Mit der inklusiven Brille sieht man schärfer! Bibeltexte neu gelesen

Mit der inklusiven Brille sieht
man schärfer!
Bibeltexte neu gelesen
Dr. Rita Müller-Fieberg
Institut für Lehrerfortbildung
Essen-Werden
„Die gegenwärtige Forderung nach
Inklusion, verstanden als Menschenrecht,
wurde dem Christentum keineswegs in
die Wiege gelegt. Das Anliegen und der
Diskurs um Inklusion, wie er aktuell
geführt wird, ist den biblischen Texten
fremd und auch nicht linear auf die
Botschaft Jesu übertragbar. Schon gar
nicht lassen sich aus einzelnen Texten
direkte Folgerungen für die Gestaltung
des Bildungssystems ableiten. “
Sabine Pemsel-Maier
Dr. Rita Müller-Fieberg
Zwei Lektüregänge mit
„inklusiver Brille“:
1. Der implizite rote
Faden der Bejahung
von Inklusion in der
Bibel
2. Sich im Gewohnten
hinterfragen lassen –
eine traditions- und
selbstkritische
Lektüre
Conrad von Soest, „Brillenapostel“,
Bad Wildungen (1403)
Dr. Rita Müller-Fieberg
Biblische Grundlinien
• Gen 1,1-2,4a: Schöpfung in gewollter Vielfalt
• Ex 4,10-17: Berufen sein – so wie man ist
• 1 Kor 12: Leib Christi – Gemeinschaft in
Verschiedenheit
• Mk 3,3; Mk 9,36: Vom Rand in die Mitte gestellt
• Mk 7,24-30: Jesus lernt „Inklusion“
• Bilder ersehnter Einheit in Vielfalt:
Völkerwallfahrt (z.B. Jes 2,1-5), Reich Gottes,
neues Jerusalem (Offb 21,1-22,5)
Dr. Rita Müller-Fieberg
Ulrich Bach: „Theologie nach Hadamar“
„Jeder Mensch, auch der
Schwerstbehinderte, ist ein
so von Gott geschaffenes
Geschöpf. […] jeder
Mensch, auch der scheinbar
völlig Gesunde [hat]
Grenzen, Schwächen,
Ängste. Das Defizitäre
gehört für mich in die
Definition des Humanum.“
Dr. Rita Müller-Fieberg
Nancy Eiesland: „Dem behinderten
Gott begegnen“
Lk 24,38-39
38 Da sagte er zu ihnen: Was seid ihr
so bestürzt? Warum lasst ihr in eurem
Herzen solche Zweifel aufkommen?
39 Seht meine Hände und meine
Füße an: Ich bin es selbst. Fasst mich
doch an und begreift: Kein Geist hat
Fleisch und Knochen, wie ihr es bei
mir seht.
„Der auferstandene Christus
der christlichen Tradition ist
ein behinderter Gott.“
Dr. Rita Müller-Fieberg
Dorothee Wilhelm: „ ‚Normal‘ werden
– war‘s das?“
„Einzelne Menschen mit Behinderung werden wieder
‚normal‘. Auf diese Weise wird ihnen Zukunft eröffnet.
Die Zukunft, die in den biblischen Heilungsgeschichten
gewährt wird, ist aber zu eng. Der Fehler liegt im
Körper der Abweichenden, nicht in der Umgebung. Die
kann bleiben, wie sie ist […] Das nenne ich
Normalisierung: Anpassung der Abweichenden an das,
was als Normalität gilt. […] Nichts geschieht – ausser
im Körper der Ausgegrenzten. Damit kann das Problem
weiterhin als Problem des betroffenen Körpers
betrachtet werden, nicht als Problem einer Umwelt, die
nur bestimmte menschliche Lebensformen erträgt und
gut heisst.“
Dr. Rita Müller-Fieberg
Disability als hermeneutische
Leitkategorie biblischer Exegese
„Disability als hermeneutische Leitkategorie
biblischer Exegese will die ungestörte
Normalisierungslektüre aufbrechen, nicht aber um
die Abweichung, den Störfall in den Blick zu
nehmen, sondern um unhinterfragte Differenzkategorien zu dekonstruieren und für eine auf
Vielfalt und Differenz hin offene Lektüre zu
sensibilisieren.“
Markus Schiefer Ferrari
Grünstäudl, Wolfgang/Schiefer Ferrari, Markus, Gestörte Lektüre. Disability als hermeneutische
Leitkategorie biblischer Exegese (Behinderung – Theologie – Kirche 4) Stuttgart 2012.
Dr. Rita Müller-Fieberg
Beispiel A: Lk 14,12-14
14,12 Dann sagte er zu dem Gastgeber: Wenn du
mittags oder abends ein Essen gibst, so lade nicht
deine Freunde oder deine Brüder, deine Verwandten
oder reiche Nachbarn ein; sonst laden auch sie dich
ein, und damit ist dir wieder alles vergolten.
13 Nein, wenn du ein Essen gibst, dann lade Arme,
Krüppel, Lahme und Blinde ein.
14 Du wirst selig sein, denn sie können es dir nicht
vergelten; es wird dir vergolten werden bei der
Auferstehung der Gerechten.
Dr. Rita Müller-Fieberg
Einige Deutungsstrategien von Behinderung
(nach M. Schiefer Ferrari)
Deutungsstrategien
Differenzvorstellung
Kontrastierung
Menschen mit Behinderung werden Menschen ohne
Behinderung gegenübergestellt.
Subsumierung
Menschen mit Behinderung werden unter einer sozial
isolierten Gruppe zusammengefasst
Infantilisierung
Menschen mit Behinderung werden sämtliche
Fähigkeiten und Kompetenzen abgesprochen.
Anonymisierung
Menschen mit Behinderung werden nicht als einzelne
Individuen wahrgenommen.
Funktionalisierung
Menschen mit Behinderung werden für Anliegen von
Menschen ohne Behinderung instrumentalisiert.
Stigmatisierung
Menschen mit Behinderung werden pauschal Defizite in
verschiedenen Lebensbereichen zugesprochen.
Ethisierung
Menschen mit Behinderung dienen als Aufforderung
zum Engagement für Ausgegrenzte.
Dr. Rita Müller-Fieberg
Beispiel B: Joh 5,1-16
Der Kranke blickt zurück:
• Was mich gefreut hat…
• Was mich geärgert hat…
Dr. Rita Müller-Fieberg
Beispiel B: Joh 5,1-16
5,1 Einige Zeit später war ein Fest der Juden und Jesus ging hinauf
nach Jerusalem. 2 In Jerusalem gibt es beim Schaftor einen Teich, zu
dem fünf Säulenhallen gehören; dieser Teich heißt auf Hebräisch
Betesda. 3 In diesen Hallen lagen viele Kranke, darunter Blinde, Lahme
und Verkrüppelte. […] 5 Dort lag auch ein Mann, der schon
achtunddreißig Jahre krank war. 6 Als Jesus ihn dort liegen sah und
erkannte, dass er schon lange krank war, fragte er ihn: Willst du
gesund werden? 7 Der Kranke antwortete ihm: Herr, ich habe keinen
Menschen, der mich, sobald das Wasser aufwallt, in den Teich trägt.
Während ich mich hinschleppe, steigt schon ein anderer vor mir hinein.
8 Da sagte Jesus zu ihm: Steh auf, nimm deine Bahre und geh! 9
Sofort wurde der Mann gesund, nahm seine Bahre und ging. Dieser Tag
war aber ein Sabbat. 10 Da sagten die Juden zu dem Geheilten: Es ist
Sabbat, du darfst deine Bahre nicht tragen. 11 Er erwiderte: Der Mann,
der mich gesund gemacht hat, sagte zu mir: Nimm deine Bahre und
geh! 12 Sie fragten ihn: Wer ist das denn, der zu dir gesagt hat: Nimm
deine Bahre und geh? 13 Der Geheilte wusste aber nicht, wer es war.
Jesus war nämlich weggegangen, weil sich dort eine große
Menschenmenge angesammelt hatte. 14 Später traf ihn Jesus im
Tempel und sagte zu ihm: Jetzt bist du gesund; sündige nicht mehr,
damit dir nicht noch Schlimmeres zustößt. 15 Der Mann ging fort und
teilte den Juden mit, dass es Jesus war, der ihn gesund gemacht hatte.
16 Daraufhin verfolgten die Juden Jesus, weil er das an einem Sabbat
getan hatte.
Dr. Rita Müller-Fieberg
Ein Fazit
• Aufeinander hören
• Sich im Gewohnten stören lassen
• Voneinander lernen
• Gemeinsam auf dem Weg sein
Vielen Dank
für Ihre Aufmerksamkeit!
Dr. Rita Müller-Fieberg