Ein Sohn Masurens

Thomas Schwarzenberg, seine Frau und seine beiden Kinder waren eine zufriedene
Familie. Nun hat das Schicksal grausam alles verändert. Die älteste Tochter Heike ist bei
einem Unfall ums Leben gekommen.
In dem Trauerjahr, als nichts mehr so sein wird wie früher, erinnert sich Thomas an seine
eigene Kindheit und Herkunft, an den geliebten Vater, der früh starb, an die verlorene
Heimat. Er entschließt sich heimzukehren, Masuren und das Dorf seiner Kindheit
aufzusuchen.
In einem letzten Brief an seine Tochter, den sie nie mehr lesen wird, kann er das
Eigentliche seines Lebens niederlegen und wieder an eine Zukunft denken.
Herbert Reinoß ist ein bewegender Roman zu einem Thema gelungen, das uns alle
angeht: Trauerarbeit leisten zu müssen für den Verlust eines geliebten Menschen.
Herbert Reinoß
Ein Sohn Masurens
Roman
Der Autor
Herbert Reinoß wurde 1935 in Schwarzenberge in Ostpreußen geboren. Nach dem Krieg
lebte er bei Hamburg und ab 1952 in Biberach an der Riß. Er studierte Germanistik und
Geschichte in Göttingen, Erlangen und Münster.
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Genehmigte Lizenzausgabe © 2015 by Weltbild GmbH & Co. KG, Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Copyright der Originalausgabe © 1986 by LangenMüller in der F.A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH
Covergestaltung: Atelier Seidel - Verlagsgrafik, Teising
Titelmotiv: Thinkstockphoto
E-Book-Produktion: Datagroup int. SRL, Timisoara
ISBN 978-3-95569-910-9
Dies ist ein Buch der Erinnerung an
meine Tochter Heike.
Doch zugleich ist es ein Roman mit
den Erfindungen eines Romans.
Das gilt weitgehend für die andern
Hauptgestalten, sodass sie frei
gewählte Namen bekamen, und
zum Beispiel für die geschilderten
beruflichen Umgebungen von Vater
und Tochter.
Alle Figuren außerhalb der Familie
sind erfunden; jede Ähnlichkeit mit
lebenden oder verstorbenen
Personen wäre rein zufällig.
Das meiste ist in meinem Leben
verloren gegangen, zum Beispiel
alle Menschen, die ich geliebt habe.
Aber gleichzeitig kann ja nichts
verloren gehen. Alles ist zu seiner
Zeit da und tut seinen Dienst.
Lars Gustafsson,
Trauermusik
I
Masurische Träume
Das ist auch heute noch meine
Heimat, obgleich ich niemanden
mehr dort kenne, Kindheitserde,
unendlich geliebtes Land.
Gottfried Benn,
Lebensweg eines
Intellektualisten
1
Wir haben schon Juni, und ich muss endlich zu einer Meinung darüber kommen, wohin wir
drei: Ilse, Felix und ich, in diesem Sommer in Urlaub fahren wollen. Das Leben geht
weiter, sagt man mir; und: Es hilft alles nichts, man muss weitermachen.
Man muss weitermachen! Und die Heike wird nun niemals mehr dabei sein.
Ich bin ausgelaugt, müde. Ich will versuchen, gleichsam in einen Tagtraum
hineinzudriften:
Ich will auf eine Bergeshöhe!
Ich versuche, mir einen Berg vorzustellen, den ich dann langsam, Schritt für Schritt,
ersteigen könnte.
Das macht mir erstaunlicherweise ziemliche Mühe; und dahinter steckt wohl die alte,
fatale Beklemmung schon beim Anblick hoher Türme, Erinnerung an Probleme sogar bei
Bergbahn-Fahrten.
Und es stellt sich auch das Bild eines kalten, eisigen Felsenturmes ein, es ist gleichsam
ein schlankeres, steileres Matterhorn.
Das ist zu abweisend!
Es muss etwa Milderes, Rundlicheres sein, sagen wir: ähnlich dem Mont Ventoux, wie ihn
nach meiner Erinnerung Petrarca erstiegen und besungen hat.
Und da wird es unser wahrhaft idyllischer Rydzewer Berg hinter dem See an der Straße
nach Krzywen!
Doch ist der nun nicht zu niedrig? Stand im Messtischblatt nicht etwas von bescheidenen
einhundertneunzig Metern? (Aber halt: der vielzitierte Wilseder Berg, höchste Erhebung
des norddeutschen Flachlands, ist doch nicht einmal so hoch ...)
Ja: der Rydzewer Berg im Norden meines Kindheits-Dorfes in Masuren: in dessen Anblick
ich aufwuchs! Und ich stehe auch schon unten vor ihm; und auch er steigt nun unwirklich
mächtig und steil vor mir auf! Und ist bis unten hin bewaldet (und Wald begann doch erst
unmittelbar hinter seinem Gipfel) – als ob mir das helfen soll: Ich brauche nur in diesen
Wald einzutauchen, und meine Furchtsamkeiten vor hoch Aufragendem sind damit
vielleicht genommen ... Also auf in den Wald. Kurz darauf sehe ich mich aus einer
gewissen Distanz: wie ich als Berggänger, Rübezahl, eine große Last mitschleppe, davon
gebeugt bin; ich denke: eine dicke Steinplatte, Erinnerung an die Ausmaße eines Sarges.
Danach die Vorstellung, ich klammre mich auf halber Höhe an den Berghang wie an den
Rücken eines Pferdes.
Signalisiert das Angst? Es wird noch erheblich schlimmer, als ich kurz darauf, eigentlich
viel zu rasch, oben bin: Ich sitze auf dem Rand eines schrecklich hohen Schornsteins,
wage eigentlich gar nicht, nach unten zu sehen!
Ich fühle, wie mein Herz laut klopft. Müsste ich versuchen, das ganze Unternehmen
abzubrechen?
Aber hat nicht das Autogene Training für solche Fälle einen Trick parat, mit dem sich allzu
unangenehme Situationen überspielen lassen?
Denn Augen zu und die vielen Sprossen des Schornsteins nach unten steigen (wozu es
mich einen Augenblick lang drängt): das geht doch erst recht über meine Kräfte, ich
würde abstürzen.
Der Zauberstab! Er ist das Allheilmittel, um Verwandlungen durchzuführen.
Und es genügt sogar schon die Vorstellung, dass ich ihn benutzen könnte und also nicht
ausgeliefert bin, um ruhiger, ja gelassen zu werden und mich mit einem Mal auf einem
almartigen Berg zu befinden inmitten von annehmbarer Hügellandschaft.
Zunächst aber vor mir ein tiefes Loch (Überbleibsel des Schornstein-Schlundes?): Es ist
eine Müllgrube, und ich werfe einen welken Blumenstrauß hinein (wie wir ihn oft vom
Grab der Heike nehmen und zum Abfall tun).
Setze mich auf die Bank vor mir. Blicke um mich: Ob ich nicht etwas Interessantes sehen
und erleben könnte.
Vor mir ein endlos scheinendes Bergland: Waldland, wie ich es sah, wenn ich oben in der
Felsenregion über dem Ogge-See in Norwegen gesessen habe, schon am Rand der
Baumgrenze, und weit und breit niemand sonst.
Ja: Diese Gegend ist ein alter Bekannter! Und da stellt sich unvermittelt eine Erinnerung
ein und eine Vorstellung: Man sieht, wie ein auf diesen Berggipfel gesetzter, versteinerter
Beobachter, bloß noch einem rührend kleinen, sonnenbeschienenen Fleck hinterher
inmitten einer schon überschatteten Landschafts-Wüste, und dieser Fleck wird immer
rascher fortgezogen, gleich ganz fortgenommen sein.
Das ist wie gesagt kein ausgedachtes Bild, ich habe es erlebt in der völligen Einsamkeit,
einmal sogar zu filmen versucht.
Und nun geht einem das durch den Sinn wie ein das eigene Erleben spiegelnder Vorgang.
Und das waren wahrscheinlich die sogenannten besten Jahre meines Lebens. Mit dem
Tod eines meiner Kinder sind sie fortgenommen worden gleich jenem rasch sich
entfernenden Sonnenfleck.
Ich lege mich auf die Bank auf dem Berggipfel. Blicke zum Himmel. Er ist nicht
unfreundlich: eine milde Sonne scheint.
Aber was ist mit den in so gut wie allen Berichten über die Übung des Autogenen
Trainings: Weg auf die Bergeshöhe, erwähnten religiösen Erlebnissen?
Für mich bleibt das völlig aus. Der Himmel verändert sich allmählich in ein belangloses
Grau. Das ist alles.
Ich richte mich auf. Will mir noch einmal das Waldland ansehn, wie ich es erlebte im
Süden Norwegens und wie es zu unsern letzten beiden Jahrzehnten gehörte: Zeit der
Kindheit und frühen Jugend unsrer Kinder, von denen eins umgebracht wurde.
Doch da ist es nicht mehr jene Region! Sondern vor mir liegen Wälder bis zum Horizont,
von denen ich sofort weiß: es sind heimatliche masurische! Und obwohl ich nicht sicher
bin, inwieweit sich diese Vorstellung von riesigen Wäldern hinter unserm Rydzewer Berg
mit der Wirklichkeit deckt, ich bin als Kind nie ganz oben gewesen (und so blieb er für
mich geheimnisvoll bis heute wie der Olymp) – mächtige Wälder gab es unweit im
Norden unsres Dorfes tatsächlich. Wald begann am Nordufer des Laschmieden-Sees und
wurde riesig bei Borken und Rothebude.
Und mir geht eins nach dem andern durch den Sinn in auffallender Lebhaftigkeit:
Wie wir Leberblümchen pflücken gingen in den Bergenauer Wald. Und einmal einen
ganzen Tag lang Blaubeeren sammelten im Polommer Forst und mit Eimern voll nach
Hause fuhren ... Sonne liegt auf masurischen Waldlichtungen, und Mutter und wir älteren
Kinder bei den Beeren; und zu dem Licht die Farben und die Gerüche des Waldes und sein
ewiges Rauschen. Harz und Pflanzen und Pilze.
Und von einem kleinen See in diesem Wald ist die Rede, der aber einen üblen Ruf hat:
angeblich keine Fische enthält, sondern irgendwelches hässliche Getier ... Doch das fließt
wohl schon hinüber zu Abergläubischem oder Sagenhaftem, Uraltem; das hatte bei uns ja
viel weniger Barrieren und Grenzen in meiner Kindheit als anderswo ...
Norwegen zunächst, und nun Masuren – wie seltsam, aber auch wie sinnvoll das ist!
Die eine Welt tritt offensichtlich zurück; und eine andre drängt herauf: tritt an ihre Stelle,
siegt gleichsam schon über sie ... Und das eine scheint also abgeschlossen, gehört schon
zu einem früheren Leben: in dem es meine Tochter gegeben hat. Und es gibt sie nun
niemals mehr, und wir müssen verzweifelt nach festem Boden, vielleicht: Heimat, suchen.
Schließlich: Ich will, wie andere, die den Weg auf die Bergeshöhe gemacht haben, den
Einsiedler treffen!
(Die Experten des Autogenen Trainings raten, seine Höhle oben auf dem Berg zu suchen.
Und die meisten Trainierenden stoßen tatsächlich auf einen weisen Eremiten, der als
Verkörperung des eigenen Gewissens interpretiert wird.) Auch damit habe ich meine
Mühe: So etwas wie die Behausung eines Einsiedlers zu finden. Und auf was für eine
Erscheinung werde ich dann treffen? Zwischendurch sehe ich das viereckige Loch eines
offenen Kamins – aber in so etwas haust doch nicht einmal der anspruchsloseste
Einsiedler!
Dann denke ich: Es könnte ja irgendein Verwandter von mir, ja es könnte sogar mein
Vater sein. Das wäre schön.
Und tatsächlich! Bald sitzt vor einer Höhle auf einer einfachen Holzbank, masurischen
Bank: Brett über zwei Pfählen, ein Mann ganz von der Art meines Vaters. Ja es ist Vater!
Immer eindeutiger zeigt sich mir sein Profil. Er sieht nicht zu mir her. Sein Gesicht ist
ruhig, fast heiter, ich meine bei mir: überlegen.
Mit einem Stock malt er Figuren oder Zeichen vor sich in den Sand.
Er spricht nicht mit mir. Aber auch ich spreche ihn nicht an. Insoweit bleibt die Begegnung
ganz unergiebig.
Aber es ist mein Vater, bei dem ich bin!
Ganz allmählich löse ich mich von seinem Anblick und begebe mich wieder auf den Weg
in den Tannenwald und nach unten ins Dorf.
Fachleute des Autogenen Trainings empfehlen den »Weg auf die Bergeshöhe«, weil man
dabei »Einsichten, was zu tun ist«, gewinnen könnte, »und Klarheiten ...«, quasi den
Durchblick, wie es heutzutage heißt. Und wer ränge darum nicht verzweifelter als nun ich!
Aber mir hat auch diese Übung kein bisschen geholfen. Ich gewann keine Erkenntnis. Und
nicht die geringste Hilfe. Wie es nun ist seit Monaten – was habe ich erwartet?
Und wohin in diesem Jahr in Urlaub? Dachte ich nicht schon vorsichtig daran: ob nicht
doch noch einmal in das Sommerhaus Fjellro an dem schönen See im norwegischen
Südland, der Oggevatn heißt? Wo wir den letzten wirklich begeisternden Urlaub mit der
Heike erlebt haben?
Und womöglich noch eine Rundreise vorher zu den Höhepunkten des norwegischen
Südens: Durch das Gudbrandsdal und zum Geirangerfjord, zum einzigartigen Bergblick
vom Dalsnibba und über die gerühmte Bergstraße durch Jotunheimen, vorbei an
Gletschern und Wasserfällen und durch tiefe Wälder –
Traum der vergangenen Jahre, geradezu leidenschaftliche Sehnsucht so langer Zeit –
Aber wäre das jetzt nicht nur noch wie hinterhergeworfen?
Und ganz besonders falsch?
Denn niemals mehr wie früher auch das: Unsre Urlaube immer mit beiden Kindern ins
geliebte Skandinavien, wo wir so viele ganz aus dem üblichen Mitteleuropa
herausgehobene Wochen erlebten, die Höhepunkte all jener Jahre.
Und auch in Fjellro, dem unvergessbaren, stillen Holzhaus im Wald über dem See, würde
nun ein Zimmer leer bleiben, und wir würden ständig daran vorbeigehn mit unsern wehen
Empfindungen: Hier wohnte die Heike, und nie wieder ... So, wie in unserm Haus ein
Zimmer nun immer leer bleibt: ihr Zimmer ...
So, wie es war, kann es niemals mehr sein. Und meine vergangenen Jahre sind ein
vergangenes Leben.
Es ist zu Ende. Für immer vorbei.
2
In einem düstren Traum der letzten Nacht bin ich unterwegs gewesen, und es quälte
mich, wie alles immer mehr reduziert wurde auf das Dürftigste, um nicht zu sagen
Schäbigste.
Die Autostraße wurde zu einem engen, holprigen Feldweg mit schließlich geradezu
zertrümmertem Asphalt und Steinbelag. Und ein Badebecken, in das ich später stieg,
erwies sich als ein flacher, schmutziger Tümpel mit unangenehm von aufgewühlter Erde
getrübtem Wasser.
Und dann sehr gefährlich erscheinende Tiere!
In der Dämmerung saßen auf einem Bord in Höhe unsrer Köpfe und reglos auf uns
blickend drei zusammengekauerte seltsame Wesen, bei denen ich zunächst an eingerollte
Schlangen dachte mit großen Schädeln und fürchtete, sie könnten plötzlich zu mir hin und
eher noch zu Ilse (die hinter mir ging) vorschnellen.
Aber dann bekam ich mitgeteilt, es seien Lemuren; und von denen weiß ich, dass einige
ihrer Arten ausgesprochene Wesen der Nacht und der Dämmerung sind.
Und hat der Begriff nicht, dachte ich später, auch noch eine andere Bedeutung? Waren
Lemuren in der Vorstellung der Alten Welt nicht Seelen von Verstorbenen, die nachts als
Geister umherirrten? Und hatten wir nicht in Masuren noch in meiner Kindheit verwandte
Vorstellungen?
Seltsamer Traum, ja fast schon Albtraum! Doch als ich erwachte, war es noch viel
schlimmer. Im selben Augenblick wusste ich wie am Beginn jedes Tags seit der
Katastrophe im April: Es ist uns etwas Schreckliches zugestoßen, und ich kann nirgendwo
derselbe sein wie früher.
Mir ist, als habe man mein Leben mittendurchgesägt und die beiden Teile auf
verschiedene Seiten geschmissen: zerschnitten in ein früheres, das vor einigen Monaten
zu Ende ging, und das andere gegenwärtige, in dem ich mich noch marionettenhaft wie
ein Darsteller jenes Menschen bewege, der ich früher war.
Wir fangen unsere Geschichten zu erzählen an, wenn sie zu Ende gegangen sind. Wir
fangen wie üblich mit dem Anfang an, aber wir sind am Ende. Und zwangsläufig wird
während des Erzählens unser Bewusstsein davon beherrscht, dass sich eine Katastrophe
ereignet hat; und wir haben keineswegs noch den Tonfall der Tage und Jahre vor der
Tragödie, sind nicht mehr ausreichend in der Lage, unsere äußeren und inneren Welten
jener Zeiten zutreffend wiederzugeben, als wir uns noch einigermaßen sicher glaubten, in
den Tag hineinlebten.
Wir sollen das Offene, Unentschiedene des Anfangs vermitteln, und sind schon
ausgeknockt, verunstaltet, erledigt. Und die Erfahrung dieses FINIS! lässt Erinnerungen
an den Aufbruch nur noch in einer Weise zu, dass alles durch den Charakter des Endes
eingefärbt ist.
So will ich also, um der Aufrichtigkeit willen, von vornherein alle Tricks beiseitelassen, die
ein in die grauen Tage gekommener Erzähler draufhat und an denen mir nun überhaupt
nichts mehr liegt. Ich komme gleich zur Sache und verschweige nicht einen Augenblick
lang, worum es in meiner Geschichte geht.
Und dabei könnte gerade ich die Zwangsläufigkeit durchbrechen, dass die Erfahrung des
Endes jeden unserer Sätze der ganzen Erzählung in einer bestimmten Weise tönt. Habe
ich doch – und gerade in den Urlauben, und vor allem im letzten Jahr – unzählige
spontane Notizen gemacht, die nun zu Aufzeichnungen aus einer andern Zeit und Welt
geworden sind und mein Bewusstsein in jenem heute kaum noch ganz nachvollziehbaren
Leben vor der Katastrophe unverfälscht enthalten. Die könnte ich wiedergeben.
Alte Notier-Manie, die immer stärker wuchert! Ich ziehe alles um mich zu mir heran,
sauge es sozusagen auf, bringe es gleich in Formulierungen und notiere sie. In jedem
Jahr Hunderte, Tausende von Notizen aus den unterschiedlichsten Anlässen. Es wäre eine
schon zeitlich kaum noch zu bewältigende Sache, sie alle zu sortieren und zu werten.
(Doch allmählich wird man wohl zu so etwas wie einer Autorität für sich selbst und seine
Zeit.)
Und doch muss nun auch ich gelten lassen: Ich fange zu erzählen an, nachdem ich von
dem niederträchtigsten aller Spitzbuben, er heißt Schicksal, von den Beinen geholt
worden bin und weiterhin Tritte kriege.
3
Norwegen, Masuren: Es hat immer wieder Erlebnisse hoch im Norden gegeben, da fühlte
ich mich in meine Heimat Masuren versetzt. Und dachte dann: Ich komme ja nicht zuletzt
deshalb hierher, weil ich immer etwas von der Abgelegenheit, Einfachheit meiner Kindheit
suche und hier noch am ehesten finde.
Ich erinnere mich an einen Morgen, da war ich vor den andern aufgestanden, saß vor
dem Haus im Wald und sah auf den See hinunter. Die taufeuchte Luft strömte zu dieser
frühen Stunde einen Geruch aus, als schäle man Kiefernrinde, breche harziges Holz auf.
Gingen jetzt Menschen am gegenüberliegenden Seeufer, dachte ich, so würde man jedes
ihrer Worte über Kilometer hin hören, als sprächen sie neben einem.
Denn so hatte ich das schon einmal erlebt vor sehr langer Zeit: in meiner masurischen
Kindheit. Manchmal gingen an ebenso stillen Abenden auf der andern Seite des Sees, an
dem unser Dorf lag, Menschen, und die hörte man reden, als würde man sie berühren
können, indem man bloß einen Arm ausstreckte. Wie lange ist das her!, habe ich dann
jedes Mal gedacht. Und heute scheint es noch viel weiter zurückzuliegen denn je, zu
meinem jetzigen Leben nicht zu gehören, sondern zu einem früheren.
Und ich habe in Norwegen, das seine Verschwiegenheiten hat wie Masuren, einige der
schönsten Bilder der Heike gemacht, die wir besitzen. Zum Beispiel dieses
unvergleichliche beim Sommerhaus Fjellro über dem Oggesee:
Sie hatte sich auf die Terrassen-Umrandung geschwungen, die Beine hinaufgezogen und
sie vor den Körper gesetzt. Und sitzt, die Ellbogen auf den Knien, die Hände locker nach
unten hängend, in einer Gelöstheit da, wie ich sie an ihr in ihren letzten Jahren kaum
einmal so eindeutig beobachtet habe. Sonne liegt auf ihrem Haar; sie lächelt ein
bisschen.
Was für ein großes, schönes Mädchen!
Hinter ihr stehen ihr damaliger Freund, Ilse (die Mutter), Felix (der Bruder).
Oder ein anderes Foto: Sie liegt unterhalb der Terrasse im Gras in der Sonne auf einer
Wolldecke, hat leuchtend rote Söckchen an ...
In einem Traum sah ich dies:
Wir stehen vor einigen Gräbern und sprechen über ihre Bepflanzung. Es scheint vor allem
um drei Gräber zu gehen: das der Heike (auf dem es schon etwas üppiger wächst) und
das einer Freundin von ihr; – und wer liegt in dem dritten? Genau besehen sind es etwas
seltsame Gräber: eher Gartenbeete mit etwas Grün darüber, niedrigem Spargelkraut auf
dem Grab der Heike, ganz ohne Blumen.
Doch die Heike scheint mit der Bepflanzung ihres Grabs durchaus einverstanden zu sein.
Sie steht links von mir, und es ist ohne jeden Zweifel meine tote Tochter. Ihr Gesicht, ich
sehe es schräg von der Seite, ist unbewegt, und es hat einen grünbraunen Schimmer der
Unnatürlichkeit. Ich sehe deutlich den Haaransatz in ihrem Nacken.
Das dritte Grab? Da ich doch wie die Heike hier stehe, ihr gleich zu sein scheine ... ist es
mein Grab?
Nicht zum ersten Mal meine ich: Vielleicht bin eigentlich ich es, der getötet wurde. Und
bewege mich durch Räume, Orte, Landschaften, über die mich irgendwann jemand
aufklären wird, dass sie nicht irdisch und (wie wir dort sagten) wirklich sind, sondern in
der Welt der Toten liegen.
Sagte ich, ich sei ausgeknockt worden? Das war sehr unzutreffend formuliert.
Sieg oder Niederlage: Das hieße ja, es habe sich einem ein Gegner gezeigt und sei zu
einem Kampf angetreten. Uns aber hat man von hinten ins Genick gepackt, aus dem
Hinterhalt betäubt, dann über den Zaun geschmissen.
Am schlimmsten: In der widerlichsten Heckenschützen-Manier hat man meinem Kind in
den Rücken geschossen, es hatte nicht die geringste Chance.
Und so lautet die Frage jetzt nicht: Wie soll man weitermachen? Sondern oft denke ich:
Ob eine Welt, die ein herzensgutes Mädchen einfach umbringt, es wert ist, dass man sein
Leben in ihr fortsetzt.