1.3.3. Ökologische und ökonomische Gründe:

1.3.3. Ökologische und ökonomische Gründe:
Sicherung von Nahrung und Rohstoffen als Existenzgrundlage
Die Ernährungssicherung und die Verfügbarkeit verschiedenster nutzbarer Rohstoffe sind Grundanliegen der menschlichen Gesellschaft. Pflanzen und Tiere liefern Nahrung und Rohstoffe und sind damit
die Basis unseres Lebens. Auch wenn nicht alle Arten in gleicher Weise Nutzen bringen, stellen sie
doch ein erhebliches Potential an möglicherweise noch nicht entdeckten Anwendungsmöglichkeiten
dar.
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In der modernen Landwirtschaft sind lediglich 20 Kulturpflanzenarten und 9 Arten von Haustieren wirtschaftlich von Bedeutung. Wir wissen nicht, welche der über 70 000 Pflanzen- und
Tierarten Europas in Zukunft für unsere Ernährungssicherung wichtig sein können. Es sollte
uns in diesem Zusammenhang jedoch nachdenklich stimmen, dass z.B. der Roggen, heute
eines unserer wichtigsten Brotgetreide, in frühgeschichtlicher Zeit offensichtlich als "Unkraut"
ausgelesen wurde, während die Ruderaalpflanze Weißer Gänsefuß einst eine Nutzpflanze
war: Bis ins 19. Jahrhundert wurden die Samen dieser Pflanze in Notzeiten zu sogenanntem
Hungerbrot gebacken.
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Für die Neuzüchtung von widerstandsfähigen und auch ertragreichen Nutzpflanzen und Tieren wird die Einkreuzung von Wildarten in domestizierte Kulturarten immer wichtiger. Gehen
Wildarten verloren, können auch ihre positiven Eigenschaften bei Neuzüchtungen nicht mehr
genutzt werden. Beta vulgaris, die Wildform der Runkel- und Zuckerrübe und der Roten Beete, ist z.B. nur noch an wenigen Standorten im Bereich der deutschen Küste zu finden und
steht bereits auf der Roten Liste der gefährdeten Pflanzenarten der Bundesrepublik Deutschland.
Welche Bedeutung der Vielfalt der genetischen Ressourcen zukommt, lässt sich am Beispiel einer der
Haupternährungspflanzen, dem Reis, verdeutlichen. In den siebziger Jahren wurden die Reisfelder
von Indien bis Indonesien von einem Virus befallen und in ihrem Bestand bedroht. Vier Jahre lang
wurden 17.000 wilde und kultivierte Reissorten auf Resistenz gegen den Erreger getestet. Schließlich
fand man in Uttar Pradesch in Indien eine wildwachsende, resistente Reissorte. Dieser Wildreis wurde
in Reishybriden eingekreuzt, die heute auf über 110.000 km2 asiatischer Reisfelder angebaut werden.
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Die Natur lässt unersetzbare Rohstoffe nachwachsen, die z.B. für die Holz-, Papier- und Textilindustrie unverzichtbar sind. Man halte sich nur einmal vor Augen, welch unermesslicher
wirtschaftlicher Schaden aus dem Phänomen des Waldsterbens bereits entstanden ist oder
noch entstehen kann.
Die Nutzbarkeit verschiedenster, von der Natur zur Verfügung gestellter Nahrungsmittel und Rohstoffe
zu erhalten, ist nicht nur ein Anliegen des Naturschutzes, sondern auch ein Gebot wirtschaftlicher
Vernunft. Betrachtet man aber "Wirtschaftsweisen" wie den Walfang, die Hochseefischerei oder den
Raubbau an den tropischen Wäldern und exotischen Tierarten, so muss man feststellen, dass man
nicht unbedingt auf die wirtschaftliche Vernunft rechnen kann. Die vom Aussterben bedrohten Wale
z.B. liefern unter anderem Öle, die für Spitzentechnologien gebraucht werden, die bisher aber nicht
von synthetischen Substanzen ersetzt werden konnten. Bei der Suche nach anderen natürlichen Ersatzstoffen ergaben sich jedoch bereits positive Resultate mit einer bis dahin völlig unbeachteten subtropischen Pflanzenart. Um solche oder ähnliche Erfolge auch in Zukunft erzielen zu können, ist es
notwendig, das genetische Potential der Natur in möglichst vollständigem Umfang zu erhalten. Gegen
eine schonende, auf Nachhaltigkeit angelegte Nutzung von Arten ist erst dann nichts mehr einzuwenden, wenn ihre Existenz langfristig unter natürlichen Bedingungen gesichert ist.
Sicherung von Organismen für Wissenschaft und Forschung
Naturwissenschaftlich-technische Disziplinen sind in Forschung und Entwicklung auf vielfältige biologische Strukturen und Systeme angewiesen. Eine wesentliche Voraussetzung hierfür ist die Erhaltung
einer großen genetischen Vielfalt, d.h. die Erhaltung aller Arten und ihrer Erbanlagen. Dies gilt auch
für die medizinische Versorgung, einem Hauptanliegen der Menschheit.
Tier- und Pflanzenarten sind wichtige Quellen für Medikamente, Hormone und Impfstoffe wie z.B.
Penicillin, Cortison oder Herzmittel aus den Inhaltsstoffen des Fingerhuts.
So wurden in Drüsen des unscheinbaren Schwimmkäfers Illybius fenestratus beachtliche Mengen der
Hormone Testosteron, Östradiol und Östron gefunden. Der Gelbrandkäfer besitzt Drüsen, die das
Hormon Cortexon in Größenordnungen produzieren, für die sonst 1 300 Nebennieren von Rindern
gebraucht würden. Viele der pflanzlichen und tierischen Wirkstoffe können zudem nicht synthetisch
hergestellt werden. Bei ihrer Produktion ist man auf bestimmte Arten angewiesen.
Manche Krankheiten können nur in bestimmten Tierarten so gezüchtet werden, dass man Impfstoffe
dagegen entwickeln kann. Beispielsweise sind die Erreger der Lepra offenbar nur in Gürteltieren zu
halten. Nur durch diese Beobachtung erscheint es möglich, in Zukunft ein Impfserum gegen diese
Seuche herzustellen.
Bisher wurden erst 10 Prozent der Pflanzenarten auf ihre Verwendbarkeit in der Heilkunde überprüft.
Auch die Liste der Tierarten, die zur Erzeugung pharmazeutischer Produkte herangezogen werden
können, wird heute noch ständig erweitert. Mit der zunehmenden Zerstörung der tropischen Regenwälder und deren noch unzureichend erforschten biologischen Ressourcen werden auch Wirtschaftsunternehmen (v.a. die Pharmaindustrie) auf den Wert der biologischen Vielfalt aufmerksam. Der
Pharmakonzern Merck & Co. z.B. vereinbarte 1991 mit dem Staatlichen Institut für biologische Artenvielfalt in Costa Rica, eine Million Dollar für Naturschutzprogramme zu bezahlen, wenn die Firma Zugang zu den Pflanzen, Mikroorganismen und Insekten des Landes erhielte.
Naturschutz heißt, Chancen für die Zukunft offen lassen. Für die Entwicklung neuer Wirkstoffe ist die
Erhaltung aller Arten unabdingbar, denn das Potential des möglichen Nutzens von Organismen ist
nach wie vor ungeheuer groß. Ist ein Organismus jedoch ausgestorben, ist seine genetische Ressource unwiederbringlich verloren. Auch wenn dieses rein ökonomische Argument nicht zu den Leitmotiven des Naturschutzes zählt und damit nicht der uneingeschränkten Durchführung von Tierversuchen
das Wort geredet werden soll, darf es in unserer heutigen, von wirtschaftlichem Denken geprägten
Gesellschaft nicht unerwähnt bleiben.
Sicherung von Bioindikatoren
Viele Pflanzen- und Tierarten reagieren sehr empfindlich auf Umwelteinflüsse. Sie können sowohl
bestehende Standortfaktoren als auch deren Veränderung anzeigen und sind deshalb lebende Zeiger,
Bioindikatoren, für Umweltbelastungen.
Viele Flechten bevorzugen Wuchsorte in sogenannten Reinluftgebieten, andere breiten sich verstärkt
in Belastungsgebieten aus. Aus dem Auftreten bzw. Verschwinden bestimmter Arten, ihrem Entwicklungszustand, ihrer Häufigkeit sowie der absoluten Artenzahl lassen sich Rückschlüsse auf die lufthygienische Situation ziehen. Besonders über die Luftbelastung mit Schwefeldioxid können anhand solcher Flechtenkartierungen ungefähre quantitative Aussagen getroffen werden.
Mit Hilfe von Wasserpflanzen und Wassertieren wird der Belastungsgrad von Gewässern in sogenannten Gewässergütekartierungen ermittelt. Fischarten werden zur Kontrolle der Wasserqualität
eingesetzt, z.B. in den kommunalen Wasserwerken am Rhein. Hier wird das aufbereitete Trinkwasser
erst durch ein Fischaquarium geleitet, bevor es in das Leitungsnetz gelangt.
Von der Arbeitsgemeinschaft zur Reinhaltung der Weser, einer Kooperation der 5 Anrainerländer,
werden in 15 Messstationen Wasserflöhe (Daphnia spec.) zur Kontrolle der Wasserqualität der Weser
eingesetzt. Wasserflöhe reagieren sofort auf Schadstoffe im Wasser: die Flöhe zeigen ein erhöhtes
Aktivitätsmuster oder sterben sogar. Ist dies der Fall, wird über Infrarotsensoren Alarm ausgelöst.
Danach wird nach möglichen Schadstoffen mit Hilfe chemischer Analytik gefahndet.
Zeigerorganismen oder Bioindikatoren sind für manche auf Umweltprobleme abzielende Fragestellungen einfacher zu handhaben und aussagekräftiger als komplizierte technische Meßmethoden. Der
große Vorteil der Bioindikatoren liegt vor allem darin, dass sie auch kombinatorische Wirkungen mehrerer Schadstoffe anzeigen. Durch chemische Reaktionen mehrerer Stoffe können neue schädliche
Verbindungen oder unbekannte Zerfalls- und Abbauprodukte entstehen, die evtl. drastischere Auswirkungen haben als die jeweiligen Schadstoffe im einzelnen.
Außerdem zeigen Bioindikatoren zwar stets die mittel- bis langfristige Gesamtsituation ihrer Umgebung an, reagieren sehr wohl aber auf kurzzeitige Spitzenbelastungen, die bei technischen periodischen Messungen eventuell "weg- gemittelt" werden.
Auch wenn bisher erst wenige Arten in die praktische Anwendung der Bioindikation in gewisser Weise
genommen wurden, führt uns das ganze Ausmaß der Gefährdung von Arten nur zu deutlich vor Augen, dass unsere Umwelt heute alles andere als in Ordnung ist. Vor diesem Hintergrund sind demnach alle Tier- und Pflanzenarten als Bioindikatoren zu betrachten.
Sicherung von Organismen als Vorbilder für die Technik
"Und, getrieben von meiner Neugierde, zog ich aus, die von der sinnreichen Natur geschaffene große
Menge vielfältiger und eigentümlicher Formen zu beobachten"
(Leonardo da Vinci).
Die Natur hat im Laufe der Evolution eine Fülle gestalterischer, formaler und funktionaler Lösungen
entwickelt. Ihre konstruktiven Leistungen waren und sind stets Gegenstand der Bewunderung und
Nachahmung des Menschen, ihre Grundprinzipien lassen sich für Erfindungen und Verbesserungen
technischer Vorgänge und Produkte nutzen. Jeder kennt heute den Klettverschluss. Diese Erfindung
des Raumfahrt-Zeitalters ist der Klette nachempfunden, die dasselbe Prinzip bereits vor Millionen von
Jahren verwirklichte.
Weitere Beispiele sind:
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das Prinzip der Kreislaufwirtschaft und der Wiederverwertung, bereits verwirklicht mit dem
fallenden Laub und dessen Verrottung im Wald;
das Prinzip der optimalen Wirkung bei minimalem Material- und Energieaufwand. Fische und
Wale haben einen ungemein strömungsgünstigen Körperbau, dessen Form beim Bau moderner U-Boote nachempfunden wird;
das Prinzip der Mehrfachfunktion. Zum Beispiel besitzt die Vogelfeder sowohl aerodynamische Eigenschaften wie auch Eigenschaften der Wärmeisolation.
das Prinzip der hierarchischen Gliederung und Steuerung der starren Verhaltensabläufe bei
Insekten. Es wird heute für die Entwicklung autonomer, selbstgesteuerter Roboter herangezogen. Schon der geniale Leonardo da Vinci wusste Vorbilder der Natur zu nutzen. Aus seinen
Zeichnungen und Skizzen ist zu ersehen, wie er Konstruktionsmerkmale vom Vorbild des Vogelflügels ableitete. Auch die Brüder Otto und Gustav Lilienthal beschäftigten sich eingehend
mit dem Flug der Vögel, ehe sie sich daran machten, ihre Flugapparate zu konstruieren. So
kam der Mensch - bildhaft gesprochen - vom Spatz zum Jumbo-Jet.
Die Fülle der technischen Problemlösungen, die die Natur entwickelt hat, ist überwältigend. Die Möglichkeiten, die sich daraus ergeben, sind noch längst nicht ausgeschöpft. Eine lernfähige, zukunftsorientierte Technik kann aus den Vorbildern der Natur ungeheuren Nutzen ziehen. Seit einigen Jahren
beschäftigt sich ein eigener Wissenschaftszweig, die Bionik, mit der Nutzbarmachung biologischer
Systeme.
Naturschutz heißt, Chancen für die Zukunft offenzulassen. Dazu gehört auch die große Chance, von
der Natur lernen zu können.
Sicherung von Organismen als Vorbilder für künstlerische Gestaltung
Die Entwicklungs- und Gestaltungsprozesse der Evolution haben zu einer Vielfalt lebender und unbelebter Erscheinungsformen in der Natur geführt, die im Zusammenwirken von Form, Funktion und
Schönheit unübertroffen sind. Maler und Bildhauer, Dichter und Philosophen, Baumeister und Architekten, Handwerker und Künstler - sie alle ließen sich immer wieder durch die Natur inspirieren. Auch
"Design", die modernere, funktional-schöne Formgebung von Gebrauchsgütern und industriellen Produkten, orientiert sich an der Natur.
Bereits in der Antike arbeiteten Bildhauer mit natürlichen Vorbildern. Ein Beispiel ist die Gestaltung der
korinthischen Säulen. Dieser gesamte Baustil ist durch die Einarbeitung von Blattornamenten geprägt,
deren Vorbild die Blätter der Akanthus-Pflanze waren.
Welche Gesetzmäßigkeiten, Erscheinungsformen und Gestaltungsprozesse der Natur können Vorbilder für künstlerische Gestaltung sein?
Die Natur leitet auf verschiedenartigste Weise Formen von der Funktion ab und bringt Schönheit hervor. Beispiele hierfür sind Schnecken- und Muschelschalen oder die mikroskopisch kleinen Schalen
bestimmter Kieselalgen.
Die Vielfalt der Natur, des Lebendigen ist strukturiert; sie ist das Gegenteil von ungeordnetem Chaos.
Obwohl in der Natur eine unerhört komplexe Vielfalt von Formen und Konstruktionen vorhanden ist,
wiederholen sich doch immer wieder bestimmte Grundmuster und Symmetrien.
Die Methode der Natur ist Wandel, nicht völlige Neuanlage; ein Wechsel von Aufbau und Abbau, Hinzufügen und Wegnehmen.
Die Grundformen der Natur sind einfach. Bewährte Grundmuster werden erhalten und dennoch im
Detail bis ins Unendliche variiert. Diese Variation bezieht sich auf alle gestalterischen Merkmale, auf
Form, Funktion, Struktur, Textur und Ornament. Dies zeigt sich z.B. in der unendlichen Vielfalt von
Blattformen und -strukturen der Pflanzen.
Natürliche Formgebung wird als schön empfunden, da wir als Teil der Natur mit diesen Formen grundsätzlich vertraut sind. Ein "Design", das aus dieser Quelle Inspiration bezieht, ist nicht unbedingt "biologisches Design", aber sicherlich "gutes Design".
(Text in Anlehnung an Vorlesung Naturschutz 1, FH Weihenstephan, 1999)