Miyazaki Hayakos Trickfilm "Chihiro no kamikakushi" - Goethe-Univ... http://www.japanologie.uni-frankfurt.de/jap_forschung/geb_zarte_uns... Zarte Unschuld rettet Japan: Miyazaki Hayaos erfolgreichster Trickfilm – Sen to Chihiro no kamikakushi Lisette Gebhardt, Februar 2002 Nach dem großen Erfolg von "Prinzessin Mononoke" präsentierten Miyazaki Hayao und das Studio Ghibli dem japanischen Publikum im Juli 2001 den Trickfilm Sen to Chihiro no kamikakushi (engl. Spirited Away). Etwa 21 Millionen Zuschauer haben schon die Kinos besucht, um "Chihiros Entführung ins Geisterreich" (ein möglicher deutscher Titel) zu sehen. Die Einnahmen überstiegen bereits 227 Millionen Dollar. Damit erzielt Miyazakis anime 10 Millionen mehr als die "Titanic", doppelt soviel wie "Harry Potter". Miyazaki (61) möchte seine Karriere in der Filmproduktion bald beenden und kann sich, wenn dies der Wahrheit entspricht, über die Reaktion des Publikums auf sein letztes Werk freuen. Auf der Berlinale wurde dem Trickfilm ein Goldener Bär verliehen, eine Entscheidung, die nicht überall auf Zustimmung stieß, dem Film aber einen guten Start in Europa verspricht. Ein Abgesang auf die Bubble-Mentalität Das seltsame und schreckliche Abenteuer der zehnjährigen Chihiro beginnt damit, daß die Eltern, die gerade den Umzug der Familie in eine Vorstadt organisieren, auf dem Weg zu ihrem neuen Heim von der richtigen Straße abkommen und auf den Eingang zu einem verlassenen Gebäude treffen. Die Bauten inmitten von grüner Natur scheinen zu einem der in der Bubble-Ära (baburu jidai) beliebten Themenparks zu gehören; der Park wurde, so kann man vermuten, aufgrund der Wirtschaftsflaute geschlossen. Chihiros Vater, der bullige Ogino Akio, beschließt sich dort umzusehen. Nur sehr zögernd folgt die unsichere Chihiro, die der Umzug sichtlich überfordert, ihren Eltern – sie schenken den Nöten der Tochter generell keine große Aufmerksamkeit. Man findet sich plötzlich in einer bunten aber leeren Stadt wieder. Eine Imbißbude mit dampfenden Speisen verführt den Vater zum Zugreifen, auch die Mutter bedient sich schließlich ohne Hemmungen. Chihiro muß erleben, wie sich die Eltern in Schweine verwandeln, denn die "andere Welt", in die die Familie gelangt sind, verbietet es Eindringlingen aus dem Menschenland, sich vom Essen der Geister und Götter zu ernähren. Chihiro läuft verängstigt fort und gelangt zum Badehaus der Geisterstadt, dem Aburaya, in dem man sie als Dienstmädchen einstellt, als sie nachdrücklich um Arbeit bittet. Das Mädchen muß nun seine Empfindlichkeit und Bequemlichkeit ganz überwinden und sich bewähren. Der Dienst an den verschiedenartigsten Geistern, die als Gäste im Badehaus betreut werden, ist nicht einfach. Langsam gewöhnt sich Chihiro ein und findet Freunde, so die ältere Kollegin Rin, den sechsarmigen Betreiber des riesigen Ofens im Keller, Kamajii, und seine kleinen pelzigen Helferchen, die Susuwatari, und nicht zuletzt Haku, den schönen Jüngling, der Chihiro wichtige Ratschläge gibt. Die eifrige Chihiro gewinnt auch die Symphatie mancher Geistergäste. Insbesondere der merkwürdige stumme Kaonashi, dessen Goldgeschenk sie nicht annimmt, scheint ihr zugetan. Die Besitzerin des Badehauses, die Yubaba, eine hakennasige Hexe offensichtlich westlicher Herkunft, ist weniger freundlich; sie verfolgt geheime Absichten, die nicht leicht zu durchschauen sind. Haku, der Yubabas Adjutant ist und Zugang zu ihren Räumen im Oberstock des Gebäudes hat, will Chihiro helfen, ihre Eltern zu erlösen. Durch Chihiros mutigen und selbstlosen Einsatz gelingt es ihr tatsächlich, den Fluch zu brechen und in die japanische Gegenwart zurückzukehren. Sie ist gereift und hat gelernt, daß sie auf ihre Fähigkeiten vertrauen kann. Von den Kawazuotoko bis zum Kaonashi Den großen Reiz des Films machen sicher – wie schon bei Mononokehime – die phantasievoll entworfenen Figuren der "anderen Welt" aus. Einige sind von im Brauchtum bekannten japanischen Geistern inspiriert, so die Gruppe der Onamasama; sie sind den Namahage im nördlichen Japan verwandt. Die flinken, froschähnlichen Gestalten, unter ihnen die Kawazuotoko, die die Speisen auftragen, und der Aogaeru, erinnern an die Tierportraits der Bildrolle Chôjûgiga. Spielerisch werden japanische Elemente auch im Entwurf des Oshirasama, eines rotbeschürzten Rettichgotts, umgesetzt. Eine Gruppe weist maskenartige Gesichter auf, die, so besagt es auch ein Hinweis auf der Miyazaki Hayao Homepage, den dort in der rituellen Praxis getragenen Masken eines bestimmten Shintô-Schreins nachempfunden sind. Der Stein mit dem Gesicht, der offenbar zu Beginn der Geschichte die Eltern in die Geisterwelt lockt, sieht wie der berühmte Biliken aus, ein Warenzeichen der japanischen zwanziger Jahre. Dagegen zeigt sich der bebrillte, effiziente und altersweise Ofenmanager Kamajii als ein Mischwesen aus Mensch und Insekt. Höchst merkwürdig sind die drei khakigrünen hüpfenden und dabei dumpfe Töne erzeugenden Köpfe, die in Yubabas Zimmer spuken. Furchterregend robbt der riesige, schleimige und übel riechende Badegast, der den Gott eines verschmutzten Gewässers darstellt (Miyazaki erhebt zuweilen den ökologischen Zeigefinger), durch die 1 von 3 04.11.2015 00:08 Miyazaki Hayakos Trickfilm "Chihiro no kamikakushi" - Goethe-Univ... http://www.japanologie.uni-frankfurt.de/jap_forschung/geb_zarte_uns... Eingangshalle bis zum Badezuber. Um wen oder was es sich bei dem Kaonashi mit seinem schwarz umhüllten Körper und seinem weißen, ausdruckslosen Antlitz handelt, der am Ende die verschluckt (wobei sein zunächst eher unauffälliger Bauch bis zum Platzen schwillt), die gierig bei seinem Goldangebot zugreifen, erfährt man bis zum Schluß des Films nicht. Geheimnisvoll und wunderbar bleibt auch der silbrige Drache, der das große Badehaus umfliegt – seine wahre Identität, die er selbst erst am Ende der Geschichte mit Hilfe Chihiros erfährt, ist die eines Flusses; der Drache nimmt aber meist die Gestalt des jungen Haku an, für den Chihiro tiefe Gefühle entwickelt. Japonesque und Märchen Miyazakis Kulisse der "anderen Welt" in "Chihiros Entführung ins Geisterreich" zeigt eine üppige west-östliche Ausstattung. Die Stadt wirkt wie die exotistische Vision einer asiatischen Ansiedlung in der fernöstlichen Moderne – mit Lampions und Leuchtreklame. Die Gästeräume des Badehauses sind im Stil des japanischen Retrotrends, des sogenannten Japonesque (auch: Edo-Japonesque, siehe Kiridôshi 2001: 320), konzipiert; Miyazaki beabsichtigt mit dieser Mischung aus traditionellem Interieur und nostalgischen Bezügen auf die japanischen Modernisierungsphasen eine historisierende anheimelnde Stimmung zu schaffen. Meiji-, Taishô-, und Shôwa-Zeit finden sich in der Komposition und der Einrichtung der Häuser und des verschachtelten Aburaya zitiert. Yubabas großzügiges Reich mit Bibliothek und Ölgemälden ist vorwiegend europäisch-viktorianisch eingerichtet. Ihre Räume im Oberstock wirken wie die eines Märchenschlosses, wie sie selbst eine böse, westliche Hexe verkörpert, deren Zuneigung einzig und allein einem monströsen Riesenbaby mit Namen Bô gilt. Die Gestaltung des Hauses steht verschiedenen allegorischen Deutungen offen. Zunächst stellt Yubabas Etablissement – wie die gesamte Geisterstadt – die Ruine des Wirtschaftswunderlandes Japan dar, gesehen als ein in der wirtschaftlichen Flaute der späten Neunziger aufgegebener Themenpark, der nur noch von Schattenwesen besiedelt ist. Die Bewohner und Besucher dieses Bereichs inszenieren eine Parallelwelt zum modernen Japan und seiner Gesellschaft, die durch Arbeit und Konsum geprägt ist. Wie die erschöpften Angestellten der aufstrebenden Nation gönnen sich die Geister nur einige wenige Tage der Erholung an einem luxuriösen Badekurort: "Nagai aida no nengan no nihaku mikka no honeyasume" (englische Version: "For so long they’ve wanted a three-day trip to give themselves a rest", Bessatsu Comic Box, S. 19). Erholung bedeutet wie im realen Japan ein teurer Aufenthalt im Luxushotel, ein heißes Bad und die aufmerksame Pflege durch die Bediensteten sowie eine Unmenge an aufwendig zubereitetem Essen. Auch die Geister sind hier wohl Opfer der Moderne, der Kommerzialisierung und der fabrikartigen Abfertigung geworden – ein ideales Jenseits, in dem sie ausruhen könnten, scheint verschwunden. Den Wunsch nach immer mehr und die Gier der Geistergäste, bzw. der arbeitenden Bevölkerung des gegenwärtigen Japan verkörpert der Kaonashi, dessen Erkennungslied das folgende ist: "Hoshii, hoshii, boku motto hoshii, kore mo ii jan, kore hoshii, ageru, ageru, kore mînna ageru, kimi mo hoshii darô, ageru kara, kimi, boku ni kurenai ka na" (in der englischen Übersetzung: "More, more, I always want more, that thing seems cool, I want that too, I’ll give you, give you all of them, you probably want them too, I’ll give them to you, but tell me, won’t you give me some too?" S. 40). Selbstverständlich lernen wir daraus: Wen die Gier übermannt, der wird zum Schluß von ihr gefressen. Nur ein Mädchen mit reinem Herzen, das wie Chihiro noch andere Ideale als das Erlangen von schnödem Mammon und billigem Eßvergnügen besitzt, kann das verführerische Angebot des Kaonashi ausschlagen. Ganbarismus im Land der Geister: Macht ein Mädchen Japan Mut? Mit Chihiros Initiation ins Schattenreich, wird, wie so häufig in japanischen künstlerischen Produktionen der letzten Jahre ein nationalpädagogisches Konzept bereitgestellt. Die falsche Wertorientierung der Elterngeneration, ihre oberflächliche, unsensible Haltung und ihre Fehler bei der Erziehung, die aus Chihiro ein unselbstständiges, verwöhntes Kind gemacht haben, werden angeprangert. Bei Miyazaki heißt es: "In the midst of their everyday lives, when they are encircled, protected, alienated, and can only have vague feelings about living, children can only aggrandize their delicate egos. Chihiro is symbolic of this, with her skinny limbs and sullen expression which seems to be saying that ‘I’m not easily interested’." Doch die Geisterwelt ist und bleibt eben die beste Lehr- und Erziehungsanstalt. Hier muß man noch Verantwortung für das Gesagte tragen, das sich sofort realisiert, man hat vollen Einsatz zu bringen und kann seinen Charakter bilden durch harte Arbeit und durch geglückte zwischenmenschliche Interaktion, die von verschlossener Selbstbezogenheit befreit und einen lehrt, daß dem Guten stets Hilfe zuteil wird. Mit viel Opfergeist und uneigennützigem Engagement rettet Chihiro die in Schweine verwandelten Eltern – eine Wiederentdeckung konfuzianischer Kindestreue? Chihiro darf aber auch eine bittersüße erste Liebeserfahrung machen. Für den kühnen, manchmal unnahbaren (ein Muster der shôjomanga) Drachensohn Haku, der eigentlich ein Naturgeist ist, unternimmt sie die Reise zu Yubabas Zwillingsschwester, einer guten Zauberin, und löst das Rätsel um Hakus Herkunft. Die Botschaft des Films geht letztlich in die Richtung eines neuen "ganbarism" der jungen Generation Japans: Sie hat – hier in der Gestalt einer reinen Jungfrau – Japan zu retten. Die Leistungsethik und die schwere Bürde, die den Kindern damit auferlegt wird, unterscheidet sich nur graduell von der Forderung des Bienenfleißes, den man den Eltern abverlangte. Ein weiteres Mal will der Regisseur auch die japanischen Geister wiederentdecken, die seit den achtziger Jahren eine Renaissance in Japan erfahren. Miyazaki, der die Heilkraft traditioneller Vorstellungswelten für die japanische 2 von 3 04.11.2015 00:08 Miyazaki Hayakos Trickfilm "Chihiro no kamikakushi" - Goethe-Univ... http://www.japanologie.uni-frankfurt.de/jap_forschung/geb_zarte_uns... Gegenwart beschwört, konstatiert: "The richness and uniqueness of the Japanese folklore – from folktales, folklore, ceremonies, ideas, and religious rites to magic –are simply not well known. It is certain that Mount Kakachi and Momotaro (two famous Japanese folktales) have lost their persuasive power. However, one has to say that trying to stuff all traditional things into the cozy world of folktales is not a very rich way of thinking. Todays children are surrounded by high technology, and in the midst of flimsy manufactured goods, they are losing their roots. We must tell them of the richness of the traditions we have (S. 8)." Miyazaki bezieht sich auf das in der zeitgenössischen japanischen volkskundlichen Forschung (etwa Komatsu Kazuhiko) oft diskutierte Konzept des kamikakushi, der Entrückung oder Entführung eines Menschen in das Reich der Götter und Geister, um Chihiro mit der Doppelseitigkeit der Welt zu konfrontieren: Diese besteht nicht nur aus der Alltagsrealität, sondern nennt ebenso ein Schattenreich ihr eigen; sie weist die beiden Elemente "Gut" und "Böse" auf. In der Begegnung mit dem ihr eigenen polaren dynamischen Prinzip, so Miyazakis These, werden die eigenen Kräfte geweckt. Der Regisseur argumentiert wiederum für eine neue Vitalität und einen neuen Vitalismus (Stichwort seimeishugi), der die japanische Gegenwart aus ihrer Paralyse lösen soll. Ghibli gegen Disney? Die Besucherzahlen und die Einspielgewinne des Trickfilms belegen, daß Miyazakis Produktionsfirma, Studio Ghibli, Hollywood und die Disney-Animation um Längen geschlagen hat. Der Journalist Harald Fricke meint, mit den zunehmenden Erfolgen von Miyazaki "wäre es mit der Dominanz Disneys vorbei". In der taz vom Februar schreibt er: "Es ist dieses traumhafte Schillern zwischen surrealen Farbsettings und detaillierter japanischer Gegenwartsbeschreibung, das den diesjährigen Berlinale-Gewinner zeitgemäßer macht als alle Disney-Märchen". Ob Miyazakis Werk als Dokument eines Widerstreits der Kulturen verstanden werden kann, ist zumindest eingedenk der Allianz beider Trickfilm-Imperien in Bezug auf die Vermarktungsrechte einiger Ghibli-Produktionen im westlichen Raum, die im sogenannten Disney-Tokuma-Deal von 1996 geschmiedet wurde, fragwürdig. Freilich braucht Miyazaki keine Befürchtungen zu hegen, wenn Disney – nun als "Monster AG" – seine Monster ins Rennen schickt: Die japanischen Geister sind gewiß phantasievoller. Für schöne Monster und Geister nimmt der Zuschauer in Japan wie in Amerika die moralische Unterweisung gern in Kauf, und das ist Ghibli ebenso klar wie Disney. Literatur: Bessatsu Comic Box, Vol.6 (2001): Sen to Chihiro no kamikakushi. Chihiro no bôken. Tôkyô: Fusion Product. Fricke, Harald (2002): Titanic noch mal versenken. In: taz, Nr. 6679 (18.2.). Gebhardt, Lisette (1996): "Ikai: Der Diskurs zur ‘Anderen Welt’ als Manifestation der japanischen SelbstfindungsDebatte". In: Hijiya-Kirschnereit, Irmela (Hg.): Überwindung der Moderne? - Japan am Ende des 20. Jahrhunderts. F.a.M: Suhrkamp Verlag, S. 146-171. (2000): "Murakami Harukis ‘Gefährliche Geliebte’ – Streitobjekt des ‘Literarischen Quartetts’ und Produkt der japanischen Sehnsuchtsindustrie". In: HOL, Nr. 29, S. 132-136. (2001): Japans Neue Spiritualität. Wiesbaden: Harrassowitz. Kiridôshi Risaku (2001): Miyazaki Hayao no ‘sekai’. Tôkyô: Chikuma shobô (Chikuma shinsho 308). Prohl, Inken (2000): Die "spirituellen Intellektuellen" und das New Age in Japan. Hamburg MOAG. (Autorin und ©: Lisette Gebhardt) geändert am 03. März 2011 E-Mail: [email protected] © 2004 Goethe-Universität Frankfurt am Main Druckversion: 03. März 2011, 13:38 http://www.uni-frankfurt.de/fb/fb09/ophil/japanologie/jap_forschung/geb_zarte_unschuld.html 3 von 3 04.11.2015 00:08
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