Klassiker wieder gelesen Strategische Spiele

Klassiker wieder gelesen
Selvini Palazzoli, M., Cirillo, S., Selvini, M. , Sorrentino, A.
M. (1988/1992): Die psychotischen Spiele in der Familie
(402 S., E 23,90). Stuttgart: Klett-Cotta.
Strategische Spiele
Schon beim Lesen eines früheren Buches der Autoren – »Paradoxon und Gegenparadoxon« – vor vielen Jahren fühlte ich mich in die Welt von Kriminalgeschichten versetzt, bei denen der Therapeut die Rolle des Kommissars einnimmt
und versucht, die Intrigen und Betrügereien der Familien aufzudecken und durch
gezielte Interventionen zu beenden. »Die psychotischen Spiele in der Familie«
könnte im Anschluss daran quasi als der zweite Band einer Fortsetzungsgeschichte aufgefasst werden, erzählt von den Strategen Mara Selvini Palazzoli,
Stefano Cirillo, Matteo Selvini und Anna Maria Sorrentino. Bei meiner ersten
Lektüre dieses Buches kurz nach dessen Erscheinen zog mich die Spannung in
ihren Bann und regte Denkprozesse und Neugier an, die beschriebenen Interventionen selbst auszuprobieren. Und siehe da: Sie funktionierten manchmal
auch bei meinen Patienten, aber diese reagierten meistens etwas verstört – was
natürlich beabsichtigt war. Lediglich etwas schien zu fehlen: Das Mitgehen mit
den Patienten – wie es z. B. Gunther Schmidt als »Pacing« in den Mittelpunkt
seiner Therapie stellt.
Zuerst zum Inhalt des Buches: Nachdem das Mailänder Team mit der früheren
stereotypen paradoxen Vorgehensweise wegen immer wieder vorkommender
Misserfolge unzufrieden war, experimentierten sie und entwickelten schließlich
eine Verschreibung, die sie routinemäßig bei allen Familien mit einem magerKONTEXT 42,1, S. 73 – 82, ISSN 0720-1079
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süchtigen oder psychotischen Kind anwandten und »unveränderliche Verschreibung« nannten. Bei der ersten Sitzung luden sie stets neben der Kernfamilie auch
weitere Personen ein, die Einfluss auf die Familie ausübten, wie z. B. die Großeltern. Sie beendeten die erste Sitzung dann mit den Worten »Normalerweise sind
wir am Ende der ersten Sitzung in der Lage zu sagen, ob wir zu einer Familientherapie raten oder nicht. In diesem Fall jedoch sind wir […] noch zu keinem
definitiven Schluß gelangt. Daher ist ein weiteres Treffen notwendig […]; zur
nächsten Sitzung erwarten wir nur die Familie« (S. 41). Damit zogen sie eine
Grenze um die Kernfamilie. Nach der zweiten Sitzung erklärten sie eine Familientherapie für angezeigt und zogen eine weitere Grenze – jetzt zwischen den
Generationen – indem sie zur dritten Sitzung die Eltern allein ohne die Kinder
einluden. Am Ende der dritten Sitzung verordneten sie den Eltern Stillschweigen
über alles, was in der Sitzung geschieht. »Etwa eine Woche nach dieser Sitzung
beginnen Sie damit, abends einige Male auszugehen […]. Zu Hause hinterlassen
Sie lediglich einen Zettel auf dem Küchentisch mit folgenden Worten: ›Wir sind
heute abend nicht zu Hause.‹ […] Sollte Ihr Kind bzw. sollten Ihre Kinder fragen,
wo um alles in der Welt Sie gewesen sind und was Sie in der Zeit gemacht haben,
so antworten Sie in ruhigem Ton: ›Das sind Dinge, die nur uns beide etwas angehen.‹« (S. 43 f.). Die damit zwischen den Generationen gezogene Grenze wurde
in den folgenden Sitzungen noch verstärkt durch die Verschreibung von längeren
Abwesenheiten in Form von Wochenendausflügen mit ein oder zwei Übernachtungen.
Die Strategie ist klar: Die Autoren nahmen an, dass von einer Arbeit mit
generationsübergreifenden Subsystemen die Gefahr ausginge, die »pathogenen
hierarchischen Muster« zu festigen (S. 77). Deshalb sollten die Subsysteme
hierarchisch zueinander in Beziehung gesetzt (S. 59) werden. Zur Strategie gehörte ein Pakt mit den Eltern, die am Ende der vierten Sitzung zu Kotherapeuten
ernannt wurden (S. 85). Der designierte Patient wurde den anderen Mitgliedern
der Familie gleichgestellt und die Solidarität unter den Geschwistern gefördert
(S. 88 f.).
Die der Strategie zugrunde liegende Imbroglio-Hypothese (»Imbroglio«
könnte mit »betrügerische Verwicklung« übersetzt werden) geht von einem
komplexen interaktiven Prozess aus, »der in Gang kommt, wenn ein Elternteil in
seinem Verhalten eine spezifische Taktik erkennen läßt: wenn er in einer generationsübergreifenden dyadischen Beziehung den Anschein einer Bevorzugung
erweckt, die in Wahrheit nur Lug und Trug ist. Denn dieses besonders vertrauliche
Verhältnis zwischen Mutter bzw. Vater und Kind ist nicht Ausdruck echter Zuneigung, sondern vielmehr ein strategisches Werkzeug, das gegen einen Dritten –
gewöhnlich gegen den Partner – benutzt wird« (S. 106).
Mit der Metapher des Spiels (S. 139) wird dann »Anstiftung« als interaktiver,
zumindest triadischer, Prozess beschrieben: »Einer stiftet einen anderen gegen
einen dritten an« (S. 145). Dieses »ganze Spiel mit all den Zügen, die die Spieler
dabei abwechselnd machen, [wird] im wesentlichen auf der analogen Ebene
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ausgetragen […]. [Es ist] der bewussten Planung der Spieler wie auch ihrer ›rationalen‹ Kontrolle entzogen« (S. 156). »Unter Verführung verstehen wir also ein
breitgefächertes Repertoire von Verhaltensweisen und Manövern, die dem Verführer dazu dienen, sich bei jemandem einzuschmeicheln, den er gegen einen
Dritten aufwiegeln will« (S. 185).
Die Autoren entwickeln schließlich ein diachrones Modell psychotischer
Prozesse (S. 236 ff.). Ausgangspunkt ist ein Pattspiel der Eltern, die einen endgültigen Bruch sorgfältig vermeiden (S. 240). »Der folgenschwere epistemologische Irrtum, dem der zukünftige Indexpatient erliegt, beruht genau darauf, daß er
auf der Grundlage einer linearen Attribuierung von Recht und Unrecht den
passiven Provokateur für ein unschuldiges Opfer und den aktiven für einen
grausamen Täter hält« (S. 241). Der zukünftige Indexpatient hält dann fest zu
demjenigen Elternteil, der ihm als Verlierer erscheint, ergreift aber niemals offen
für ihn Partei (S. 244 f.). »Früher oder später muß das Kind der traurigen Tatsache
ins Auge sehen, daß seine heimliche Parteinahme für den Verlierer überhaupt
nichts fruchtet, da sich dieser dadurch in keiner Weise ermutigt fühlt, aktiv zu
werden« (S. 245). »Der Gewinner wird seine Provokationen unbeirrt fortsetzen,
während der Verlierer, anstatt sich dem Umsturzversuch der Tochter oder des
Sohnes anzuschließen, an seiner unterwürfigen Rolle festhält. Letzterer wird auch
nicht den Mund aufmachen, wenn der aktive Provokateur zum Gegenschlag
ausholt, um sich an dem rebellierenden Kind zu rächen – im Gegenteil: Er wird
sich in einer vollständigen Kehrtwendung mit dem Gewinner gegen das Kind
verbünden« (S. 249). Schließlich »liefert diesem Kind allein die psychotische
Symptomatologie eine Waffe, mit der es auch da triumphieren kann, wo es mit
ungewöhnlichem, aber noch ›normalem‹ Verhalten gescheitert ist. Nun wird es
wieder die Oberhand gewinnen« (S. 250). Das Verhalten des Indexpatienten
schleift sich immer mehr ein und wird schließlich chronisch (S. 250).
Die Familie sollte mit der Kompetenz der Therapeuten und der Fragetechnik
geblendet werden (S. 65). So konnte es nicht ausbleiben, dass Patienten gegen
diese strategische und im Grunde unaufrichtige Haltung der Therapeuten Misstrauen entwickelten und sich an der Nase herumgeführt vorkamen. Deshalb
modifizierten die Autoren mit der Zeit ihre Therapietechniken zugunsten einer
offeneren und empathischeren Beziehung (S. 312) und relativierten auch ihr eigenes, anfangs als unfehlbares Dogma betrachtetes Modell schließlich als
»Denkschema, mit dessen Hilfe wir bei einem spezifischen Fall wiederkehrende
Muster erkennen können« (S. 314). Die Offenlegung des Familienspiels wurde
oberstes Ziel und die unveränderliche Verschreibung immer seltener eingesetzt
(S. 316 ff.). Man schrieb allen Familienmitgliedern »individuelle Kompetenz« zu
(S. 319 f.) und setzte voraus, dass sich jeder Einzelne von nachvollziehbaren
Motiven und Absichten leiten lässt.
Wenn ein Störungsmodell auf Annahmen von Verschwörung und Anstiftung
beruht, muss es neben Opfern auch Schuldige geben – eine Sichtweise, die in
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manchen Fällen die Eltern zu Sündenböcken abstempelte und Machtkämpfe oder
auch Verzweiflung auslöste.
Um dieses Problem zu lösen, definierte man die Eltern als Kotherapeuten und
machte damit »aus einem pathogenen Elternpaar ein therapeutisch wirkendes
Paar […] – ein Paar, das zur Heilung seines Kindes beiträgt und dabei auch sich
selbst heilt, weil es sein eigenes Beziehungsmuster verändern muß« (S. 337). Das
familiäre Geschehen wurde als pathologisches Spiel beschrieben. »Wir werden
also unsere Therapie als ein Spiel und uns selbst als Spieler darstellen« (S. 347).
Die therapeutische Aufgabe ist nun die Veränderung des Spiels. »Entweder
handelt es sich um einen Zug, mit dem das betreffende Spiel einfach nur weitergespielt wird, oder es ist ein Zug, mit dem ein neues Spiel vorgeschlagen wird –
ein Meta-Spielzug. Es liegt auf der Hand, daß die entscheidenden Spielzüge des
Therapeuten stets Meta-Spielzüge sind« (S. 347).
Die Autoren wurden weltberühmt und ihr Ansatz fand weite Verbreitung.
Aber die systemische Landschaft veränderte sich in den folgenden Jahren, beeinflusst durch den radikalen Konstruktivismus Ernst von Glasersfelds, durch die
Kybernetik zweiter Ordnung Heinz von Foersters und durch die neuere Systemtheorie Niklas Luhmanns. Narrative Elemente wurden von Michael White
und David Epston in die systemische Therapie eingeführt. Diese Theorien und
Ansätze konnten Schwachstellen des Mailänder Modells ausgleichen.
Nicht umsonst wurde früher den Systemikern immer wieder Zynismus und
fehlende Empathie vorgeworfen. Dass die Therapeuten die Familie »blenden«
und vorgeben zu wissen, was für sie der richtige Weg ist, dass sie Schuldige für die
psychische Störung des Familienmitglieds suchen, dass sie aus einer autoritären
Haltung heraus und ohne tragfähige therapeutische Beziehung strategisch entwickelte Hausaufgaben verschreiben – das wurde schon während der Entstehungszeit des Buches von Mara Selvini Palazzoli und ihrem Team hinterfragt und
führte zu ersten Schritten eines empathischeren Eingehens auf die Patienten.
Während Selvini Palazzoli und ihre Kollegen davon ausgingen, die Wahrheit
über die Entstehung psychotischer Störungen zu suchen und schließlich zu finden,
wurde die prinzipielle Möglichkeit dieser Wahrheitsfindung von Konstruktivisten
infrage gestellt: Man kann verschiedene Theorien und Methoden aus einer Metaperspektive lediglich danach beurteilen, ob sie hilfreich oder weniger hilfreich
sind. Der Einfluss narrativer Techniken auf die systemische Therapie veränderte
die therapeutische Kommunikation: Der Therapeut ist nicht mehr derjenige, der
aus einer geheimnisvollen, autoritären Position heraus Aufgaben vorschreibt,
sondern eher ein Partner, der mit dem Patienten und seiner Familie bessere
Narrative für das Leben der Familie sucht, mit denen sich Probleme auflösen
lassen.
Der strategische Ansatz des Mailänder Teams um Mara Selvini Palazzoli
wurde durch diese Entwicklungen in den Hintergrund gerückt – man könnte aber
auch sagen: bereichert. Wenn man aus heutiger Sicht ihre Beobachtungen der
familiären Kommunikationsmuster aufgreift und zur Hypothesenbildung nutzt,
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kann man sie durchaus als Narrativ der Familie anbieten und dadurch neue Impulse für bessere Lösungen geben. Auch mag hin und wieder eine paradoxe
Aufgabe oder die »unveränderliche Verschreibung« hilfreich sein, aber nur dann,
wenn sie dem Patienten als eine von verschiedenen möglichen Aufgaben angeboten wird, sodass der Patient letztendlich mitentscheidet, zumal ja auch nur er
die Nützlichkeit der eingesetzten Interventionen beurteilen kann.
Die Autoren haben viel zur Entwicklung der systemischen Therapie von
Psychosen und Essstörungen beigetragen und ein Gegengewicht gegen die boomende biologische Psychiatrie gesetzt. Der Reiz des Buches liegt darüber hinaus
in der kriminalistischen Spannung, die Mara Selvini Palazzoli und ihr Team
aufbauen, wenn sie immer wieder über neue Entdeckungen bei ihrer Suche nach
den Beiträgen der einzelnen Familienmitglieder zu der psychischen Störung des
»Indexpatienten« berichten. Als Leser fühlt man sich mitten in dem Geschehen
und freut sich über das Happy End der einzelnen Geschichten. Die mit Metaphern der Kriminalistik erzeugte Spannung hat sicherlich zum Erfolg der Autoren
beigetragen, die mit ihrer strategischen Familientherapie ein wesentliches Kapitel
in der Geschichte der systemischen Therapie geschrieben haben.
Korrespondenzadresse: Dr. med. Gerhard Dieter Ruf, Marktplatz 2, 71679 Asperg;
E-Mail: [email protected]
Ein Meilenstein der Familientherapie, der
kontextualisiert werden muss
Das von Mara Selvini Palazzoli und ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern
hinterlassene Werk zur Familientherapie ist als das Ergebnis einer lebenslangen
Suche zu verstehen, einer Suche danach, wie wir schwere seelische Erkrankungen
in einem interaktionellen familiendynamischen Kontext verstehen und behandeln können: die Anorexia nervosa sowie psychotische Erkrankungen bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Mara Selvini Palazzoli scheute sich dabei
nicht, mit vorher von ihr geteilten Überzeugungen zu brechen und neue Sichtweisen zu entwickeln, in der Regel mit einer zumindest für norddeutsche Temperamente verblüffenden Radikalität. Dabei ging sie nicht nur mit anderen und
deren Sichtweisen, sondern auch mit sich selbst sehr schonungslos um.
Davon zeugt auch das hier zu diskutierende Buch. Dieses ist noch von dem
Optimismus der 1980er Jahre getragen. So meinen die Autoren z. B., dass »die
Zeit, da man die strenge Methodologie der sogenannten harten Wissenschaften
für überlegen und vorbildhaft hielt, […] abgelaufen [ist]« (S. 10). Dies hat sich
leider nicht bewahrheitet. Das Interesse in der Psychiatrie an einer interaktionellen Sichtweise ist inzwischen weitgehend auf Null reduziert. Ein biologischer
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Reduktionismus (vgl. Lidz, 19911) beherrscht heute zumindest die deutsche und
die angelsächsische Psychiatrie mit einem irrational-fetischistischen Glauben an
die Wirkung von Medikamenten, der empirischen Überprüfungen in keiner Weise
standhält.
Dieses Buch öffnet dem gegenüber den Blick für eine gänzlich andere, dabei
neurophysiologische Faktoren keineswegs ausschließende Sichtweise.
Es ist zunächst geprägt von der Auseinandersetzung mit den sogenannten
paradoxen Interventionen und ihrer möglichen Wirkweise. Das Ziel dieser Auseinandersetzung benennen die Autorinnen und Autoren klar: »Die therapeutischen Methoden, Strategien und Instrumente mögen sich ändern, das Ziel bleibt
aber stets das gleiche: die zwischenmenschlichen Wurzeln der sogenannten
Geisteskrankheiten zu finden, eine soziale Ätiologie der psychischen Störungen
zu entwerfen« (S. 8 f.). Die Gruppe versteht sich dabei als Handwerker in einer
therapeutischen Werkstatt. Im Gegensatz zu anderen systemischen Therapeuten
lehnt sie diagnostische Klassifikationssysteme (damals nach DSM-III-R) nicht
ab, sondern bezieht sich auf diese. Dabei kommt es darauf an, »jenen interaktiven
Prozess zu verstehen und zu rekonstruieren, der zu einem bestimmten Zeitpunkt
in unerwünschte Verhaltensweisen einer Tochter oder eines Sohnes einmündet«
(S. 10). Die hierbei entwickelten Hypothesen sollen im Sinne Poppers »falsifizierbar«, das heißt kritisierbar sein. Von daher wird deren Spezifität gefordert.
Das einleitende Kapitel (»Unzufriedenheit mit dem Paradoxon«) setzt sich
zunächst mit dem sehr instrumentellen Verständnis der Wirkung paradoxer Interventionen der Palo-Alto-Gruppe auseinander. Das strategische Therapiekonzept beschreiben die Autorinnen als zu oberflächlich und zu reduktionistisch.
Bezüglich der selbst entwickelten paradoxen Intervention wird kritisch gefragt, inwieweit diese nicht nur Interpretation, sondern auch Provokation waren
bzw. sind. Insbesondere wird die Tendenz kritisiert, von dem pragmatischen Effekt eines Symptoms auf die heimliche, unter Umständen auch unbewusste Absicht von Patientinnen und Patienten sowie Familienmitglieder zu schließen. Der
Ausschluss individueller Faktoren mit der zeitweisen Ablehnung psychodynamischer Überlegungen wird von der Gruppe nunmehr als systemischer Reduktionismus kritisiert. Die Wirksamkeit paradoxer Interventionen wird insbesondere mit deren Spezifität erklärt. »In die modellhafte Darstellung des Familienspiels müssen wir alle Mitglieder der Familie in ihrer spezifischen und aktuellen
Position mit einbeziehen« (Speed, 1984, S. 516, zit. n. Selvini Palazzoli et al., 1988,
S. 28). Die Schwierigkeiten mit der Anwendung paradoxer Interventionen bei
mehrfachen familientherapeutischen Gesprächen werden dabei diskutiert.
Schließlich wird die sogenannte unveränderliche Verschreibung in einem
umfangreichen Zitat eines Kongressberichtes vorgestellt. Die Wirkung der unveränderlichen Verschreibung wird dann in sieben Punkten detailliert erläutert,
1 Lidz, T. (1991). Die Regression der Psychiatrie. Psychosozial, 14, 67 – 80.
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zudem der Umgang mit unterschiedlichen Reaktionen auf die Verschreibung von
Seiten des Elternpaares.
In den Fokus der Behandlung schwer gestörter Patientinnen und Patienten
rückt nun die Behandlung der Eltern und ihrer Beziehungen. Die Einbindung des
Symptomträgers, anderer Angehöriger der Kindergeneration sowie weiterer Familienmitglieder in elterliche Konflikte sowie die Einbindung der Eltern in
Konflikte der Ursprungsfamilien und die damit verbundenen Grenzenstörungen
werden auf diese Weise bearbeitet. Dies ist eindrucksvoll an einer Reihe von
Fallbeispielen nachzulesen. Insbesondere generationsübergreifende Bündnisse
von Elternteil und einem Kind gegen einen anderen Elternteil werden so bearbeitet.
Zentral zum Verständnis der familiären Interaktion ist zum einen der Begriff
des Imbroglio. Dieses Interaktionsmuster wird als kollektives »schmutziges«
Spiel verstanden (ein Begriff, der der Arbeitsgruppe sehr viel und meines Erachtens absolut unberechtigte Kritik eingebracht hat). Mit Imbroglio ist ein interaktiver Prozess gemeint, in dem ein Elternteil in einer generationenübergreifenden dyadischen Beziehung den Anschein einer Bevorzugung erweckt, die in
Wahrheit nur Lug und Trug ist. »Denn dieses besonders vertrauliche Verhältnis
zwischen Mutter bzw. Vater und Kind ist nicht Ausdruck echter Zuneigung,
sondern vielmehr ein strategisches Werkzeug das gegen einen Dritten – gewöhnlich gegen den Partner – benutzt wird. Hierdurch wird zunächst ein
Gleichgewicht geschaffen, das dann gestört ist, wenn deutlich wird, dass die elterliche Zuwendung zu dem Kind unaufrichtig ist, dass das sich bis dahin privilegiert wähnende Kind sich darüber klar wird, dass es benutzt und getäuscht
wurde. Der so »Übertölpelte« kann sich schwer aus dieser Verstrickung herauswinden: »Da er ja gerade deshalb reingelegt wird, weil er sich auf etwas eingelassen hat, von dem er genau weiß, dass es nicht erlaubt ist, kann er dann, wenn er
schließlich vom Mittäter zum Opfer wird, seine Rechte nicht einklagen« (S. 110).
Zu einem symptomatischen Verhalten kommt es dann deswegen, weil »all das,
was bisher geschehen ist und noch geschieht, [sich] einer Verbalisierung fast
vollständig verschließt« (S. 108).
Diese Imbroglio-Hypothese wird an mehreren Familienbeispielen sowie für
Familien mit alleinerziehendem Elternteil und Scheidungsfamilien aufgezeigt.
Sehr bedauerlich ist in diesem Zusammenhang, dass auf andere familiendynamische Konzepte, die bereits früher entwickelt wurden, z. B. das der Mystifizierung, der Doppelbindung sowie der ehelichen Spaltung und der Kommunikationsabweichungen, letztere sind ja auch empirisch sehr gut untersucht, gar
nicht eingegangen wird. Dies sehe ich als absolute Schwäche dieses wie auch
anderer Werke der Arbeitsgruppen um Mara Selvini Palazzoli an. Hier wird
leider so getan, als ob das Rad gänzlich neu erfunden wurde. Die Beschreibungen
dabei sind durchaus plausibel, die Überlegungen und Beobachtungen zum Teil
bestechend. Eine größere kontextuelle Einbindung hätte daher der Darlegung
des Konzeptes überhaupt keinen Abbruch getan – im Gegenteil, es würde davon
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profitieren, zumal sich auch interessante Überlegungen zu neueren Konzepten,
z. B. der Mentalisierung, in der psychodynamischen Psychotherapie ergeben.
Ähnliches gilt für den Begriff der Anstiftung, ein ebenfalls triadisches Konzept:
»Einer stiftet einen anderen gegen einen Dritten an. Die triadische Perspektive
bringt bekanntlich einen expositionellen Zuwachs an Komplexität mit sich«
(S. 145). Auch hier kommt die Erfahrung des Fallen-gelassen-Werdens hinzu: Ein
Vater lockt z. B. seine Tochter mit verführerischen Manövern an, stiftet sie an,
gegen die Frau Stellung zu beziehen, kann aber auf lange Sicht doch nicht verbergen, wer das eigentliche Objekt seiner Wünsche und Begierden ist – nämlich
seine Frau (S. 143). Dabei stiftet der Angestiftete durchaus seinerseits auch
wieder an und auch der Anstifter selbst wird angestiftet, während der Dritte als
ursprünglicher »agent provocateur« gesehen wird, da er den ganzen Kreislauf in
Gang bringt und einen hohen Preis bezahlen muss. Dieses »Spiel« führt zu tragischen Verstrickungen. Das Problem der Anstiftung wird an mehreren Familien,
auch unter mehrgenerationaler Perspektive, dargestellt. Hier gelten ähnliche
kritische Anmerkungen wie in Bezug auf das Konzept des Imbroglio.
Ein weiteres ausführliches Kapitel widmet sich dem Spiel der Eltern und den
damit zusammenhängenden Symptomen der Kinder, wobei der Umgang der
Eltern mit der Verschreibung und das Bestreben, diese wirkungslos zu machen,
ebenfalls dargelegt wird.
In der Diskussion um den Gebrauch der Spielmetapher wird die Bedeutung
individueller Motive neu entdeckt, die im Zuge eines kruden systemischen
Funktionalismus vorher geleugnet wurden. Schließlich wird der Schritt »von einer
geschichtslosen zu einer prozessualen Auffassung von Zirkularität« gemacht. Ein
diachrones Modell des psychotischen Prozesses wird entworfen, das vom elterlichen Patt ausgeht, die Einbeziehung des Kindes in die Interaktion des Elternpaares und schließlich das ungewöhnliche Verhalten des Kindes, das daraus resultiert, dass es erkennt, dass »seine heimliche Parteinahme für den Verlierer
überhaupt nicht fruchtet, da dieser sich dadurch in keiner Weise ermutigt fühlt,
aktiv zu werden« (S. 245). Zunächst werden dann Verhaltensweisen an den Tag
gelegt, die einen ungewöhnlichen, aber noch keinen pathologischen Charakter
haben. Erst die Kehrtwendung des vermeintlichen Verbündeten, die Hinwendung zum anderen Ehepartner führt dann zum Ausbruch der Psychose. Die Rolle
der Geschwister in diesem Prozess wird ebenfalls beleuchtet. Auf ähnliche Weise
wird der anorektische Prozess beschrieben.
Wichtig erscheint mir eine für systemische Psychotherapien bis dahin unbeachtete und von daher in diesem Kontext revolutionäre Fragestellung: Wie wird
aus dem Gespräch mit dem Therapeuten eine intensive emotionale Erfahrung?
Auch die Wahl des richtigen Momentes – wann sollte man wie viel sagen? – spielt
eine Rolle; statt auf Konfrontation wird auf Kooperation gesetzt. Dabei soll der
Gefahr entgangen werden, die Eltern zu Sündenböcken zu stempeln. Unter anderem wird das Vertrauen zum Therapeuten als Voraussetzung für ein Aufbre-
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chen des elterlichen Patts gesehen. Also nicht mehr strikte Neutralität, sondern
eine als hilfreich erlebte Beziehung wird zum therapeutischen Prinzip.
Interessant sind die weiteren Überlegungen unter der Überschrift »Jenseits des
systemischen Modells« (Teil V). Dabei entwickelt sich unter anderem die Frage:
»Ist es möglich, der Verstrickung des Untersuchers in seine eigene Untersuchung
entgegenzuwirken? Lässt es sich verhindern, dass sein Konstrukt den Stempel
seiner persönlichen Eigenarten tragen?« (S. 379). Hiermit wird unter anderem
das angesprochen, was wir in der psychoanalytischen Therapie als Gegenübertragungsphänomene bezeichnen und systematisch zu berücksichtigen versuchen.
Das Buch bietet zahlreiche hervorragende klinische Hinweise zur Dynamik
und zum Umgang in schwierigen Situationen mit schwer gestörten Familien.
Bestechend ist für mich dabei die Suche nach einer familienorientierten Spezifität: Warum wird ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt in diesem interaktiven
Prozess dieses Familienmitglied zum Träger schwerer Symptome? Hinzugefügt
werden muss: Welche Rolle spielt der Symptomträger in diesen Interaktionen
und welche Rolle spielen die Symptome bei der weiteren Entwicklung der Interaktionen?
Schwere seelische Erkrankungen in einen plausiblen interaktionellen Kontext
zu stellen und hierbei andere Ebenen im Sinne des bio-psycho-sozialen Modells
zu berücksichtigen, ist weiterhin eine nicht gelöste Aufgabe. Bedauerlich ist der
Rückzug vieler systemischer Therapeuten aus diesem Anspruch aus der meines
Erachtens falsch verstandenen Angst, irgendein Familienmitglied könnte zum
Sündenbock gemacht werden.
Bedauerlich ist zudem, dass die klinischen Beobachtungen und Beschreibungen nicht in einen größeren Kontext familiendynamischer und familientherapeutischer Forschung zu schweren Störungen gestellt werden.2 Man hat etwas den
Eindruck, die Gruppen um Mara Selvini Palazzoli haben auf ihrem eigenen
Planeten gelebt. Eine Kontextualisierung ihrer wertvollen Erkenntnisse steht
noch aus, z. B. eine Einbindung in die finnische Adoptionsstudie zur Schizophrenie, die wesentlich von Lyman Wynne3 mitgetragen wurde, und die – wenn
2 Bentall, R. P. (2003). Madness explained. Psychosis and human nature. London:
Penguin Books.
Johnstone, L. (2009). Verursachen Familien Schizophrenie? Ein Tabuthema neu überdenken. Kontext, 40, 341 – 356.
3 Wynne, L. C., Singer, H. T. (1965). Denkstörung und Familienbeziehung bei Schizophrenen. Psyche, 19, 82 – 160.
Wynne, L. C., Tienari, P. et al. (2006). Genotype-Environment Interaction in the schizophrenia spectrum: Genetic liablity and global family ratings in the finnish adoption
study. Family Process, 45, 419 – 434.
Wahlberg, K. E., Wynne, L. C., Hakko, H. et al. (2004). Interaction of genetic risk and
adoptive parent communication deviance: longitudinal prediction of adoptee psychiaric
disorder. Psychological Medicine, 34, 1531 – 1541.
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auch unspezifische – Bedeutung von Kommunikationsabweichungen für die
Entstehung schwerer Störungen, ebenso die Einbindung dieser Ergebnisse in
neuere psychoanalytische Konzepte, z. B. das bereits Erwähnte der Mentalisierung (Fonagy et al., 20044).
Korrespondenzadresse: Prof. Dr. Günter Reich, Georg-August-Universität Göttingen,
Abteilung Psychosomatik und Psychotherapie, Schwerpunkt Familientherapie, Humboldtallee 38, 37073 Göttingen, E-Mail:[email protected]
4 Fonagy, P., Gergely, G., Jurist, E. L., Target, M. (2004). Affektregulierung, Mentalisierung und die Entwicklung des Selbst. Stuttgart: Klett-Cotta.
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