1 14. Juni 2015, Nydeggkirche Lukas 7, 11

14. Juni 2015, Nydeggkirche
Lukas 7, 11 - 17 „Ich sage dir, steh auf“
6. Predigt in der Predigtreihe „aus dem griff“
Pfarrerin Rosa Grädel
I
Liebe Gemeinde
Wäre das schön, wenn ich dem schwerkranken 40jährigen Mann sagen könnte: „Ich sage dir, steh auf“.
Und er würde aufstehen und seine Frau hätte wieder ihren gesunden Ehemann und die Kinder den
Vater, der mit ihnen in der Aare schwimmt.
Wäre das schön, wenn wir leidende Menschen einfach durch unser Machtwort aus dem Griff von Lebens
bedrohenden Mächten befreien könnten.
Wie das ist mit dieser Geschichte, die wir vorhin gehört haben, wissen wir nicht. Wir wissen nicht, was
historisch dahinter steckt. Man rätselt manchmal darüber: War der junge Mann vielleicht nur scheintot?
Ist es das, was wir aus heutigen Nahtod Erzählungen kennen? Dass jemand schon fast über die Schwelle
gegangen ist und dann wieder zurückkehrt?
Oder ist es tatsächlich so, dass in der Begegnung mit Jesus Tote wieder lebendig werden?
Wir wissen nicht, was hinter der Geschichte steckt. Was wir wissen ist, dass es aus jener Zeit und aus
früherer Zeit ähnliche Wundererzählungen gibt – hin und wieder auch heute. Wir wissen, dass sich
Menschen damals diese Geschichte erzählten, weil sie mit Jesus die Nähe von Gott erfahren haben. Weil
sie in ihm erlebt haben, dass ein eiserner Griff sich öffnen kann, dass Menschen aus dem Griff Lebens
zerstörender Mächte zur Freiheit befreit werden können.
Unter diesem Vorzeichen deute ich die Geschichte.
II
Es ist die 6. Predigt in der Predigtreihe, die in diesem Jahr unter dem Motto steht „aus dem Griff“.
Die Überschrift zur heutigen Predigt steht mitten in der Geschichte. Sie lautet: Ich sage dir, steh auf!
Ich rekapituliere kurz:
Zwei Menschengruppen treffen auf einander. Von Kapernaum her kommt Jesus mit einer Schar Männer
und Frauen. Sie sind voller Leben. Ich stelle sie mir ausgelassen und fröhlich vor, denn sie haben eben
die Heilung eines schwer kranken Mannes miterlebt. Als sie sich dem Stadttor von Nain nähern, kommt
ihnen ein Trauerzug entgegen, mit Klageweibern, Weinen und Verzweiflung. Träger tragen auf einer
Bahre einen toten jungen Mann, hinter ihnen geht weinend seine Mutter, Witwe sei sie. Begleitet wird
sie von einer stattlichen Zahl von Männern und Frauen. Als Jesus die Mutter sieht, hat er Mitleid mit ihr
und sagt: Weine nicht. Und dann tritt er zur Bahre mit dem Toten, berührt ihn und sagt: Junger Mann,
ich sage dir, steh auf. Der richtet sich auf und beginnt zu reden. Die Menschenmenge, die eben noch ein
Trauerzug war, ist bis ins Innerste berührt und lobt Gott des Lebens.
„Ich sage dir, steh auf“: Das ist für mich der Schlüsselsatz. Er gilt nicht nur dem jungen Mann, er gilt
auch seiner Mutter und der Menge im Trauerzug.
„Ich sage dir, steh auf.“ In diesem kleinen Satz steckt das ganze Evangelium. Steckt der ganze biblische
Glaube. Darum ist es auch ein Satz für mich. Für Sie?
1
III
Meinen Blick richte ich jetzt auf den jungen Mann.
Der einzige Sohn seiner Mutter, und die war Witwe, heisst es. Welche Last der junge Mann schon zu
tragen hatte. Alle Hoffnungen ruhten auf ihm. Es gab ja keine AHV. Und als Witwe war die Mutter
schutzlos in der damaligen Männerwelt. Er hat für sie dazu sein. Er ist ihr Leben. Wie gerne wäre er
vielleicht auch einmal ausgelassen gewesen, wäre seinen eigenen Weg gegangen – aber nein:
Er ist der einzige Sohn seiner Mutter, und die war Witwe. Wie erdrückend die Erwartungen auf ihm
lasten. Er kann kaum mehr atmen. Er möchte fliegen und die Flügel sind ihm gestutzt. Wie tot fühlt er
sich.
Oftmals, wenn die Bibel vom Tod spricht, meint sie ein Leben, das in Wahrheit keines mehr ist. Ein
Leben, in dem man nicht mehr atmen kann.
Vielleicht kennen Sie das auch: Erwartungen, die einen zu Boden drücken; den Ansprüchen der Anderen
nie genügen können; einen eigenen Anspruch äussern und sofort vom schlechten Gewissen eingeholt zu
werden; im Griff von Fremderwartungen zu ersticken.
Wie geschieht da Befreiung?
In der Geschichte heisst es: Jesus berührt ihn – oder je nach Übersetzung, berührt die Bahre. Stopp, so
geht es nicht weiter. Der Trauerzug bleibt stehen. Und Jesus spricht zu ihm. Durch die Todeswand
hindurch spricht Jesus dieses: Junger Mann, ich sage dir, steh auf.
Ich verstehe das so: Ein Mensch kann noch so erstarrt sein, kann noch so blockiert sein, immer ist
darunter etwas von dieser Sehnsucht nach Leben, immer ist da mehr, als der flüchtige Blick von aussen
wahrnimmt. In der Zuwendung, im genauen, liebevollen Hinsehen kann das Erstarrte allmählich
aufweichen. Manchmal kann man sich nämlich nicht selbst aus der Starre befreien. In der Zuwendung
eines/einer Anderen können zerstörerische Lebensmuster bewusst werden. Manchmal braucht das viel,
viel Zeit. Was hier als Momentaufnahme erzählt wird, ist vielleicht ein jahrelanger therapeutischer
Prozess.
In der Berührung und im Mut machenden Wort - Ich sage dir, steh auf - höre ich: So wie es war, kann es
und muss es nicht weitergehen. Du darfst sein – nicht als Geschöpf deiner Mutter oder deines Vaters
oder deiner Frau oder deines Mannes, deines Vorgesetzen oder der Gesellschaft, sondern als Kind
Gottes. Ich sage dir, steh auf. Such dir Hilfe wenn du es dir nicht selbst sagen kannst. Glaube nicht
daran, dass es ewig so weiter gehen muss, weil du nämlich mehr bist, als der Trauerzug um dich es dir zu
verstehen gibt.
Das könnte die Befreiungsgeschichte, die aus dem Griff-Geschichte des jungen Mannes sein.
Es könnte die Erweckunggeschichte von Männern und Frauen heute sein.
IV
Wie höre ich den Satz, wenn ich an die Mutter denke?
Beim jungen Mann lese ich eher eine psychologische, soziale Befreiungsgeschichte, bei der Frau eher
eine ökonomische.
Sie geht hinter der Bahre mit ihrem toten einzigen Sohn her. Sie weint. Jesus sieht sie und sagt: „Weine
nicht.“ Das kann er aber auch nur sagen, weil er ihr den auferstanden Sohn, die Zukunft zurück, gibt,
sonst wäre das ziemlich zynisch. Sie hat nämlich allen Grund zu weinen. Nicht nur, weil sie das einzige
Kind verloren hat, nicht nur wegen dem Abschiedsschmerz. Sondern auch wegen der äusseren
Umstände, die die Frau so stark im Griff haben, dass sie keine Zukunft mehr hat. Nach dem Tod des
2
Mannes und des Sohnes steht sie offenbar alleine im Leben. In der damaligen Zeit ist das Überleben für
eine Witwe ohne erwachsenen männlichen Verwandten schwierig – ökonomisch am Rand, rechtlich
immer bedroht von Übergriffen. Davon lesen wir schon im Ersten Testament. Da ist von Menschen die
Rede, die das Rind der Witwe zum Pfand nehmen (Ijob 24,2), die Grenzfrevel an ihrem Acker begehen
(Spr. 15,25) und so die Lebensgrundlage einer Witwe gefährden. Die Bibel kennt deshalb viele
Schutzbestimmungen: den Armenzehnt etwa oder die Nachlese bei der Ernte (Dtr 24, 19 – 22), die
vorsieht, dass das, was nach der Ernte auf den Feldern, an den Olivenbäumen oder in den Weinbergen
zurückbleibt, den Armen (Fremden, Witwen und Waisen) gehören soll.
(Containern!, Tischlein deck dich)
Darum trauert die Frau in der Geschichte einerseits um ihr einziges Kind, beweint ihre Einsamkeit.
Wirtschaftliche Not und Zukunftslosigkeit halten sie aber ebenso im Griff. Sie hat auf jeden Fall nichts
mehr im Griff. Hoffnungslosigkeit herrscht über sie.
Dann heisst es: Jesus sieht sie und hat Mitleid mit ihr. Eigentlich heisst es: Erbarmt sich ihrer. Und das
Wort sich erbarmen geht auf ein hebräisches Wort zurück, das Mutterschoss heisst und im Sinn von
mütterlichem Erbarmen, mütterliche Fürsorge gebraucht wird.
Jesus sieht und daraus resultiert ein Handeln, das die Not lindert. Wenn es heisst, dass Jesus ihr den
Sohn zurückgibt, heisst das: er ermöglicht ihr wieder Hoffnung, Zukunft. Ich sage dir, steh auf…:
Armut und Ungerechtigkeit sind nicht Gott gegeben.Niemand hat das Recht, andern die Ressourcen für
ein würdevolles Leben zu verweigern.
V
Ich sage dir steh auf: Was bedeutet es für die Menge?
Auch sie macht eine Entwicklung vom Tod zum Leben, von der Klage zum Gotteslob. Sie jubelt am
Schluss der Geschichte. Sie erkennt in Jesus einen der grossen Propheten. Die hatten immer wieder von
der Gerechtigkeit gesprochen, die die Welt verändern wird. Davon, dass Gott nah ist, wo Befreiung aus
Todesmächten geschieht. Und die Propheten haben das in den verlockendsten Bildern geschildert:
Jesaja 58, 10: Wenn du dem Hungrigen gewährst, was du selbst zum Leben brauchst, und satt
machst, den, der gedemütigt ist, dann wird dein Licht aufstrahlen in der Finsternis….
Dieses prophetische Licht sehen sie in Jesus und damit die Nähe Gottes.
Aber das passiert nicht einfach so. Diese Geschichte hat auch eine politische Botschaft.
Vielleicht so: Ich sage euch, steht auf. Es ist nicht gerecht und es ist nicht Gottes Wille, dass die Armut
diese Frau und viele Menschen heute im Griff behält und ihr Leben zerstört. Es ist nicht gerecht und es
ist nicht Gottes Wille, dass ihre und die Würde vieler Frauen und Männer heute missachtet und in
den Staub getreten wird.
Die Frauen und Männer in der Geschichte, die den Trauerzug begleitet hatten und jetzt Gott preisen,
verstehen das. Sie verstehen, dass dort, wo diese Befreiungsgeschichten geschehen, Gottes Wille getan
wird und sein Reich kommt.
Ob sie sich daran beteiligen werden? Ob sie die Botschaft auch als Auftrag verstehen?
Ob wir als Kirche das als Auftrag verstehen - als Perspektive für unser Handeln und Wählen?
Ob wir selbst es hören: Ich sage dir, steh auf. Und ob wir es können?
3
Die Bitte darum habe ich in einem Gebet von Dorothee Sölle mit dem Titel Gott träumt mich1
gefunden:
Du hast mich geträumt, Gott,
wie ich den aufrechten Gang übe
und niederknien lerne,
schöner als ich jetzt bin,
glücklicher als ich mich traue,
freier als bei uns erlaubt.
Höre nicht auf,
mich zu träumen, Gott.
Ich will nicht aufhören,
mich zu erinnern,
dass ich dein Baum bin,
gepflanzt an den
Wasserbächen des Lebens.
Amen
1
Dorothee Sölle, aus Träume mich, Gott, Peter Hammer Verlag
4