Das Menschenbild der Neurowissenschaften und die Ethik – des Kaisers neue Kleider? Dieter Birnbacher 1. Die modernen Neurowissenschaften: wie groß ist der Fortschritt? Ist das neu gewonnene Wissen geeignet, unser "Menschenbild" zu verändern oder gar zu revolutionieren? Für eine vorsichtige Einschätzung spricht, dass die neuen neurowissenschaftlichen Erkenntnisse zu einem großen Teil lediglich bestätigen und absichern, was die Psychologie bisher schon wusste Wolf Singer Die Verhaltensleistungen einfacher Organismen lassen sich lückenlos auf die neuronalen Vorgänge in den respektiven Nervensystemen zurückführen. (53) Arthur Schopenhauer (Der) Intellekt ... ist eine Funktion des Gehirns, welches, nebst dem ihm anhängenden Nerven und Rückenmark, eine bloße Frucht, ein Produkt ... des übrigen Organismus ist. (W II, 224) Die meisten der Strebungen und Motive, die uns letztlich dazu gebracht haben, etwas Bestimmtes und nicht anderes zu tun, bleiben uns verborgen. (49) Der Intellekt bleibt von den eigentlichen Entscheidungen und geheimen Beschlüssen des eigenen Willens so sehr ausgeschlossen, daß er sie bisweilen, wie die eines fremden, nur durch Belauschen und Ueberraschen erfahren kann, und ihn auf der That seiner Aeußerungen ertappen muß, um nur hinter seine wahren Absichten zu kommen. (W II, 234 f.) Auch die als frei empfundenen bewussten Entscheidungen werden immer durch eine Vielzahl im Unbewussten verhandelter Prozesse vorbereitet und beeinflusst. (52) Das abstrakte, in einem bloßen Gedanken bestehende Motiv ist eine äußere, den Willen bestimmende Ursache, so gut wie das anschauliche, in einem realen, gegenwärtigen Objekt bestehende; folglich ist es eine Ursache wie jede andere, ist sogar auch, wie die anderen, stets ein Reales, Materielles ... Es hat bloß die Länge des Leitungsdrahtes voraus. (E, 36) Inhalte, die bewussten Entscheidungen zugrunde liegen, unterscheiden sich vielfach von denen, die bei unwillkürlichen Entscheidungen zum Tragen kommen.(59) ... im Menschen ist mit der Vernunft die Besonnenheit und mit dieser die Fähigkeit zur Verstellung eingetreten, die alsbald einen Schleier über ihn [den Willen zum Leben] wirft. Hier tritt er nur noch in den Ausbrüchen der Affekte und Leidenschaften unverhüllt hervor. (P II, 616) Die bewussten Motive müssen ... keineswegs die entscheidenden gewesen sein. (60) Was dem Herzen widerstrebt, läßt der Kopf nicht ein. Manche Irrthümer halten wir unser Leben hindurch fest, und hüten uns, jemals ihren Grund zu prüfen, bloß aus einer uns selber unbewußten Furcht, die Entdeckung machen zu können, daß wir so lange und so oft das Falsche geglaubt und behauptet haben. - So wird denn täglich unser Intellekt durch die Gaukeleien der Neigung bethört und bestochen" (W II, 244). 2. Das moderne Bild vom Menschen – was steht auf sicheren Füßen? - Unhaltbarkeit des Substanzdualismus - Abhängigkeit phänomenaler und intentionaler Bewusstseinereignisse von neuronalen Ereignissen 3. Der Beitrag der Neuroethik zur Ethik und seine Grenzen - Die Rolle der Emotionen in moralischen Urteilen - Marc Hausers Universalien des moralischen Denkens 4. Determiniertheit des menschlichen Willens und Willensfreiheit Der Erkenntnisfortschritt in den Neurowissenschaften ist nicht durchweg einhergegangen mit Fortschritten in der begrifflichen Differenzierung "Freiheit": Vieldeutigkeit Schopenhauer Heutiger Sprachgebrauch Physische Freiheit Handlungsfreiheit Abwesenheit von Zwang und Drohung Intellektuelle Freiheit Abwesenheit von Irrtum Relative Freiheit Verhaltenssteuerung durch Gedächtnis, Prinzipien "Erworbener" Charakter Selbststeuerung durch Präferenzen zweiter Stufe Ursachlosigkeit des Wollens/liberum arbitrium Moralische Freiheit Es ist eine gefährliche Selbsttäuschung, zu meinen, daß es möglich sei, seine eignen zukünftigen Willenshandlungen gegenüber die Rolle des unbeteiligten, gewissermaßen aus hoher Warte herabschauenden Beobachters zu spielen. (Max Planck) Ein jedes Wesen, das nicht anders als unter der Idee der Freiheit handeln kann, ist eben darum in praktischer Rücksicht wirklich frei, d. i. es gelten für dasselbe alle Gesetze, die mit der Freiheit unzertrennlich verbunden sind, ebenso als ob sein Wille auch an sich selbst und in der theoretischen Philosophie gültig für frei erklärt würde. (Kant 1903, 448) 5. Willensfreiheit und Verantwortlichkeit – offene Fragen 1. „Triebentbundenheit“ nur beim Menschen? 2. Determinimus des menschlichen Willes? 3. Verantwortlichkeit = Vermeidbarkeit – aber unter welchen Bedingungen? 4. Wo liegen die Grenzen hypothetischer Willensanstrengung? 6. Die Frage nach dem Bewusstsein 1. Ist die "Erklärungslücke" zu schließen? Ignoramus oder Ignorabimus? 2. Ist der Epiphänomenalismus "unvermeidlich" (P. Bieri)? 1. Bewusstseinsereignisse lassen sich nicht logisch auf physische Ereignisse reduzieren. 2. Die physische Natur ist kausal geschlossen: Jedes physische Ereignis, das eine Ursache hat, hat eine physische Ursache. 3. Das Prinzip der Energieerhaltung gilt in der physischen Natur uneingeschränkt. T. Marcel (1980) Unterscheidung zwischen echten und falschen Wörtern in Wortreihen durch möglichst schnelles Drücken eines Knopfes Verzögerte Bewegung bei gegenüber TREE-PALM-WRIST HAND-PALM-WRIST Keine Verzögerung, wenn das mittlere Wort "maskiert" und nicht bewusst wahrgenommen wird. Kausaler Beitrag der bewussten Wahrnehmung des mittleren Worts (?)
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