Aufbau: Langsam aber stetig

SPEZIAL
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Wiederaufbau
hinter der Mauer
Wie hat sich die vom Tsunami betroffene Region in Tohoku fünf Jahre nach
der Katastrophe entwickelt? Eine 400
Kilometer lange Reise entlang der
Küste, von Hachinohe nach Onagawa.
Von Sonja Blaschke
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ünf Jahre nach dem 11. März 2011, an dem ein durch eines
der heftigsten je gemessenen Erdbeben ausgelöster Tsunami hunderte Kilometer der japanischen Ostküste zerstörte, sind
viele betroffene Gegenden nicht mehr wiederzuerkennen. Erdaufschüttungen, gerodete Waldflächen, abgetragene Hügel, hohe
Tsunamimauern und eine breite Autobahn auf Stelzen, die die
Berge im Hinterland entlang der Küste durchbohrt – sie beginnen der Region ein völlig neues Gesicht zu geben. Wie dieses
am Ende genau aussieht, werden erst die nächsten Jahre zeigen.
Der Wiederaufbau der Wohngebiete steht entweder noch
bevor oder hat gerade erst begonnen. Während manche ausharren und auf eine „Wiedergeburt“ ihrer Heimat warten, haben
andere die Hoffnung aufgegeben. Sie ziehen weg von der Küste,
häufig ins Landesinnere ihrer Heimatpräfektur. Überall in
Tohoku steigen die Preise für Grundstücke und Baumaterial,
noch mehr seit der Vergabe der Olympischen Sommerspiele an
Tokyo. Handwerker und Baufirmen sind knapp.
Eine Autofahrt von 400 Kilometern entlang der Küste von
Hachinohe in der Präfektur Iwate bis nach Onagawa in der
Präfektur Miyagi macht deutlich, wie unterschiedlich die betroffenen Städte und Gemeinden mit den Folgen der Zerstörungswut des Tsunamis umgehen. Zugleich zeigt sich ein gemeinsamer Trend: Die meisten haben sich für das Modell Erdauf-
7 Der Bau der Schutzmauern entlang dem
Großteil der Küste geht stetig voran.
3 Vor einem verlassenen Gebäude
stehen Jizo-Statuen als Gedenken and die Opfer.
schüttung in Kombination mit einer hohen Schutzmauer im
oder am Meer entschieden.
Fudai (Präfektur Iwate): Trotz der Mauer fliehen
Yasuhiko Morita steht vor einem Whiteboard und malt Wellenformen auf. Je nachdem, wo sich eine Person an Land befände,
stelle sich eine Welle unterschiedlich dar, sagt er und zeigt auf
ein Strichmännchen, das er gerade skizziert hat. Der 49-Jährige
kennt sich seit Kindestagen mit Wind und Wellen aus. Er half
oft seinem Vater, einem Fischer, bei der Arbeit. „Es sind nur
wenige Fischer gestorben, sie leben gut mit der Natur“, sagt
Morita über den schicksalhaften Tag vor fünf Jahren, der rund
18.500 Menschen das Leben kostete. Die meisten starben durch
Tsunami, Wasserwände, die das Erdbeben der Stärke 9,0 ausgelöst hatte.
Morita, Verwaltungsdirektor in Fudai, vermisst bei den
Bewohnern das Bewusstsein, zu fliehen. Stattdessen würden
diese auf einen Evakuierungsbefehl warten. „Das größte Problem ist, dass man inzwischen den Katastrophenschutz den
Behörden überlassen hat“, sagt der Behördenvertreter. „Wer am
ehesten flieht – das sind die Omas und Opas.“
Dass beim Tsunami 2011 nur ein Bewohner von Fudai
starb, haben die knapp 3.000 Einwohner einem weitsichtigen
wie starrköpfigen früheren Bürgermeister zu verdanken. Dieser
bestand in den achtziger Jahren auf einer rund 15 Meter hohen
Schutzmauer. Die Betonblöcke, die von Talwand zu Talwand
reichen, hielten stand und schwächten die Wucht des Tsunamis
ab. Damit ist Fudai eine Ausnahme in Tohoku, wo die meisten
Tsunami-Schutzmauern zerstört wurden.
Ein Modell für die Nachbarorte sei Fudai dennoch nicht,
auch aufgrund der hohen Kosten für den Bau. „Wir hatten geographisch einfach Glück“, sagt Morita über sein Dorf, das sich
hinter einer schmalen Mündung zur See erstreckt und nur einen
kleinen Fischerhafen in einer Nachbarbucht hat. Auch dort
schützte eine Mauer die Bewohner.
Schutzmauern sollten nur gebaut werden, wenn man den
Menschen das Versprechen abnehme, nach einem starken
Beben sofort zu fliehen, sagt Morita. Denn so, wie es oft in den
Medien geschrieben stehe, dass die Leute nun sicher seien und
sich sicher fühlen könnten, sei es nicht. „Man baut Mauern ja
dort, wo es gefährlich ist“, so Morita.
Otsuchi (Präfektur Iwate): Sicher bei den Ahnengräbern
Ein Video auf YouTube, gefilmt von einem Anwohner, zeigt die
dramatischen letzten Minuten der Kleinstadt Otsuchi, als die
Wellen Gebäude zermalmen und Autos wegspülen. Im Vordergrund sind einige Ahnengräber zu sehen. Diese sind noch
heute an dieser Stelle. Überhaupt erwiesen sich die häufig hoch
gebauten Tempel und Grabstädten als gute Zufluchtsorte vor
dem Tsunami und retteten vielen das Leben.
Abgesehen von dem großen Friedhof am Rand der Bucht,
wo heute ein ewiges Licht für die Opfer flackert, ist in Otsuchi
so gut wie nichts mehr, wie es einmal war. Wo früher Häuser
dicht an dicht standen, sind heute nur noch großflächige Erdaufschüttungen. Wie überall in Tohoku dominieren schwere
Baufahrzeuge das Bild. Hier und dort stehen wenige schnell aufgebaute Convenience Stores oder Tankstellen. Außer Arbeitern
ist kaum jemand unterwegs.
Kamaishi (Präfektur Iwate): Wer kann, zieht weg.
Machiko Kikuchi steht wie vor der Katastrophe fast jeden Tag
in ihrem Laden in einer Einkaufspassage am frisch renovierten
Bahnhof von Kamaishi. Dort verkauft sie zum Beispiel Wakame-Seetang aus der Region oder mit Jakobsmuscheln und
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Copyright aller Fotos: Sonja Blaschke
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Seeigel gefüllten Tintenfisch. Es ist kaum vorstellbar, dass die
Wassermassen selbst dort, weit über dem Hafen, für nasse Füße
sorgten. Doch das war vor fünf Jahren das geringste Problem
von Kikuchi. Ihre kleine zweistöckige Fabrik mit mehreren
Kühlkammern befand sich im Hafen, das Familiengrundstück
ist gerade 50 Meter vom Meer entfernt. Von ihrem Wohnhaus
blieb nichts. Die Fabrik überstand den Tsunami, wenn auch
stark beschädigt. Tore waren verbogen, alles stank, Maschinen
waren unbrauchbar.
Notdürftig reparierten sie nach der Katastrophe das Wichtigste, kaum genug, um vernünftig arbeiten zu können. Wann
der richtige Wiederaufbau beginnen kann, ist noch heute ungewiss. Eigentlich sollte sie zum März 2016 umziehen, aber der
Zielort sei noch nicht bereit für einen Wiederaufbau, sagt
Kikuchi. Hinzu kommt, dass neue Konkurrenz von Supermärkten wie AEON sowie der massive Bevölkerungsschwund ihre
Umsätze drastisch schrumpfen lassen.
„Wer kann, zieht weg“, beobachtete sie. Die meisten würden ins Landesinnere ziehen, am liebsten nach Kitakami oder
Hanamaki, die ans Shinkansen-Netz angeschlossen sind. Für die
Familie der Unternehmerin steht der Wegzug nicht zur Debatte.
Auch das Grundstück, das der Familie ihres Mannes gehört,
wollen sie behalten, auch wenn sie es nicht mehr bebauen dürfen. Es sei doch das Land der Vorfahren.
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Am alles in allem eher düsteren Bild in der früher relativ
reichen Stadt und Heimat des Stahlherstellers Nippon Steel,
ändern auch zwei Lichtblicke in letzter Zeit wenig. Zum einen
nahm die UNESCO die Überreste eines historisch bedeutsamen Hochofens in der Nähe von Kamaishi ins Weltkulturerbe
auf, was gemeinhin als Garant für mehr Touristen gilt. Zum
anderen bekam Kamaishi den Zuschlag, 2019 einen Teil der
Rugby-Weltmeisterschaft auszurichten. Schon heute wirbt ein
Schild am Bahnhof dafür. Dass das signifikant etwas an der
Lage in Kamaishi ändern soll, bezweifelt Kikuchi.
Onagawa (Präfektur Miyagi): Wiederaufbau ohne Mauer
In den Ebenen nah am Meer ist vielerorts inzwischen wieder
Betrieb. Entweder bauen Arbeiter dort riesige Tsunamischutzmauern – manchmal ohne ein zu schützendes Dorf in Sichtweite – oder es drängen sich dort wieder, wie schon zuvor, Markthallen und verarbeitende Betriebe für Fisch und Meeresfrüchte.
Von diesen hätten nach Angaben der Behörde für Wiederaufbau
rund 85 Prozent den Neuanfang geschafft.
Die Fischindustrie gehört neben der Landwirtschaft seit
jeher zu den wichtigsten Branchen der ländlichen Region Tohoku. So war das auch in Onagawa, einer Kleinstadt östlich von
Sendai. Diese wurde damals zu etwa 80 Prozent zerstört. Nur
wenige Betonruinen verblieben dort, wo einmal die Innenstadt
Am liebsten würden sie entlang der ganzen Küste
zehn Meter hohe Mauern aufstellen
war. Dank großzügiger Spenden, nicht zuletzt aus dem Ausland,
ist im Hafen von Onagawa wieder viel los. Mehrere größere
Fabrikgebäude wurden hochgezogen. Diese und das nahegelegene gleichnamige AKW sind die größten Arbeitgeber der
Region.
Anders als in Otsuchi ist es inzwischen wieder möglich,
mit der Bahn nach Onagawa zu fahren – auch wenn es nur drei
Züge pro Tag gibt. Diese kommen an einem eleganten Holzgebäude mit einem geschwungenen Dach an, designt von dem
Pritzker-Preis-gekrönten japanischen Architekten Shigeru Ban.
Im zweiten Stock ist ein Onsen-Bad und im dritten eine Aussichtsterrasse. Der Blick aufs Meer ist in Onagawa unverstellt,
und so soll das auch bleiben. Schnell hatte man sich in Onagawa
gegen riesige Betonwälle am Meer entschieden, wie sie inzwischen an den meisten Orten in Tohoku in der einen oder anderen Form gebaut werden.
Die schnelle Entscheidung beschleunigte den Wiederaufbau.
Hinzu kommt, dass Onagawa relativ kompakt ist und schon
zuvor vergleichsweise wohlhabend war, dank des AKW. Andernorts gibt der Staat die Richtung vor. „Am liebsten würden sie
entlang der ganzen Küste zehn Meter hohe Mauern aufstellen
und überall die gleiche Messlatte anlegen“, sagt der Fudai-Beamte Morita. Doch das greife zu kurz. Es sei sinnvoller, sich an der
Höhe vergangener Tsunami zu orientieren und zwei, drei Meter
zuzugeben. Er fordert vom Wetteramt, das die Tsunamivorhersagen macht, dabei nicht nur Daten von vor 100 Jahren zu
berücksichtigen, sondern die der letzten 1000 Jahre. „Das Wetteramt dachte früher, basierend auf Daten der letzten 100 Jahre,
dass Beben der Stärke 9 in Japan unmöglich seien.“ ■
Sonja Blaschke
ist freie Journalistin und Producerin in Tokyo.
www.sonjablaschke.de
Wiederaufbau: Status Quo
Die Folgen des Tsunami sowie die
Sicherheitsvorkehrungen um das
havarierte Atomkraftwerk Fukushima
Daiichi zwangen 2011 über 470.000
Bewohner zur Evakuierung. Bis zum
Dezember 2015 ist die Zahl der Evakuierten auf 180.000 gesunken, von
denen im November 2015 nach Angaben der Wiederaufbaubehörde rund
ein Drittel in Übergangsunterkünften
lebten. Der Neubau von rund 120.000
Häusern in Tohoku löste in der Baubranche einen Boom aus. Von 30.000
geplanten Sozialwohnungen sollen bis
Ende März 2016 knapp 60 Prozent
fertiggestellt sein. Rund 20.000 private Wohnhäuser werden auf höheren
Gebieten neu gebaut; davon sollen
laut Behördenangaben bis Ende März
2016 rund 45 Prozent fertig sein. In
Gemeinden, die besonders stark von
der Katastrophe betroffen waren, zum Beispiel
Rikuzentakata, Kesennuma und Onagawa, kann
es noch bis 2018 dauern,
bis alle Bauprojekte abgeschlossen sind. Auf Seiten
der öffentlichen Gebäude
ist der Wiederaufbau fast
fertig: Rund 90% der zerstörten Schulen und medizinischen Einrichtungen
sind wiederhergestellt.
Die Infrastruktur in Form von
Gas, Wasser und Strom sind schon seit
wenigen Monaten nach der Katastrophe in weiten Teilen wieder funktionsfähig. Das gilt jedoch nicht für die
Straßen in den betroffenen Gebieten.
Viele der Verkehrswege weisen Schlaglöcher und unzureichende Markierungen auf. Gleichzeitig sind mehrere
Brücken und Tunnel im Bau, um die
zerstörten oder beschädigten Schnellstraßen zu ersetzen.
Die regionale Wirtschaft ist weiterhin hart getroffen. Vor allem die
Fischverarbeitungsindustrie erholt
sich nur langsam: der bedeutende
Wirtschaftszweig setzt heute lediglich
30% des Werts vor dem Tsunami um.
Branchenübergreifend erreichten bisher nur 45% der Unternehmen das
Umsatzniveau von vor fünf Jahren.
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