Susanne und Peter Molis mit ihrer Pflegetochter Jay Barry. Kinder im Exil Pflegekinder in Bremen (PiB) sucht dringend weitere Pflegefamilien. Infos zu Voraussetzungen und Fortbildungen: Pflegekinder in Bremen gemeinnützige GmbH Telefon 0421/95 88 200 [email protected] Spendenkonto Kontonummer 164 44 18 bei der Sparkasse Bremen, BLZ 290 501 01 Stichwort: Kinder im Exil Die Sprinterin Den 7. September 2011 merkt sich Jay Barry so, als wäre es ihr Geburtstag. An diesem Tag begann ihr neues Leben, auch wenn die Erinnerungen an den Anfang in Deutschland für Jay nicht positiv sind: „Ich bin allein hier angekommen, kannte niemanden und habe die Sprache nicht verstanden.“ Ihre Großmutter war in Gambia geblieben, wo Jay bis zu ihrem 15. Geburtstag lebte. „Als ich noch in Afrika lebte, wusste ich noch nicht einmal, wo Deutschland liegt.“ Jay verließ ihre afrikanische Heimat nicht freiwillig. „Mädchen müssen bei uns im Alter von 15 Jahren heiraten. Vorher werden sie beschnitten. Meine Oma hat mich fortgeschickt, um mich davor zu schützen.“ Jays Eltern sind gestorben, als sie sehr klein war. „Ich hatte nur meine Oma.“ me und wie alt ich bin. Ich kam in ein Zweibettzimmer, in dem schon eine schwangere Frau wohnte. Er drückte mir einen Zettel mit den Essenszeiten in die Hand, aber ich hatte keine Uhr und habe ihn kaum verstanden. Ich wusste noch nicht mal, wo es in dem Haus Trinkwasser gab.“ Nach vier Tagen kam Jay in ein Mädchenhaus, wo sie fünf Monate wohnte. „Ich war die einzige Afrikanerin, der Rest waren deutsche Mädchen.“ Dort kümmerte man sich um Papiere, die Anmeldung und alles, was mit der Ausländerbehörde zu regeln war. Jay begann an der Volkshochschule einen Deutschkurs – und lernte parallel Lesen und Schreiben, denn sie war Analphabetin. „In Gambia konnte ich nicht zur Schule gehen sondern musste auf dem Feld mitarbeiten.“ Traumatisierende Flucht „Ihr habt doch ein Zimmer frei...“ „Das war für mich damals keine einfache Situation, ich wusste nicht, wohin ich sollte.“ Über den Fluchtweg und die Erlebnisse unterwegs kann Jay nicht sprechen, zu aufwühlend sind diese Erinnerungen. Bis heute wird sie von Refugio, dem Bremer Behandlungszentrum für traumatisierte Flüchtlinge, psychologisch betreut. Am 7. September 2011 landete die Jugendliche allein in Bremen. „Es war dunkel“, an diesen ersten Eindruck erinnert sie sich. Jay gelangte irgendwie zur Zentralen Erstaufnahmestelle für Flüchtlinge in der Steinsetzerstraße. „Im Büro saß ein Mann, der mich fragte, wo ich herkom- Das Mädchenhaus sorgte für gute Grundlagen, kümmerte sich um die gesundheitliche Erstversorgung, denn bis dahin war Jay zum Beispiel noch nie beim Zahnarzt gewesen. Im Mädchenhaus erkannte man auch Jays sportliches Talent. Sie ging zur Leichtathletik. „Unsere Tochter war damals beim Bremer Leichtathletikteam (BLT) Trainerin und lernte Jay dort kennen, die eine Pflegefamilie suchte“, erinnern sich Susanne (58) und Peter (63) Molis. Sie hat ein großes Herz und sagte: ‚Ihr habt doch oben noch ein Zimmer frei, wollt ihr nicht jemanden aufnehmen?‘“ Die Kinder von Susanne 14 bremer kirchenzeitung Juni 2015 · www.kirche-bremen.de und Peter Molis sind längst aus dem Haus, die beiden sind bereits Großeltern. „Wir hatten die schlimmsten und schönsten Sachen mit unseren Kindern hinter uns“, lacht Susanne Molis. „Sie stehen auf eigenen Beinen, und wir haben die neue Freiheit genossen.“ Als sie ihre Kinder fragten, was sie von der Idee hielten, Jay aufzunehmen, signalisierten alle Unterstützung. „Wir haben ein bisschen gequatscht“ „Jay hat uns zunächst in Begleitung ihrer Betreuerin aus dem Mädchenhaus mehrfach besucht, ist später auch mal über Nacht geblieben. Sie hat sich auch zusammen mit „Pflegekinder in Bremen“ (PiB) verschiedene Möglichkeiten angeschaut, ehe sie sich entschieden hat“, erinnert sich ihre Pflegemutter. „Beim ersten Besuch haben wir ein bisschen gequatscht“, sagt Jay und muss lachen. „Sie hat sehr wenig gesprochen und noch auf Englisch“, erklärt Susanne Molis. Am Anfang war Jay für deutsche Verhältnisse sehr zurückhaltend. „Dazu muss man wissen, dass sie von Haus aus gewohnt ist, nicht zu reden, wenn Erwachsene sprechen. Mädchen in Gambia haben nichts zu sagen. Bei uns werden Kinder völlig anders erzogen. Das hat unsere Gespräche anfangs erschwert, weil wir nie genau wussten, was Jay dachte und wollte“, so Susanne Molis. Beide Seiten entschieden sich, es miteinander zu versuchen, Jay zog ins Reihenhaus der Familie Molis nach Habenhausen. Die Jay kam mit 15 als Flüchtling allein nach Bremen – ihre Integration ist auch dank ihrer Pflegefamilie eine Erfolgsgeschichte Der PiB-Flyer „Kinder im Exil“ für interessierte Pflegefamilien www.pib-bremen.de/kinder-im-exil Pflegeeltern ließen sich über die Schulungen von PiB für ihre Aufgaben zusätzlich qualifizieren, und die Organisation sorgte über Jahre für die fachliche Begleitung. „Glaube ist immer mal Thema“ Auch der Glaube ist immer ein Thema, besonders wenn Ramadan ist. Jay ist Muslima, sie fastet, betet aber meist zu Hause. In die Moschee geht sie nur zum Zuckerfest. „In Gambia haben wir mit Christen zusammen das Zuckerfest und auch Weihnachten gefeiert.“ Bei Konfirmationen, zu Trauungen oder zu Weihnachten geht Jay mit in die Kirche. „Wir diskutieren oft darüber, wie der Glaube gelebt wird, welche extremen Ausprägungen es gibt – beispielsweise beim Islamischen Staat, den auch Jay ablehnt“, sagt Susanne Molis. „Wir sprechen auch darüber, wie wir unseren christlichen Glauben verstehen, der ja auch nicht frei von Extremisten ist.“ „Andere Werte und Rollenbilder“ „Wir haben eine völlig neue Kultur kennengelernt und eine Verantwortung übernommen, die anders ist als bei den eigenen Kindern. Denn Jay ist als Jugendliche zu uns gekommen, da hat man nicht mehr den Einfluss wie bei jüngeren Kindern.“ Die Anfangszeit war für beide Seiten ein ständiges interkulturelles Training, bei dem es auch zu Missverständnissen kam. „Wenn der Mann in Gambia nach Hause kommt, so Peter Molis, bringt ihm die Frau ein Glas Wasser, kniet sich daneben, senkt den Blick und wartet, bis er es ausgetrunken hat. – Uns war lange gar nicht bewusst, dass Jay in ihrem früheren Leben nie freie Entscheidungen treffen konnte.“ Jetzt sei das besser geworden, meint Jay. Sie sei selbstbewusster geworden und könne sagen, was sie denkt und will. „Man muss viel reden, um sich zu verstehen, und Jay hat gelernt, dass man die Leute in Deutschland anschauen und mit ihnen sprechen darf“, sagt Susanne Molis. Offenheit sei die wichtigste Voraussetzung, um Pflegefamilie für Jugendliche aus einem anderen Kulturkreis zu werden. „Dann kann man diese Erfahrungen wie wir als große Bereicherung erleben, aus denen wir viel gelernt haben.“ Große sportliche Erfolge Nebenher treibt sie weiter Sport. „Damit habe ich in Deutschland begonnen. Ich hab erst Fußball ausprobiert, aber das war nichts für mich.“ In der Leichtathletik ist Jay sehr erfolgreich. „Na ja, geht“, wirft die heute 19-Jährige zurückhaltend ein. Jay ist ehrgeizig, trumpft aber mit ihren Erfolgen nicht auf. Viermal in der Woche trainiert sie im Leistungsbereich des TUS Komet Arsten. Nicht nur auf Landesebene, sondern auch bei den deutschen Juniorenmeisterschaften lief Jay als Sprinterin mit. 100- und 200-Meter-Lauf einzeln und in der Staffel sind ihre Disziplinen. Wer sich die Internetseite des Vereins anschaut, staunt über ihre sportliche Karriere. Ausbildungsplatz in der Tasche Im Sommer beendet Jay die Allgemeine Berufsschule in Walle. „Diese Schule bereitet sehr praxis- und alltagsorientiert vor und fördert die Schüler sprachlich“, erläutert Peter Molis. Jay ist eine gute Schülerin mit Einsern und Zweiern im Zeugnis. Nach ihrem Schlulabschluss hat sie bereits einen Ausbildungsplatz als Einzelhandelskauffrau in einem Habenhauser Bioladen sicher. „Nach nur dreieinhalb Jahren Schule hat Jay alles drauf, was man für eine Lehrstelle braucht“, erzählt Peter Molis stolz. Kontakt mit der Oma aufnehmen Jays Asylantrag, den ihr Vormund 2012 stellte, wurde übrigens damals abgelehnt, weil sie als nicht politisch verfolgt galt. Doch sie durfte für zunächst drei Jahre in Deutschland bleiben. „In diesem Monat bekommt Jay hoffentlich aufgrund ihrer guten Integration ein dauerhaftes Aufenthaltsrecht“, hoffen die Pflegeeltern. Über das Rote Kreuz versucht Jay derzeit, Kontakt in ihre Heimat aufzunehmen, um ihre Oma zu finden, falls die noch lebt. „Ich würde ihr gern sagen, wo ich geblieben bin, dass sich ihre Hilfe gelohnt hat und es mir gut geht.“ Text/Foto: Matthias Dembski www.kirche-bremen.de bremer kirchenzeitung Juni 2015 15
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