Aus der Prüfpraxis Funktionale Sicherheit bei Schutzeinrichtungen und Kontrollsystemen Die Fehler an der Wurzel packen Von Johann Ströbl Maschinen und Anlagen müssen sicher sein und stets zuverlässig funktionieren – über ihren gesamten Lebenszyklus hinweg. Wie kann dieses Ziel auch bei komplexen Projekten erreicht, wie kann die Sicherheit jederzeit gewährleistet werden? Die Praxis zeigt, dass sicherheitsrelevante Fehler meist im Detail stecken und erst im Betrieb offensichtlich werden können. Systematische Gefährdungsbeurteilungen und Risikoanalysen sind deshalb notwendig, um Schwachstellen zu identifizieren und Fehler zu erkennen – nicht nur, aber vor allem während der Planungsphase. E in Fallbeispiel: Ein gefährlicher Fehler in der Prozess- und Absperrhähne korrekt angesteuert und elektrisch bedient anlage eines Unternehmens blieb lange unbemerkt, wurden. Die Mitarbeiter konnten nicht wissen, dass bei dem obwohl die Anlage schon einige Zeit im regulären Be- Steuerungsbefehl „Armatur schließen“ die gewünschte Reak- trieb lief. Auffälligkeiten zeigte die Prozessleittechnik nicht an, tion ausblieb, die Armatur ihre Soll-Funktion gar nicht erfüllen alle Schutzeinrichtungen und Kontrollsysteme funktionierten konnte. offensichtlich einwandfrei. Auch die Stellglieder und Absperrarmaturen der Anlage konnten problemlos angesteuert, geöffnet und geschlossen werden, um so die Durchflussraten der Betriebsmedien zu regulieren. Doch der Schein trog. Die Annahme, die Anlage laufe fehlerfrei, sollte sich bei einer Stillstands-Revision als Irrtum mit Folgen herausstellen. Tatsächlich war die Klappe einer Armatur, die den Durchfluss eines aggressiven Mediums regeln und zugleich als Schutzeinrichtung im Gefahrenfall absperren sollte, binnen kurzer Zeit der Korrosion zum Opfer gefallen. Das Material der Klappe, die im geschlossenen Zustand eine dichte Barriere in der Rohrleitung bilden sollte, war nicht für den Kontakt mit dem Medium geeignet und hatte sich im laufenden Betrieb regelrecht aufgelöst. Wie bei einem undichten Wasserhahn konnte die Chemikalie das Leck in größeren Mengen passieren. Das Personal in der Leitwarte war darüber nicht im Bilde, denn die Prozessleittechnik verarbeitete die Daten aus der Rückmeldung der Armatur-Antriebe. Sie zeigte lediglich an, dass alle Schieber Anlagensicherheits-Report 2015 Konkreter Auslöser vs. Letzte Ursache Bei Stör- und Unfällen wird zwischen dem konkreten Auslöser einer Störung und der primären Fehlerquelle (der sog. letzten Ursache) unterschieden. Das bedeutet: Die riskante Situation wird zwar meist durch die konkreten (Betriebs-)Bedingungen zum Ereigniszeitpunkt ausgelöst. Die Rahmenbedingungen sorgen jedoch lediglich dafür, dass der ursächliche Fehler offen zu Tage tritt, seine Wirkung entfalten und eine Ereigniskette in Gang setzen kann. Beispiel Explosion: Auslöser ist ein explosives Stoffgemisch, das unter den gegebenen Rahmenbedingungen zündet. Die letzte Ursache für den Störfall ist jedoch – das Beispiel von oben aufgegriffen – ein Bauteil, das für die Anwendung nicht geeignet ist und deshalb ermöglicht, dass ein explosives Stoffgemisch entstehen kann. 33 Aus der Prüfpraxis Die Folgen eines Systemfehlers Unternehmens zurückgegriffen? Wieso ist bei der Prüfung zur Inbetriebnahme nicht aufgefallen, dass ein gravierender Fehler Hätte diese Klappe in einem anderen Kontext etwa die Anfor- im Rohrleitungssystem steckt? derung einer Schutzfunktion gehabt, so hätte dieser Fehler schwerwiegende, gar katastrophale Folgen haben können. Un- Auslöser versus primäre Fehlerquelle bemerkt hätten auf diese Weise explosive Gemische oder gesundheitsgefährliche Stoffe entstehen können, die möglicher- Diese Fragen zeigen, dass es in jedem einzelnen Projektschritt weise einen Störfall verursacht hätten – mit weitreichenden vielfältige Schwachstellen geben kann, die anfällig für syste- Konsequenzen. matische Fehler sind. Das britische Amt für Gesundheit und Sicherheit hat das vor einigen Jahren genauer untersucht und Im oben genannten Beispiel führte der Fehler in erster Linie die primären Fehlerquellen von Stör- und Unfällen im soge- zu einem erheblichen wirtschaftlichen Schaden, weil die Pro- nannten Sicherheitslebenszyklus identifiziert.1 Ergebnis: In dukteigenschaften und die Unbedenklichkeit der produzierten rund zwei Dritteln aller untersuchten Fälle konnte die letzte Chargen zweifelhaft waren. Das erzeugte Produkt konnte nicht Ursache (siehe Infokasten S. 33) auf den Zeitraum vor dem re- verkauft werden und musste stattdessen mit erheblichen Kos- gulären Betrieb zurückgeführt werden, nahezu die Hälfte allein ten entsorgt werden. Zudem hatte die notwendige Rückrufak- auf eine mangelhafte Spezifikation. Lediglich bei rund einem tion bei Abnehmern und Kunden zu einem Imageschaden und Drittel aller Fälle waren Fehler ausschlaggebend, die sich erst einer sinkenden Nachfrage geführt. Außerdem stand die Pro- im laufenden Betrieb, bei Wartung und Instandhaltung oder duktion längere Zeit still, weil die komplette Anlage überprüft bei der Modifikation von bestehenden Maschinen und Anlagen und der Fehler mit großem Zeit- und Kostenaufwand behoben ergeben haben (siehe Bild 1). werden musste. Zusätzliche Kosten verursachte nicht zuletzt auch das Gerichtsverfahren zur Klärung der Schuldfrage. Wo liegt die "letzte Ursache" eines Fehlers? Die juristischen Aspekte dieses Vorfalls einmal außer Acht ge20% lassen, zeigt das Beispiel, wie komplex die technische Sachlage Spezifikation rund um den sicheren Betrieb einer Prozessanlage oder einer 44% komplexen Maschine sein kann: Wäre der Fehler mit zusätzlichen Sensoren entdeckt worden, welche die Durchflussra- Installation & Inbetriebnahme 15% Betrieb, Wartung & Instandhaltung te und den Medienstrom überwachen und die Daten an die Leitwarte übermitteln? Wäre der technische und logistische Mehraufwand vertretbar gewesen? Warum wurde eine Kom- Design & Implementierung Veränderungen nach Inbetriebnahme 6% 15% ponente verwendet, die für die Betriebsbedingungen nicht geeignet war? Waren die Anforderungen, Betriebsbedingungen nen Phasen des Sicherheitslebenszyklus. Den Phasen sind die Fehler und Spezifikationen nicht klar und eindeutig formuliert oder zugeordnet, die für Unfälle bzw. Störfälle ursächlich waren. Deren wurden bei der Planung wichtige Normen und Regelwerke Häufigkeitsanteil ist in % angegeben. Blau gefärbt sind die Projektab- übersehen? Hat der Hersteller möglicherweise, abweichend von den Vorgaben, ein anderes Bauteil geliefert oder wurde bei der Errichtung auf alte, unbrauchbare Lagerbestände des 34 Bild 1: Das Kreisdiagramm zeigt im Uhrzeigersinn die verschiede- schnitte, die im Zeitraum vor der Inbetriebnahme liegen (insgesamt 65 Prozent), rot gefärbt sind die Abschnitte nach der Inbetriebnahme (verändert nach Health and Safety Executive: Out of control – Why control systems go wrong and how to prevent failure, 2. Aufl. 2003) TÜ Bd. 56 (2015) Aus der Prüfpraxis Risiken antizipiert, die erst beim Rückbau – also viele Jahre spä- SicherheitsLebenszyklus ter – relevant werden. In der Praxis stellt sich die Situation indes häufig anders dar, denn Spezifikationen, Lastenhefte, Zeichnungen, Konstrukti- Spezifikation onspläne und die Pläne für die Kontrollsysteme und Schutzeinrichtungen werden beispielsweise nur selten von unabhän- Planung & Implementierung gigen Experten im Sinne des Vier-Augen-Prinzips kontrolliert Installation & Inbetriebnahme sicherheitsrelevante Fehler frühzeitig zu erkennen und zu ver- (Stichwort „Design Review“). Das wird zwar in der relevanten Norm, der DIN EN 61511-1, ausdrücklich empfohlen, um meiden. Normativ gefordert ist jedoch lediglich die Prüfung vor Inbetriebnahme. Das bedeutet: Viele Anlagen und Maschi- Betrieb & Wartung nen kommen erst zu einem verhältnismäßig späten Zeitpunkt innerhalb des Sicherheitslebenszyklus auf den Prüfstand – nämlich erst nach der Errichtung, wenn technische Tatsachen Änderung nach Inbetriebnahme Außerbetriebnahme bereits geschaffen sind. Inbetriebnahme: Prüfung von vollendeten Tatsachen? Die Zahlen aus der britischen Studie zeigen: Wird das Projekt Bild 2: Die einzelnen Phasen im Sicherheitslebenszyklus einer Prozess- erst in dieser Phase von unabhängigen Dritten überprüft, anlage oder Maschine (verändert nach DIN EN 61511-1). Die Norm dann ist die Wahrscheinlichkeit für systematische, bereits empfiehlt, nach jedem einzelnen Schritt zu prüfen, ob sich neue Ge- „eingebaute“ Fehler verhältnismäßig hoch. Selbst erfahrene fährdungen und Risiken ergeben bzw. vorhandene Gefährdungen und Experten können bei einer komplexen, fertig installierten An- Risiken verändern. Gesetzlich vorgeschrieben ist in Deutschland indes lediglich die „Prüfung vor Inbetriebnahme“, bei der eine Zugelassene Überwachungsstelle (ZÜS) eingebunden werden muss. lage kaum auf Fehlerquellen schließen, wenn die vorherigen Prozessschritte im Sicherheitslebenszyklus nicht sorgfältig geplant, durchgeführt, dokumentiert und auf sicherheitsrelevante Schwachstellen geprüft wurden. Das gilt umso mehr, Die Untersuchung orientiert sich an den Phasen des Si- als bereits eingebaute Komponenten zum Großteil nicht mehr cherheitslebenszyklus, wie er auch in der relevanten Norm zugänglich sind. DIN EN 61511-1 beschrieben wird (siehe Bild 2). Diese Be2 trachtungsweise umfasst den vollständigen Lebenszyklus Auf den ersten Blick scheint der Mehraufwand oft nicht wirt- einer Anlage oder Maschine unter sicherheitsrelevanten schaftlich vertretbar und nicht gerechtfertigt zu sein, bei Spe- Aspekten – von den ersten Skizzen bei der Planung über die zifikation, Planung, Implementierung, Installation und Inbe- Errichtung und Inbetriebnahme bis hin zum Rückbau. Im triebnahme unabhängige Experten einzubinden. Schließlich Idealfall werden also schon bei der Planung Gefährdungen und beanspruchen die Revisionen und mögliche Korrekturen Zeit, Anlagensicherheits-Report 2015 35 Aus der Prüfpraxis Personal, Ressourcen und sie verursachen zusätzliche Kosten. Betriebsbedingungen. Somit ist die Wahrscheinlichkeit für Doch das oben genannte Beispiel zeigt, dass sich die Sorgfalt systematische Fehler zu Beginn des Sicherheitslebenszyklus zu Beginn der Projekte langfristig auszahlt – der Fehler im besonders hoch. Rohrleitungssystem und der daraus resultierende wirtschaftliche Schaden mit Imageverlust hätte mit einfachsten Maßnah- Der rechnerische Nachweis zum sogenannten „Safety Integra- men im Designprozess beseitigt werden können. Dieser Aspekt tion Level“ (dt.: Sicherheits-Integritätslevel, kurz: SIL-Nachweis) wurde in der Studie vom britischen Amt für Sicherheit und Ge- ist dafür ein gutes Beispiel. Er ist schon bei der Planung ent- sundheit ebenfalls untersucht. Das Ergebnis: In allen analy- scheidend für die funktionale Sicherheit der Prozessleittech- sierten Fällen überstiegen die Folgekosten um ein Vielfaches nik, für die Auswahl und das Design von Schutzfunktionen und die Fehlervermeidungskosten (d. h. was es gekostet hätte, die Kontrollsystemen. Doch in der Praxis wirft der SIL-Nachweis Pläne zu prüfen, den Fehler zu entdecken und zu beseitigen). häufig Fragen auf. Darüber hinaus gibt es weitere Gründe, die in diesen Projekt- Die Normen und Regelwerke unterscheiden vier Stufen bzw. phasen für das Vier-Augen-Prinzip sprechen. Sie resultieren Kategorien, nach denen ein Schutzsystem hinsichtlich Integ- aus der hohen Innovations- und Entwicklungsdynamik der An- rität, Zuverlässigkeit und Ausfallwahrscheinlichkeit beurteilt lagen- und Maschinentechnik, beispielsweise bei Werkstoffen, wird (SIL 1: Zuverlässigkeit gering; SIL 4: Zuverlässigkeit sehr Prozessen, Komponenten, Sensoren, Bauteilen der Steuerungs- hoch). Welche Kategorie bei der Planung zugrunde gelegt wer- und Kommunikationselektronik sowie Schutzeinrichtungen den muss, richtet sich nach der Höhe des Risikos, das mit der und Kontrollsystemen. Insbesondere der Wandel ins digitale Gefährdung verbunden ist. Zeitalter vollzieht sich derzeit rasant. Die Entwicklung von Hard- und Software steuert konsequent Richtung „Industrie 4.0“ und „Smart Production“ – Begriffe, die nicht weniger be- Risiko = Schadensausmaß x Eintrittswahrscheinlichkeit schreiben als eine weitere industrielle Revolution. Das Risiko berücksichtigt im Wesentlichen die Parameter Ein- Normen-Dschungel: Vier Augen sehen mehr als zwei trittswahrscheinlichkeit und Schadensausmaß, sodass das SIL-Level das Maß der Risikoreduzierung bezeichnet. Bei einem geringen Risiko (Eintrittswahrscheinlichkeit und Schadens- Das bedeutet: Der Stand der Technik, formuliert in Normen ausmaß gering) genügt beispielsweise ein Schutzkreis der Ka- und Regelwerken, kann jederzeit nur eine Momentaufnahme tegorie SIL 1, um das Risiko auf ein akzeptables Maß zu senken darstellen. Es liegt in der Natur der Sache, dass die Normen („Restrisiko“). Bei einem sehr hohen Risiko (Eintrittswahr- und Regelwerke den aktuellen, technischen Entwicklungen scheinlichkeit und Schadensausmaß sehr hoch) ist hingegen erst zeitversetzt Rechnung tragen, da sie die Erfahrungen aus ein Schutzkreis der Kategorie SIL 4 notwendig, um ein akzepta- Betrieb und Praxis aufgreifen und in technische Regeln über- bles Restrisiko zu erzielen. führen. Bei einem modernen, innovativen Anlagenkonzept – 36 aber auch bei Umbau- und Modernisierungsmaßnahmen – Darüber hinaus spielen bei der Kategorisierung zwei weitere folgt daraus eine erhöhte Unsicherheit hinsichtlich Kompa- Faktoren eine wichtige Rolle, die in den Normen aufgeführt tibilität mit älteren Werkstoffen, Materialien und etablierten und zusammen mit Eintrittswahrscheinlichkeit und Schadens- Verfahren sowie der generellen Eignung unter den konkreten ausmaß in einem Risikographen abgebildet sind: TÜ Bd. 56 (2015) Aus der Prüfpraxis Schadensausmaß Keine PLTSchutzeinrichtung (z. B. technische Arbeitsschutzmaßnahmen) S1: Leichte Verletzung einer Person oder kleinere schädliche Umwelteinflüsse (kein Störfall). S2: Tod einer Person, schwere irreversible Verletzungen einer oder mehrerer Personen, oder vorübergehende schädliche Umwelteinflüsse. S3: Tod mehrerer Personen oder lang andauernde größere Umwelteinflüsse. S4: Katastrophale Auswirkungen, sehr viele Tote. Aufenthaltsdauer A1: selten bis öfter A2: häufig bis dauernd Gefahrenabwehr G1: unter bestimmten Bedingungen möglich G2: kaum möglich Eintrittswahrscheinlichkeit W1: sehr gering W2: gering W3: relativ hoch PLTSchutzeinrichtung nicht ausreichend Bild 3: Risikograph nach VDI 2180. Entscheidend für die SIL-Kategorie ist das Ausgangsrisiko, das zunächst ohne Schutzmaßnahmen auf Basis von Schadensausmaß (S1–S4), Aufenthaltswahrscheinlichkeit (A1, A2), Gefahrenabwehr (G1, G2) und Eintrittswahrscheinlichkeit (W1–W3) ermittelt wird. ff Wie häufig halten sich Personen im Gefahrenbereich auf? ff Kann die Gefahr abgewendet werden? und Planung häufig Schwierigkeiten bereitet. Diese liegt in den qualitativen, verhältnismäßig weichen Formulierungen der Parameter Schadensausmaß, Aufenthaltsdauer und Eintrittswahrscheinlichkeit: „selten, häufig, kaum, gering, hoch, Bild 3 zeigt den Risikograph aus der VDI 2180. Mit veränder- usw.“ Daraus resultiert bei jeder Gefährdung ein Interpretati- ten Parametern wird er auch in weiteren Normen benannt onsspielraum, der es ermöglicht, die Risiken zu überschätzen (z. B. DIN EN 61508/11, DIN EN 50156). Deshalb kann es – je bzw. zu unterschätzen. In der Folge können Schutzsysteme im- nach Norm, die bei der Kalkulation herangezogen wird – zu plementiert werden, die den eigentlichen Anforderungen nicht Diskrepanzen bei der Kategorisierung der SIL-Stufe kommen. gerecht bzw. „überdimensioniert“ werden. Wie häufig ist „selten“ genau? Es liegt deshalb der Gedanke nahe, dass es an der Zeit ist, den Risikographen vor der Anwendung gewissermaßen zu „kalib- Darüber hinaus zeigt die Praxis, dass alle Risikographen eine rieren“ und zu normieren. Die Anwendung der Risikographen Gemeinsamkeit haben, die bei der Kategorisierung, Auslegung sollte in jedem Einzelfall zu reproduzierbaren und somit ver- Anlagensicherheits-Report 2015 37 Aus der Prüfpraxis lässlichen Ergebnissen führen, damit Vergleiche möglich und belastbare Aussagen hinsichtlich der erforderlichen Risikore- Die HAZOP-Methode im Überblick duzierung getroffen werden können. Dazu ist es notwendig, das Risiko konkret zu quantifizieren – was wiederum voraussetzt, dass auch die Parameter Schadensausmaß, Aufenthaltswahrscheinlichkeit, Gefahrenabwehr und Eintrittswahrscheinlichkeit mit quantifizierten Werten in die Gleichung eingehen. Vor allem die chemische Industrie setzt die HAZOP-Methode (engl.: Hazard and Operability) zur Gefahrenermittlung ein, um die Sicherheit von Produktionsprozessen zu verbessern. Ziel des Verfahrens ist es, potenzielle Risiken in Betriebs- und Prozessabläufen zu identifizieren, deren Der Mensch als Maß für das Risiko Diskussionen, Expertengespräche und Themenrunden beim Anwender erscheinen also sinnvoll, um einen technisch fundierten, belastbaren Konsens über die konkreten Parameter zu erzielen. Der Autor schlägt hier vor, das Maßband am Leben des Menschen selbst anzulegen – frei nach dem Homo-MensuraSatz des Protagoras „Der Mensch ist das Maß aller Dinge […].“ So könnte beispielsweise die Eintrittswahrscheinlichkeit anstatt mit „kaum, gering, häufig“ bezeichnet werden mit „einmal pro Menschenleben, einmal pro Generation, einmal pro Jahr“. Konkret wären hier, beispielsweise bezogen auf die Eintrittswahrscheinlichkeit, die folgenden Zeitspannen geeignet: öfter als alle drei Jahre, seltener als alle drei Jahre jedoch öfter als alle 33 Jahre, seltener als alle 33 Jahre. Wird mit den übrigen Parametern Schadensausmaß, Aufenthalt, Gefahrenabwehr ähnlich verfahren, dann ergibt sich daraus eine kalibrierte Risikomatrix, die bei der Anwendung stets eindeutige und nachvollziehbare SIL-Kategorien ergibt. In der Praxis würde das die Interpretationsspielräume erheblich einschränken und Orien- Ursachen und Wirkungen zu analysieren und geeignete Gegenmaßnahmen zu entwickeln. In Deutschland ist die HAZOP-Methode auch unter dem Begriff PAAG-Verfahren zur Störfallvorsorge und zur Erhöhung der Anlagensicherheit bekannt. Die HAZOP-Analyse basiert auf der Annahme, dass Störfälle entstehen, wenn sicherheitsrelevante Betriebsfaktoren – beispielsweise Temperatur, Druck oder Füllstand – vom vorgesehenen Sollzustand abweichen. Wo und aus welchem Grund diese Abweichungen auftreten, was daraus folgt und welche Präventivmaßnahmen geeignet sind, erarbeiten Fachleute bei dem konkreten Projekt im Rahmen einer Diskussion. Ein interdisziplinäres Team aus betriebsinternen und externen Experten analysiert dazu jeden einzelnen Prozess, die Sollfunktion sowie mögliche Abweichungen. Im direkten Dialog und unter Leitung eines erfahrenen Moderators überprüfen Sicherheits- und Verfahrensingenieure, Techniker und Konstrukteure systematisch alle Anlagenteile und Prozessschritte auf potenzielle Risiken. tierung bei Risikoanalysen, Spezifikation und Planung geben. Die Kalkulationen unterschiedlicher Anlagen, Konzepte und begünstigen und die funktionale Sicherheit in Frage stellen. Prozesse könnten besser verglichen und die Ergebnisse vali- Wie kann eine Prozessanlage oder eine komplexe Maschine diert werden. dennoch wirtschaftlich, zuverlässig, funktional und sicher geplant und betrieben werden? Wie von den Normen empfohlen, Fundamental: Die Gefährdungsbeurteilung übernehmen unabhängige Dritte eine wichtige Funktion im gesamten Sicherheitslebenszyklus, wenn sie neben der Inbe- 38 Die bisherige Argumentation zeigt, dass ein komplexes System triebnahme auch bei Spezifikation, Planung oder bei Moderni- vielfältige Schwachstellen aufweisen kann, die Fehlerquellen sierungsmaßnahmen eingebunden werden. Doch eine wichti- TÜ Bd. 56 (2015) Aus der Prüfpraxis ge Grundvoraussetzung muss erfüllt sein, damit sie in diesen bei der Begleitung des Sicherheitslebenszyklus von Schutz- Phasen effektiv unterstützen können: Eine sorgfältige Gefähr- einrichtungen voraus, Sachverstand bezogen auf das konkre- dungsbeurteilung muss zu Beginn des Sicherheitslebenszyklus te Projekt und nicht zuletzt auch eine Perspektive, die frei ist erfolgen, ist sie doch gewissermaßen das sicherheitstechni- von Eigen- und Vertriebsinteressen, ökonomischen Sachzwän- sche Fundament, auf dem alle weiteren Schritte der Planung gen und Kostendruck. Denn alle Methoden führen letztlich und Umsetzung aufbauen. nur zum Erfolg, wenn mögliche Szenarien und Maßnahmen offen diskutiert, kritische Punkte benannt und konstruktive Nur wenn alle potenziellen Gefährdungen einer Anlage im Vorschläge von allen Beteiligten eingebracht werden können. Vorfeld ermittelt und beurteilt werden, können im gesamten Diese Sichtweise sollte selbstverständlich auch die betriebs- Sicherheitslebenszyklus wirkungsvolle Maßnahmen entwi- wirtschaftlichen Aspekte sowie die technische Machbarkeit in- ckelt und ausgewählt werden, die systematische Fehler, Ge- tegrieren – jedoch nicht zu Lasten von Funktionalität, Zuverläs- fährdungen und Risiken beherrschbar machen. Aus diesem sigkeit und Sicherheit, wie das Eingangsbeispiel deutlich zeigt. Grund schreibt auch die neue Betriebssicherheitsverordnung Unabhängige Dritte können hierbei wertvolle Unterstützung (BetrSichV) an wichtigen Prozessschritten Gefährdungsbeur- leisten, HAZOP-Analysen moderieren, komplette Assessments teilungen vor, verweist auf zentrale Hilfsmittel und Methoden durchführen und so auch komplexe Projekte auf ein solides, si- und betont regelmäßig deren Bedeutung. cheres Fundament stellen. Da sich die Beurteilungen im Laufe des Sicherheitslebenszyklus immer auf ein ganz konkretes Projekt beziehen, kann es kein allgemein gültiges Schema bei der Vorgehensweise geben. Vielmehr beschreiben die Verordnungen, Normen und Regelwerke den Handlungsrahmen, der – je nach Situation und Bedarf – mehr oder weniger Handlungsspielraum erlaubt. Quellen Health and Safety Executive: Out of control – Why control 1 systems go wrong and how to prevent failure, 2. Auflage 2003, (kostenloser Download unter http://www.hse.gov.uk/ pubns/books/hsg238.htm). DIN EN 61511-1 (VDE 0810-1:2005-05) Funktionale Sicher- 2 Fazit heit - Sicherheitstechnische Systeme für die Prozessindustrie. In jedem Fall werden eine kritische Auseinandersetzung mit jeder einzelnen Stufe des Sicherheitslebenszyklus sowie eine Be- Dipl.-Ing. (FH) Johann Ströbl wertung der Schutzeinrichtungen nach den einzelnen Stufen TÜV Süd Industrie Service GmbH dringend empfohlen. Das setzt jedoch jahrelange Erfahrung [email protected] Anlagensicherheits-Report 2015 39
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