Geschichte SRK 1942-2002: Frankreich erinnert sich an die humanitäre Schweiz Wie der Bergier-Bericht zeigt, hat die offizielle Schweiz vor einigen Jahren begonnen, ihre Geschichte aufzuarbeiten. Diese Erinnerungsarbeit ist auch wegen der Kontroversen, die sie auslöst, zuweilen schwierig. Nun setzt sich auch Frankreich, das bisher nicht bereit war, sich seiner Geschichte zu stellen, mit seiner Vergangenheit auseinander. So wurde kürzlich die humanitäre Schweiz für ihre Arbeit geehrt, die sie während des Zweiten Weltkriegs in der Region von Perpignan geleistet hat. Unter anderem hatte sich damals auch die Kinderhilfe des Schweizerischen Roten Kreuzes in Frankreich engagiert. In den französischen Zeitungen erscheinen gegenwärtig zahlreiche Artikel, Berichte von Zeitzeugen und Kommentare zum Algerienkrieg. Gleichzeitig gehen unsere Nachbarn auch in zunehmendem Mass ein weiteres schwarzes Loch der französischen Geschichte an, die kollektive Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg. Dafür lassen sich zahlreiche Beispiele anführen: Auf Initiative des Lycée Maillol in Perpignan begeben sich französische und deutsche Studenten auf die Spuren von vier jüdischen Kindern, die nach Auschwitz deportiert wurden und dort umkamen. Die Behörden der Region Languedoc-Roussillon planen die Errichtung einer Gedenkstätte in Rivesaltes, einem Internierungslager im Süden Frankreichs, in dem grauenhafte Zustände herrschten. Die Gemeindeverwaltung von Elne, südlich von Perpignan, organisiert Gedenkveranstaltungen zu Ehren der Schweizer Kinderschwester Elisabeth Eidenbenz. Diese temperamentvolle Frau verhalf in der Entbindungsklinik von Elne Hunderten von Frauen, die in den umliegenden Lagern gefangengehalten wurden, zu einer Geburt unter akzeptablen Bedingungen. Die lokale Bevölkerung beginnt zu entdecken, dass sich in ihrer Region Dutzende von überwachten Internierungslagern "verbargen", in denen "unerwünschte Personen" zusammengepfercht wurden... "Die Täter sind die anderen" Viele beginnen auch zu erkennen, dass die Greueltaten entgegen der bisherigen Annahmen nicht nur von den Deutschen begangen wurden. Denn es waren die offiziellen französischen Behörden, die diese Lager führten. Und obwohl auf den Erinnerungstafeln die Verantwortung für den Machtmissbrauch der Gestapo zugeschrieben wird, sollte nicht vergessen werden, dass sowohl die Aufseher und die Soldaten als auch das Milizpersonal Franzosen waren. Friedel Bohny-Reiter, die von November 1941 bis November 1942 als Krankenschwester der Kinderhilfe im Lager von Rivesaltes arbeitete, berichtet über ein schreckliches Erlebnis: "Einmal sah ich eine Protestantin aus Belgien, die mit ihren beiden Kindern ins Lager kam, um ihren jüdischen Mann zu finden. Es fehlten drei Personen, damit ein Konvoi abfahren konnte. So verluden die Aufseher diese Frau und ihre beiden Kinder. Ich hörte sie schreien: "Ich bin keine Jüdin!" Ich flehte die Aufseher an: "Das können Sie doch nicht machen. Geben Sie mir diese Frau und die Kinder heraus!" Sie erwiderten: "Bringen Sie mir drei Personen, der Konvoi muss in einer Stunde abfahren (...). Noch heute höre ich die verzweifelten Schreie..." Elisabeth Eidenbenz wurde von der Gedenkstätte Yad Vashem (siehe Kasten) mit dem Ehrentitel "Gerechte unter den Völkern" ausgezeichnet, und die Stadt Elne hat sie zur Ehrenbürgerin ernannt. In ihrer kurzen Dankesrede wies sie darauf hin, dass es möglich gewesen wäre, noch mehr zu tun. Sie kritisierte jedoch auch die Verantwortlichen für ihre Zugeständnisse gegenüber den Machthabern, die damals ganz oder fast ganz Europa beherrschten. Aufarbeitung der Geschichte Die Feierlichkeiten fanden am Wochenende vor Ostern in Elne statt. Sie belegen, dass die Behörden der Region und das Schweizerische Rote Kreuz (SRK), damals der wichtigste Träger der internationalen humanitären Hilfe in dieser Region, gewillt sind, nicht nur die Geschichte aufzuarbeiten, sondern auch die Lehren für die Gegenwart und die Zukunft zu ziehen. Daniel Biedermann, Direktor des SRK, erklärte dazu: "Mit der Errichtung einer Gedenkstätte am Ort dieser tragischen Ereignisse soll nicht nur an die damaligen Geschehnisse erinnert werden, sondern auch eine Lehre daraus gezogen werden, die sich vor allem an die Jugend Frankreichs und Europas richtet. Das Rote Kreuz leistet dazu einen aktiven Beitrag, indem es seine Archive öffnet und die Ergebnisse seiner Forschungsarbeiten bekanntgibt. Wir sollten nicht vergessen, dass die Ereignisse vor 60 Jahren auch heute noch aktuell sind, da sie Fragen aufwerfen, die weiterhin gelten: nach der Macht des Gesetzes, nach den Erfordernissen der Gerechtigkeit und nach den Pflichten des Gewissens." Diese Erinnerungsarbeit, die ohne radikale Selbstkritik nicht möglich ist, blieb auch bei unseren Nachbarn nicht unbemerkt, wie der Verantwortliche des Collectif Rivesaltes, Claude Vauchez, festhielt: "Unsere Freunde aus der Schweiz und vom Roten Kreuz sind uns bei der Aufarbeitung der Geschichte mit dem guten Beispiel vorangegangen, dem wir Franzosen nun folgen sollten." In ihrer Grussbotschaft, die von Daniel Biedermann verlesen wurde, wies Bundesrätin Ruth Dreifuss auf die Ambivalenz der schweizerischen Wirklichkeit und auf die Charakterstärke einiger bemerkenswerter Menschen hin: "Dieses Land bildete sich auf Werte wie die humanitäre Tradition, die Neutralität und die Demokratie etwas ein. Gleichzeitig verhärtete es sich in seinen Bestrebungen, sich vor den Schrecken des Krieges zu bewahren. Vom Bestreben, sich selbst zu schützen, liessen sich auch grosse Institutionen wie das SRK und das IKRK leiten..." Deshalb sei es gut, ab und zu die Erinnerung an Frauen und Männer hochzuhalten, deren Engagement auf keinem anderen Beweggrund beruht habe als auf dem Einsatz für die Gerechtigkeit und die Menschenrechte. Stéphane Gillioz, SRK
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