Jay ist Sprinterin

Susanne und Peter Molis
mit ihrer Pflegetochter
Jay Barry.
Kinder im Exil
Pflegekinder in Bremen (PiB)
sucht dringend
weitere Pflegefamilien.
Infos zu Voraussetzungen und Fortbildungen:
Pflegekinder in Bremen
gemeinnützige GmbH
Telefon 0421/95 88 200
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bei der Sparkasse Bremen, BLZ 290 501 01
Stichwort: Kinder im Exil
Die Sprinterin
Den 7. September 2011 merkt sich Jay Barry so, als
wäre es ihr Geburtstag. An diesem Tag begann ihr neues Leben, auch wenn die Erinnerungen an den Anfang
in Deutschland für Jay nicht positiv sind: „Ich bin allein hier angekommen, kannte niemanden und habe
die Sprache nicht verstanden.“ Ihre Großmutter war in
Gambia geblieben, wo Jay bis zu ihrem 15. Geburtstag
lebte. „Als ich noch in Afrika lebte, wusste ich noch
nicht einmal, wo Deutschland liegt.“ Jay verließ ihre
afrikanische Heimat nicht freiwillig. „Mädchen müssen
bei uns im Alter von 15 Jahren heiraten. Vorher werden
sie beschnitten. Meine Oma hat mich fortgeschickt, um
mich davor zu schützen.“ Jays Eltern sind gestorben, als
sie sehr klein war. „Ich hatte nur meine Oma.“
me und wie alt ich bin. Ich kam in ein Zweibettzimmer,
in dem schon eine schwangere Frau wohnte. Er drückte
mir einen Zettel mit den Essenszeiten in die Hand, aber
ich hatte keine Uhr und habe ihn kaum verstanden. Ich
wusste noch nicht mal, wo es in dem Haus Trinkwasser
gab.“ Nach vier Tagen kam Jay in ein Mädchenhaus, wo
sie fünf Monate wohnte. „Ich war die einzige Afrikanerin, der Rest waren deutsche Mädchen.“ Dort kümmerte
man sich um Papiere, die Anmeldung und alles, was
mit der Ausländerbehörde zu regeln war. Jay begann an
der Volkshochschule einen Deutschkurs – und lernte parallel Lesen und Schreiben, denn sie war Analphabetin.
„In Gambia konnte ich nicht zur Schule gehen sondern
musste auf dem Feld mitarbeiten.“
Traumatisierende Flucht
„Ihr habt doch ein Zimmer frei...“
„Das war für mich damals keine einfache Situation, ich
wusste nicht, wohin ich sollte.“ Über den Fluchtweg
und die Erlebnisse unterwegs kann Jay nicht sprechen,
zu aufwühlend sind diese Erinnerungen. Bis heute wird
sie von Refugio, dem Bremer Behandlungszentrum für
traumatisierte Flüchtlinge, psychologisch betreut. Am 7.
September 2011 landete die Jugendliche allein in Bremen. „Es war dunkel“, an diesen ersten Eindruck erinnert sie sich. Jay gelangte irgendwie zur Zentralen Erstaufnahmestelle für Flüchtlinge in der Steinsetzerstraße.
„Im Büro saß ein Mann, der mich fragte, wo ich herkom-
Das Mädchenhaus sorgte für gute Grundlagen, kümmerte sich um die gesundheitliche Erstversorgung,
denn bis dahin war Jay zum Beispiel noch nie beim
Zahnarzt gewesen. Im Mädchenhaus erkannte man
auch Jays sportliches Talent. Sie ging zur Leichtathletik.
„Unsere Tochter war damals beim Bremer Leichtathletikteam (BLT) Trainerin und lernte Jay dort kennen, die
eine Pflegefamilie suchte“, erinnern sich Susanne (58)
und Peter (63) Molis. Sie hat ein großes Herz und sagte: ‚Ihr habt doch oben noch ein Zimmer frei, wollt ihr
nicht jemanden aufnehmen?‘“ Die Kinder von Susanne
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bremer kirchenzeitung Juni 2015 · www.kirche-bremen.de
und Peter Molis sind längst aus dem Haus, die beiden
sind bereits Großeltern. „Wir hatten die schlimmsten
und schönsten Sachen mit unseren Kindern hinter uns“,
lacht Susanne Molis. „Sie stehen auf eigenen Beinen,
und wir haben die neue Freiheit genossen.“ Als sie ihre
Kinder fragten, was sie von der Idee hielten, Jay aufzunehmen, signalisierten alle Unterstützung.
„Wir haben ein bisschen gequatscht“
„Jay hat uns zunächst in Begleitung ihrer Betreuerin
aus dem Mädchenhaus mehrfach besucht, ist später
auch mal über Nacht geblieben. Sie hat sich auch zusammen mit „Pflegekinder in Bremen“ (PiB) verschiedene Möglichkeiten angeschaut, ehe sie sich entschieden
hat“, erinnert sich ihre Pflegemutter. „Beim ersten Besuch haben wir ein bisschen gequatscht“, sagt Jay und
muss lachen. „Sie hat sehr wenig gesprochen und noch
auf Englisch“, erklärt Susanne Molis. Am Anfang war
Jay für deutsche Verhältnisse sehr zurückhaltend. „Dazu
muss man wissen, dass sie von Haus aus gewohnt ist,
nicht zu reden, wenn Erwachsene sprechen. Mädchen
in Gambia haben nichts zu sagen. Bei uns werden Kinder völlig anders erzogen. Das hat unsere Gespräche
anfangs erschwert, weil wir nie genau wussten, was Jay
dachte und wollte“, so Susanne Molis. Beide Seiten entschieden sich, es miteinander zu versuchen, Jay zog ins
Reihenhaus der Familie Molis nach Habenhausen. Die
Jay kam mit 15 als Flüchtling allein nach
Bremen – ihre Integration ist auch dank
ihrer Pflegefamilie eine Erfolgsgeschichte
Der PiB-Flyer
„Kinder im Exil“
für interessierte
Pflegefamilien
www.pib-bremen.de/kinder-im-exil
Pflegeeltern ließen sich über die Schulungen von PiB für
ihre Aufgaben zusätzlich qualifizieren, und die Organisation sorgte über Jahre für die fachliche Begleitung.
„Glaube ist immer mal Thema“
Auch der Glaube ist immer ein Thema, besonders wenn
Ramadan ist. Jay ist Muslima, sie fastet, betet aber
meist zu Hause. In die Moschee geht sie nur zum Zuckerfest. „In Gambia haben wir mit Christen zusammen das
Zuckerfest und auch Weihnachten gefeiert.“ Bei Konfirmationen, zu Trauungen oder zu Weihnachten geht Jay
mit in die Kirche. „Wir diskutieren oft darüber, wie der
Glaube gelebt wird, welche extremen Ausprägungen es
gibt – beispielsweise beim Islamischen Staat, den auch
Jay ablehnt“, sagt Susanne Molis. „Wir sprechen auch
darüber, wie wir unseren christlichen Glauben verstehen, der ja auch nicht frei von Extremisten ist.“
„Andere Werte und Rollenbilder“
„Wir haben eine völlig neue Kultur kennengelernt und
eine Verantwortung übernommen, die anders ist als bei
den eigenen Kindern. Denn Jay ist als Jugendliche zu
uns gekommen, da hat man nicht mehr den Einfluss
wie bei jüngeren Kindern.“ Die Anfangszeit war für
beide Seiten ein ständiges interkulturelles Training, bei
dem es auch zu Missverständnissen kam. „Wenn der
Mann in Gambia nach Hause kommt, so Peter Molis,
bringt ihm die Frau ein Glas Wasser, kniet sich daneben, senkt den Blick und wartet, bis er es ausgetrunken hat. – Uns war lange gar nicht bewusst, dass Jay in
ihrem früheren Leben nie freie Entscheidungen treffen
konnte.“ Jetzt sei das besser geworden, meint Jay. Sie
sei selbstbewusster geworden und könne sagen, was
sie denkt und will. „Man muss viel reden, um sich zu
verstehen, und Jay hat gelernt, dass man die Leute in
Deutschland anschauen und mit ihnen sprechen darf“,
sagt Susanne Molis. Offenheit sei die wichtigste Voraussetzung, um Pflegefamilie für Jugendliche aus einem
anderen Kulturkreis zu werden. „Dann kann man diese
Erfahrungen wie wir als große Bereicherung erleben,
aus denen wir viel gelernt haben.“
Große sportliche Erfolge
Nebenher treibt sie weiter Sport. „Damit habe ich in
Deutschland begonnen. Ich hab erst Fußball ausprobiert, aber das war nichts für mich.“ In der Leichtathletik ist Jay sehr erfolgreich. „Na ja, geht“, wirft die heute
19-Jährige zurückhaltend ein. Jay ist ehrgeizig, trumpft
aber mit ihren Erfolgen nicht auf. Viermal in der Woche
trainiert sie im Leistungsbereich des TUS Komet Arsten.
Nicht nur auf Landesebene, sondern auch bei den deutschen Juniorenmeisterschaften lief Jay als Sprinterin
mit. 100- und 200-Meter-Lauf einzeln und in der Staffel
sind ihre Disziplinen. Wer sich die Internetseite des Vereins anschaut, staunt über ihre sportliche Karriere.
Ausbildungsplatz in der Tasche
Im Sommer beendet Jay die Allgemeine Berufsschule in
Walle. „Diese Schule bereitet sehr praxis- und alltagsorientiert vor und fördert die Schüler sprachlich“, erläutert
Peter Molis. Jay ist eine gute Schülerin mit Einsern und
Zweiern im Zeugnis. Nach ihrem Schlulabschluss hat sie
bereits einen Ausbildungsplatz als Einzelhandelskauffrau in einem Habenhauser Bioladen sicher. „Nach nur
dreieinhalb Jahren Schule hat Jay alles drauf, was man
für eine Lehrstelle braucht“, erzählt Peter Molis stolz.
Kontakt mit der Oma aufnehmen
Jays Asylantrag, den ihr Vormund 2012 stellte, wurde
übrigens damals abgelehnt, weil sie als nicht politisch
verfolgt galt. Doch sie durfte für zunächst drei Jahre in
Deutschland bleiben. „In diesem Monat bekommt Jay
hoffentlich aufgrund ihrer guten Integration ein dauerhaftes Aufenthaltsrecht“, hoffen die Pflegeeltern. Über
das Rote Kreuz versucht Jay derzeit, Kontakt in ihre
Heimat aufzunehmen, um ihre Oma zu finden, falls die
noch lebt. „Ich würde ihr gern sagen, wo ich geblieben
bin, dass sich ihre Hilfe gelohnt hat und es mir gut geht.“
Text/Foto: Matthias Dembski
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