gehört – wie Trachten. Das sind ja sogenannte Readymades und die finde ich im Gegensatz zu stückspezifischen Modekollektionen sehr reizvoll. Wir haben eine riesige
Sammlung zusammengetragen und mussten, das war und ist eigentlich immer die
größte Schwierigkeit, aussortieren.
Medea ist geflohen und kommt nach Jahren auf See in Griechenland, also in
Europa, an und bittet um Asyl. Sie ist geschwächt und auf Hilfe angewiesen. Hier
beschließt sie, die alte Medea auszulöschen, ihre Zauberkräfte, das Erbe ihrer
Mutter und ihren Glauben zugunsten einer perfekten Integration aufzugeben. Sie
möchte sein wie die anderen im neuen Land und das Unmögliche probieren: ihre
Identität zu verbergen.
Das allerdings gelingt ihr nicht. Wie sollte das auch gehen, plötzlich ein anderer Mensch zu sein? In Krisensituationen kehrt sie in Form von traumatischen
Rückblicken immer wieder in die Vergangenheit zurück. Das funktioniert ähnlich
wie in unseren alltäglichen Tagträumen. In einer Situation, in der man sich
hilflos und an den Rand gedrängt fühlt, flieht man in Gedanken zu vergangenen Ereignissen, korrigiert das Geschehene und kehrt gestärkt wieder
in die Gegenwart zurück. Medea fühlt sich während des „Asylverfahrens“
im Lande Kreons so sehr an den Rand gedrängt, dass sie sich in ihre Heimat und an die Anfänge ihrer Liebe mit Jason zurückdenkt, um sich zu
vergewissern, wie alles einmal begonnen hatte.
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Im Zehn-Minutentakt wird nach Angaben der UNO ein
„staatenloses Kind“ geboren. Jährlich kommen weltweit mindestens 70 000 Kinder ohne Staatszugehörigkeit auf die Welt
(taz, 4.11.2015). Für die Betroffenen bedeutet dies eine Kindheit voller „Diskriminierung, Frustration und Verzweiflung“
(UN-Hochkommissar für Flüchtlinge Antonio Guterres). Darüber hinaus sterben tagtäglich unzählige Kinder auf der Flucht,
zum Beispiel über das Mittelmeer. Medea tötet, bei Grillparzer
von Kreons Gier nach dem goldenen Vlies in ihrer Zauberkraft
herausgefordert, ihre Nebenbuhlerin Kreusa und steckt den
Palast in Brand. Zuvor hat sie ihre beiden Söhne umgebracht.
Was bedeutet Medeas Mord ihrer Kinder für Dich?
Oliver Nägele, Simon Werdelis, Nora Buzalka, René Dumont,
Lukas Turtur, Johannes Zirner, Meike Droste, Katrin Röver,
Bijan Zamani
Nora Buzalka, René Dumont, Lukas Turtur,
Oliver Nägele
Letztlich bleibt der Kindesmord ein großes Mysterium, das man nicht
erklären und nicht fassen kann. Allein der Vorstellung, seine Kinder einsam
in einem fremden Land zu wissen, möchte man sich nicht hingeben. Andererseits sterben täglich unzählige Menschenkinder an Hunger und infolge
politischer Krisen, aber eine Mutter, die ihre zwei Kinder tötet, wird zum
Sinnbild der Grausamkeit und eine der berühmtesten Frauenfiguren der
Theatergeschichte.
Nach Jahren auf See kommen vier leidgeprüfte, entkräftete Menschen
in Korinth an Land, Jason und die Kindern haben die Chance zu bleiben.
Medea aber soll die Stadt verlassen. Solange das Vlies unter der Erde ist,
wohin Medea es zur Sicherheit gebracht hat, fällt ihr der Gedanke, ihre
Kinder in der fremden Kultur zurückzulassen, zwar schwer, aber sie kämpft
mit Worten, ihrer Verantwortung als Mutter gerecht werden zu können.
Erst als Kreon ihr befiehlt, ihm das Vlies zu übergeben, und sie es hervorholt, kommen ihr die bereits abgelegten Mittel und Kräfte wieder vor Augen. Der Fluch des Vlieses („Was er am liebsten liebt – verderb ihn! – Und
dieses Vlies soll niederschaun auf seiner Kinder Tod!“) beginnt zu wirken.
Der Kindsmord zeigt aber auch, dass ein vermeintliches Opfer, eine
Randfigur einer Gesellschaft, zum Täter und auf grausame Weise zum Mitgestalter seines Schicksals werden kann. Nicht in allen Kulturkreisen steht
der Tod für das Ende der Existenz und ist negativ belegt. Seine Kinder zurückzulassen, einen Teil von sich, in einer Welt, in der ihnen eine unsichere Zukunft bevorsteht, ein Leben als Außenseiter, ist für eine Mutter eine
schwierige Aussicht. Jason lässt Medea fallen, und es gibt keine Zeichen
dafür, dass er ein starker Vater ist. Das alles steht im Zusammenhang mit
dem Mord. Spannend ist, das sieht man in unserer Textmontage sehr gut,
wie das Schicksal Aietes und das Schicksal Medeas und Jasons sich ähneln.
Alle verlieren ihre Kinder, das, was ihnen am liebsten ist, verlässt sie, und
alles im Zeichen und als Preis des goldenen Vlieses.
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Ensemble
So stand er da an der ihm fremden Küste;
Die Männer stürzten nieder seinem Blick,
Und mit demselben Blick warf er den Brand
In der Unsel‘gen Busen, die ihn floh,
Bis, lang verhehlt, die Flamme stieg empor
Und Ruh und Glück und Frieden prasselnd sanken,
Von Rauchesqualm und Feuersglut umhüllt.
So stand er da, in Kraft und Schönheit prangend,
Ein Held, ein Gott, und lockte, lockte, lockte,
Bis es verlockt, sein Opfer, und vernichtet,
Dann warf er's hin und niemand hob es auf.
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KOLONIALISIERUNG
Fünf Jahre nachdem der Portugiese Bartolomeu
Diaz die Südspitze Afrikas umsegelt und ein Jahr nachdem Christoph Kolumbus unter spanischer Flagge
Amerika erreicht hatte, teilte Papst Alexander VI. in
der Bulle „Inter ceterae“ 1493 die Welt zwischen den
iberischen Mächten auf. Ein Jahr später einigten sich
die beiden zukünftigen Kolonialmächte im Vertrag von
Tordesillas auf eine Linie quer durch den Atlantik. So
fiel der Osten Südamerikas an Portugal und der Westen
an Spanien. Nach der ersten Weltumsegelung von Ferdinand Magellan und Sebastién del Cano einigten sich
Spanien und Portugal 1529 auf eine weitere Demarkationslinie, diesmal quer durch den Pazifik. Beide Willkürakte spiegeln sich noch heute in den Amtssprachen
vieler Länder wider. Es dauerte nicht lange, da rückten
Engländer, Franzosen und vor allem Holländer nach und
machten den Konquistadoren die begehrten Gewürze
und andere Handelsgüter streitig. Dorothee d´Aprile
*
Die „europäische Expansion“, die sich seit dem
15. Jahrhundert vollzog, rührte nicht von einem inhärenten „expansionistischen Instinkt“ der europäischen
Völker, sie ergab sich vielmehr aus dem historischen
Zusammentreffen ganz bestimmter Umstände: Der im
mächtigen Chinesischen Reich und in Südostasien erzeugte Reichtum war für die Kaufleute im fernen Europa ein unwiderstehlicher Anreiz; aber dazwischen lag
das Osmanische Reich, das größer, stärker und politisch stabiler war als die fragmentierten Staatsgebilde
im damaligen Westeuropa. Deshalb wollten die Könige
von Spanien und Portugal – und später auch die Niederlande und Großbritannien – neue Seewege erkunden,
um das Osmanische Reich, aber auch ihre Abhängigkeit
von einheimischen Magnaten zu umgehen.
Jane Burbank, Frederick Cooper
auf mehr als 80 Prozent der bekannten Coltanvorkommen, 57 Prozent des Kobalts, 39 Prozent des Mangans,
31 Prozent der Phosphate und 9 Prozent der weltweiten
Bauxitreserven. Dennoch liegen von den 48 laut UN am
wenigsten entwickelten Ländern der Welt 32 in Afrika.
Und die meisten von ihnen sind reich an Bodenschätzen.
Afrikas Anteil an den globalen Exporten hat im
Lauf der letzten Jahrzehnte nicht etwa Fahrt aufgenommen, sondern ist dramatisch gesunken, von 7,3 Prozent
im Jahr 1948 auf 2 Prozent im Jahr 2009. Dass sich die
Lebenswirklichkeit der meisten Menschen in Afrika im
Lauf der letzten fünfzig Jahre kaum verbessern konnte, liegt nicht zuletzt an der neoliberalen Ideologie. Sie
propagiert einen marktkonformen Extraktivismus, der
auf der Ausbeutung der natürlichen und menschlichen
Ressourcen Afrikas beruht. Gleichzeitig wird das Thema
Entwicklung in Zielvorgaben, Mythen und Erwartungen
verpackt, die diese Wirklichkeit verschleiern.
Hakima Abbas
Das Kommando schämt sich niemals seiner
Phantasmen und versucht sie kaum zu verbergen. Deshalb hat Kolonisieren etwas Dionysisches – ein großer narzisstischer Erguss. Die Mischung aus Lust; Besessenheit und Grausamkeit, Trunkenheit und Traum,
die zu den strukturellen Dimensionen des kolonialen
Unternehmens gehört, lässt sich nur über jene Form
des Entzückens begreifen, die zugleich stürmische Erregung ist – zeigt doch die koloniale Welt die meisten
Merkmale, die Nietzsche an der griechischen Tragödie
zu entdecken glaubt: „jene Erscheinung, dass Schmerzen Lust erwecken, dass der Jubel der Brust qualvolle
Töne entreißt. Aus der höchsten Freude tönt der Schrei
des Entsetzens oder der sehnende Klagelaut über einen
unersetzlichen Verlust.
Achille Mbembe
EUROPA
AFRIKA
Nach Angaben der Afrikanischen Union lagern in
Afrika 38 Prozent der weltweiten Uranvorkommen, 42
Prozent des Goldes, 73 Prozent des Platins und 88 Prozent
der Diamanten. Andere Quellen verweisen darüber hinaus
Ein Europa, wie ich es mir wünsche, kann es erst
geben, wenn das real existierende „Europa“ kollabiert ist. Dann wäre das wahre Europa in Athen, nicht
in Brüssel, wo – was die Mehrheit der Europäer nicht
zu wissen scheint – jede Entscheidung von Kommissi-
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onen getroffen wird, die zur Hälfte aus Vertretern der
Großindustrie des betreffenden Wirtschaftszweigs bestehen. Zunächst gilt es, der Lüge entgegenzutreten,
dieser Vertrag zwischen Staaten, den man als Verfassung ausgibt, sei das einzig denkbare Europa, diese ideen- und zukunftslose institutionalisierte Lobby, die sich
der düstersten aller Religionen, der Religion des Geldes, blind verschrieben hat, sei die rechtmäßige Erbin
des europäischen Geistes. Wir leben in keinem posthistorischen Zeitalter, in dem sich nichts mehr ereignen kann oder soll. Vielmehr leben wir in einer Zeit, in
der alles geschehen kann, in der nichts Geringeres auf
dem Spiel steht als die Rekapitulation aller historischen
Möglichkeiten des Abendlandes. Die Menschheit sieht
nicht nur einer lähmenden Zukunft entgegen, die ihr
nichts mehr zu bieten hat, sondern kann auch auf die
Totalität ihrer Vergangenheit zurückblicken, was ihr die
Möglichkeit eröffnet, von allem je Gewesenen neuen
Gebrauch zu machen oder erstmals das zu leben, was in
ihr ungelebt blieb. Angesichts des Interesses der herrschenden Mächte, die Vergangenheit in Museen auszulagern und ihr geistiges Erbe zu entsorgen, ist jeder
Versuch, in eine lebendige Beziehung zur Vergangenheit
zu treten, ein revolutionärer Akt. Aus diesem Grund
glaube ich mit Michel Foucault, dass die Archäologie –
anders als die Zukunftsforschung, die per definitionem
im Dienst der Macht steht – vor allem eine politische
Praxis ist. Die Zukunft Europas ist seine Vergangenheit.
Die Gegenwart bekommen wir nie zu fassen, sie wird
sich uns immer entziehen. Deshalb ist Zeitgenossenschaft das Schwerste, denn wahrhaft zeitgenössisch ist
– wie schon Nietzsche wusste – nur das Unzeitgemäße.
Sie kennen sicherlich Walter Benjamins These, dass die
Gegenwart nicht als isolierter Punkt im zeitlichen Kontinuum gegeben ist, sondern in einer Konstellation mit einem Moment der Vergangenheit.
Daraus folgt, dass die Beziehung zur Vergangenheit nicht nur ein individuell-psychologisches Problem
darstellt, sondern auch ein kollektiv-politisches. Jede
Entscheidung über die Gegenwart, ob im individuellen
oder kollektiven Leben, setzt die Beziehung zu einem
konkreten Augenblick der Vergangenheit voraus, mit
dem sie ins Reine kommen muss. Giorgio Agamben
Simon Werdelis, Johannes Zirner, Gerhard Peilstein, Nora Buzalka, Bijan Zamani
RESIDENZTHEATER SPIELZEIT 2015 / 2016
TEXTNACHWEISE Auszüge aus: Carolin Emcke: Weil es sagbar ist. Über Zeugenschaft und Gerechtigkeit. Frankfurt am Main 2013. – Franz Grillparzer: Das Goldene Vlies. In: Grillparzers Werke in drei
Bänden. Bd. 2, Berlin/Weimar 1990. – Achille Mbembe: Kritik der schwarzen Vernunft. Berlin 2015. – Iris Radisch: „Europa muss kollabieren“. Ein Gespräch mit Giorgio Agamben. DIE ZEIT 35/2015. – Ernst
Schmiederer: „Fantasierte Bedrohungen“. Ein Gespräch mit Ruth Wodak. DIE ZEIT 39/2015. – Auf den Ruinen der Imperien. Geschichte und Gegenwart des Kolonialismus. Edition Le Monde diplomatique
18/2016. (Dorothee d´Aprile: Der Kolonialismus ist nicht vorbei. / Jane Burbank, Frederick Cooper: Was ist ein Imperium? / Hakima Abbas: Entwicklungshilfe gegen Afrika.) – Das Interview von Andrea
Koschwitz mit Anne Lenk ist ein Originalbeitrag für dieses Programmheft. REDAKTION Andrea Koschwitz MITARBEIT Rose Reiter FOTOS Thomas Aurin GESTALTUNG Herburg Weiland
DRUCKEREI G. Peschke Druckerei GmbH HERAUSGEBER Bayerisches Staatsschauspiel, Max-Joseph-Platz 1, 80539 München
INTENDANT Martin Kušej GESCHÄFTSFÜHRENDER DIREKTOR Holger von Berg CHEFDRAMATURG Sebastian Huber TECHNISCHER DIREKTOR Thomas Bautenbacher
KOSTÜMDIREKTORIN Elisabeth Rauner KÜNSTLERISCHER DIREKTOR Roland Spohr CHEFDISPONENTIN Regina Maier PRESSE- U. ÖFFENTLICHKEITSARBEIT Sabine Rüter
TECHNIK Matthias Neubauer + Gerrit Jurda WERKSTÄTTEN Michael Brousek AUSSTATTUNG Bärbel Kober + Maximilian Lindner BELEUCHTUNG / VIDEO Tobias Löffler
TON Michael Gottfried REQUISITE Dirk Meisterjahn PRODUKTIONSLEITUNG KOSTÜM Enke Burghardt DAMENSCHNEIDEREI Gabriele Behne + Petra Noack
HERRENSCHNEIDEREI Carsten Zeitler + Aaron Schilling MASKE Andreas Mouth GARDEROBE Cornelia Faltenbacher SCHREINEREI Stefan Baumgartner
SCHLOSSEREI Ferdinand Kout MALERSAAL Katja Markel TAPEZIERWERKSTATT Peter Sowada HYDRAULIK Karl Daiberl
GALERIE Christian Unger TRANSPORT Harald Pfähler BÜHNENREINIGUNG Adriana Elia
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Lass uns erwarten, was da kommt, nicht rufen.
So wär denn immer da, was einmal dagewesen,
Und alles Gegenwart? – Der Augenblick,
Wenn er die Wiege einer Zukunft ist,
Warum nicht auch das Grab einer Vergangenheit?
Geschehen ist, was nie geschehen sollte,
Und ich bewein´s, und bittrer, als du denkst,
Doch soll ich drum, ich selbst, mich selbst vernichten?