SPEZIAL F Wiederaufbau hinter der Mauer Wie hat sich die vom Tsunami betroffene Region in Tohoku fünf Jahre nach der Katastrophe entwickelt? Eine 400 Kilometer lange Reise entlang der Küste, von Hachinohe nach Onagawa. Von Sonja Blaschke 44 J A PA N M A R K T N r.2 2016 – Mär z/April ünf Jahre nach dem 11. März 2011, an dem ein durch eines der heftigsten je gemessenen Erdbeben ausgelöster Tsunami hunderte Kilometer der japanischen Ostküste zerstörte, sind viele betroffene Gegenden nicht mehr wiederzuerkennen. Erdaufschüttungen, gerodete Waldflächen, abgetragene Hügel, hohe Tsunamimauern und eine breite Autobahn auf Stelzen, die die Berge im Hinterland entlang der Küste durchbohrt – sie beginnen der Region ein völlig neues Gesicht zu geben. Wie dieses am Ende genau aussieht, werden erst die nächsten Jahre zeigen. Der Wiederaufbau der Wohngebiete steht entweder noch bevor oder hat gerade erst begonnen. Während manche ausharren und auf eine „Wiedergeburt“ ihrer Heimat warten, haben andere die Hoffnung aufgegeben. Sie ziehen weg von der Küste, häufig ins Landesinnere ihrer Heimatpräfektur. Überall in Tohoku steigen die Preise für Grundstücke und Baumaterial, noch mehr seit der Vergabe der Olympischen Sommerspiele an Tokyo. Handwerker und Baufirmen sind knapp. Eine Autofahrt von 400 Kilometern entlang der Küste von Hachinohe in der Präfektur Iwate bis nach Onagawa in der Präfektur Miyagi macht deutlich, wie unterschiedlich die betroffenen Städte und Gemeinden mit den Folgen der Zerstörungswut des Tsunamis umgehen. Zugleich zeigt sich ein gemeinsamer Trend: Die meisten haben sich für das Modell Erdauf- 7 Der Bau der Schutzmauern entlang dem Großteil der Küste geht stetig voran. 3 Vor einem verlassenen Gebäude stehen Jizo-Statuen als Gedenken and die Opfer. schüttung in Kombination mit einer hohen Schutzmauer im oder am Meer entschieden. Fudai (Präfektur Iwate): Trotz der Mauer fliehen Yasuhiko Morita steht vor einem Whiteboard und malt Wellenformen auf. Je nachdem, wo sich eine Person an Land befände, stelle sich eine Welle unterschiedlich dar, sagt er und zeigt auf ein Strichmännchen, das er gerade skizziert hat. Der 49-Jährige kennt sich seit Kindestagen mit Wind und Wellen aus. Er half oft seinem Vater, einem Fischer, bei der Arbeit. „Es sind nur wenige Fischer gestorben, sie leben gut mit der Natur“, sagt Morita über den schicksalhaften Tag vor fünf Jahren, der rund 18.500 Menschen das Leben kostete. Die meisten starben durch Tsunami, Wasserwände, die das Erdbeben der Stärke 9,0 ausgelöst hatte. Morita, Verwaltungsdirektor in Fudai, vermisst bei den Bewohnern das Bewusstsein, zu fliehen. Stattdessen würden diese auf einen Evakuierungsbefehl warten. „Das größte Problem ist, dass man inzwischen den Katastrophenschutz den Behörden überlassen hat“, sagt der Behördenvertreter. „Wer am ehesten flieht – das sind die Omas und Opas.“ Dass beim Tsunami 2011 nur ein Bewohner von Fudai starb, haben die knapp 3.000 Einwohner einem weitsichtigen wie starrköpfigen früheren Bürgermeister zu verdanken. Dieser bestand in den achtziger Jahren auf einer rund 15 Meter hohen Schutzmauer. Die Betonblöcke, die von Talwand zu Talwand reichen, hielten stand und schwächten die Wucht des Tsunamis ab. Damit ist Fudai eine Ausnahme in Tohoku, wo die meisten Tsunami-Schutzmauern zerstört wurden. Ein Modell für die Nachbarorte sei Fudai dennoch nicht, auch aufgrund der hohen Kosten für den Bau. „Wir hatten geographisch einfach Glück“, sagt Morita über sein Dorf, das sich hinter einer schmalen Mündung zur See erstreckt und nur einen kleinen Fischerhafen in einer Nachbarbucht hat. Auch dort schützte eine Mauer die Bewohner. Schutzmauern sollten nur gebaut werden, wenn man den Menschen das Versprechen abnehme, nach einem starken Beben sofort zu fliehen, sagt Morita. Denn so, wie es oft in den Medien geschrieben stehe, dass die Leute nun sicher seien und sich sicher fühlen könnten, sei es nicht. „Man baut Mauern ja dort, wo es gefährlich ist“, so Morita. Otsuchi (Präfektur Iwate): Sicher bei den Ahnengräbern Ein Video auf YouTube, gefilmt von einem Anwohner, zeigt die dramatischen letzten Minuten der Kleinstadt Otsuchi, als die Wellen Gebäude zermalmen und Autos wegspülen. Im Vordergrund sind einige Ahnengräber zu sehen. Diese sind noch heute an dieser Stelle. Überhaupt erwiesen sich die häufig hoch gebauten Tempel und Grabstädten als gute Zufluchtsorte vor dem Tsunami und retteten vielen das Leben. Abgesehen von dem großen Friedhof am Rand der Bucht, wo heute ein ewiges Licht für die Opfer flackert, ist in Otsuchi so gut wie nichts mehr, wie es einmal war. Wo früher Häuser dicht an dicht standen, sind heute nur noch großflächige Erdaufschüttungen. Wie überall in Tohoku dominieren schwere Baufahrzeuge das Bild. Hier und dort stehen wenige schnell aufgebaute Convenience Stores oder Tankstellen. Außer Arbeitern ist kaum jemand unterwegs. Kamaishi (Präfektur Iwate): Wer kann, zieht weg. Machiko Kikuchi steht wie vor der Katastrophe fast jeden Tag in ihrem Laden in einer Einkaufspassage am frisch renovierten Bahnhof von Kamaishi. Dort verkauft sie zum Beispiel Wakame-Seetang aus der Region oder mit Jakobsmuscheln und N r.2 2016 – Mär z/April J A PA N M A R K T 45 Copyright aller Fotos: Sonja Blaschke SPEZIAL Seeigel gefüllten Tintenfisch. Es ist kaum vorstellbar, dass die Wassermassen selbst dort, weit über dem Hafen, für nasse Füße sorgten. Doch das war vor fünf Jahren das geringste Problem von Kikuchi. Ihre kleine zweistöckige Fabrik mit mehreren Kühlkammern befand sich im Hafen, das Familiengrundstück ist gerade 50 Meter vom Meer entfernt. Von ihrem Wohnhaus blieb nichts. Die Fabrik überstand den Tsunami, wenn auch stark beschädigt. Tore waren verbogen, alles stank, Maschinen waren unbrauchbar. Notdürftig reparierten sie nach der Katastrophe das Wichtigste, kaum genug, um vernünftig arbeiten zu können. Wann der richtige Wiederaufbau beginnen kann, ist noch heute ungewiss. Eigentlich sollte sie zum März 2016 umziehen, aber der Zielort sei noch nicht bereit für einen Wiederaufbau, sagt Kikuchi. Hinzu kommt, dass neue Konkurrenz von Supermärkten wie AEON sowie der massive Bevölkerungsschwund ihre Umsätze drastisch schrumpfen lassen. „Wer kann, zieht weg“, beobachtete sie. Die meisten würden ins Landesinnere ziehen, am liebsten nach Kitakami oder Hanamaki, die ans Shinkansen-Netz angeschlossen sind. Für die Familie der Unternehmerin steht der Wegzug nicht zur Debatte. Auch das Grundstück, das der Familie ihres Mannes gehört, wollen sie behalten, auch wenn sie es nicht mehr bebauen dürfen. Es sei doch das Land der Vorfahren. 46 J A PA N M A R K T N r.2 2016 – Mär z/April Am alles in allem eher düsteren Bild in der früher relativ reichen Stadt und Heimat des Stahlherstellers Nippon Steel, ändern auch zwei Lichtblicke in letzter Zeit wenig. Zum einen nahm die UNESCO die Überreste eines historisch bedeutsamen Hochofens in der Nähe von Kamaishi ins Weltkulturerbe auf, was gemeinhin als Garant für mehr Touristen gilt. Zum anderen bekam Kamaishi den Zuschlag, 2019 einen Teil der Rugby-Weltmeisterschaft auszurichten. Schon heute wirbt ein Schild am Bahnhof dafür. Dass das signifikant etwas an der Lage in Kamaishi ändern soll, bezweifelt Kikuchi. Onagawa (Präfektur Miyagi): Wiederaufbau ohne Mauer In den Ebenen nah am Meer ist vielerorts inzwischen wieder Betrieb. Entweder bauen Arbeiter dort riesige Tsunamischutzmauern – manchmal ohne ein zu schützendes Dorf in Sichtweite – oder es drängen sich dort wieder, wie schon zuvor, Markthallen und verarbeitende Betriebe für Fisch und Meeresfrüchte. Von diesen hätten nach Angaben der Behörde für Wiederaufbau rund 85 Prozent den Neuanfang geschafft. Die Fischindustrie gehört neben der Landwirtschaft seit jeher zu den wichtigsten Branchen der ländlichen Region Tohoku. So war das auch in Onagawa, einer Kleinstadt östlich von Sendai. Diese wurde damals zu etwa 80 Prozent zerstört. Nur wenige Betonruinen verblieben dort, wo einmal die Innenstadt Am liebsten würden sie entlang der ganzen Küste zehn Meter hohe Mauern aufstellen war. Dank großzügiger Spenden, nicht zuletzt aus dem Ausland, ist im Hafen von Onagawa wieder viel los. Mehrere größere Fabrikgebäude wurden hochgezogen. Diese und das nahegelegene gleichnamige AKW sind die größten Arbeitgeber der Region. Anders als in Otsuchi ist es inzwischen wieder möglich, mit der Bahn nach Onagawa zu fahren – auch wenn es nur drei Züge pro Tag gibt. Diese kommen an einem eleganten Holzgebäude mit einem geschwungenen Dach an, designt von dem Pritzker-Preis-gekrönten japanischen Architekten Shigeru Ban. Im zweiten Stock ist ein Onsen-Bad und im dritten eine Aussichtsterrasse. Der Blick aufs Meer ist in Onagawa unverstellt, und so soll das auch bleiben. Schnell hatte man sich in Onagawa gegen riesige Betonwälle am Meer entschieden, wie sie inzwischen an den meisten Orten in Tohoku in der einen oder anderen Form gebaut werden. Die schnelle Entscheidung beschleunigte den Wiederaufbau. Hinzu kommt, dass Onagawa relativ kompakt ist und schon zuvor vergleichsweise wohlhabend war, dank des AKW. Andernorts gibt der Staat die Richtung vor. „Am liebsten würden sie entlang der ganzen Küste zehn Meter hohe Mauern aufstellen und überall die gleiche Messlatte anlegen“, sagt der Fudai-Beamte Morita. Doch das greife zu kurz. Es sei sinnvoller, sich an der Höhe vergangener Tsunami zu orientieren und zwei, drei Meter zuzugeben. Er fordert vom Wetteramt, das die Tsunamivorhersagen macht, dabei nicht nur Daten von vor 100 Jahren zu berücksichtigen, sondern die der letzten 1000 Jahre. „Das Wetteramt dachte früher, basierend auf Daten der letzten 100 Jahre, dass Beben der Stärke 9 in Japan unmöglich seien.“ ■ Sonja Blaschke ist freie Journalistin und Producerin in Tokyo. www.sonjablaschke.de Wiederaufbau: Status Quo Die Folgen des Tsunami sowie die Sicherheitsvorkehrungen um das havarierte Atomkraftwerk Fukushima Daiichi zwangen 2011 über 470.000 Bewohner zur Evakuierung. Bis zum Dezember 2015 ist die Zahl der Evakuierten auf 180.000 gesunken, von denen im November 2015 nach Angaben der Wiederaufbaubehörde rund ein Drittel in Übergangsunterkünften lebten. Der Neubau von rund 120.000 Häusern in Tohoku löste in der Baubranche einen Boom aus. Von 30.000 geplanten Sozialwohnungen sollen bis Ende März 2016 knapp 60 Prozent fertiggestellt sein. Rund 20.000 private Wohnhäuser werden auf höheren Gebieten neu gebaut; davon sollen laut Behördenangaben bis Ende März 2016 rund 45 Prozent fertig sein. In Gemeinden, die besonders stark von der Katastrophe betroffen waren, zum Beispiel Rikuzentakata, Kesennuma und Onagawa, kann es noch bis 2018 dauern, bis alle Bauprojekte abgeschlossen sind. Auf Seiten der öffentlichen Gebäude ist der Wiederaufbau fast fertig: Rund 90% der zerstörten Schulen und medizinischen Einrichtungen sind wiederhergestellt. Die Infrastruktur in Form von Gas, Wasser und Strom sind schon seit wenigen Monaten nach der Katastrophe in weiten Teilen wieder funktionsfähig. Das gilt jedoch nicht für die Straßen in den betroffenen Gebieten. Viele der Verkehrswege weisen Schlaglöcher und unzureichende Markierungen auf. Gleichzeitig sind mehrere Brücken und Tunnel im Bau, um die zerstörten oder beschädigten Schnellstraßen zu ersetzen. Die regionale Wirtschaft ist weiterhin hart getroffen. Vor allem die Fischverarbeitungsindustrie erholt sich nur langsam: der bedeutende Wirtschaftszweig setzt heute lediglich 30% des Werts vor dem Tsunami um. Branchenübergreifend erreichten bisher nur 45% der Unternehmen das Umsatzniveau von vor fünf Jahren. N r.2 2016 – Mär z/April J A PA N M A R K T 47
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