Systemwechsel und vergangenes Unrecht In der Rechtspraxis weicht der Umgang mit schwereren Menschenrechtsverletzungen oft von dem ab, was aus ethischer Sicht wünschbar wäre. Wir sind deshalb der Frage nachgegangen, welche politischen Ursachen den unterschiedlichen Umgang mit vergangenem Unrecht erklären können. Eine Durchsicht der Seminarthemen verdeutlichte, dass eine strafrechtliche Ahndung von schweren Menschenrechtsverletzungen – wenn überhaupt, dann fast nur nach Systemumbrüchen oder nach der Beendigung von Bürgerkriegen stattfand. Auch das Jugoslawien- und Ruandatribunal wurde erst eingerichtet, als die Politik der ethnischen Säuberungen in Jugoslawien und der Völkermord in Ruanda die Weltöffentlichkeit schockiert hatte. Mit dem permanenten internationalen Strafgerichtshof in Den Haag (IStGH) ist u.a. die Hoffnung verbunden, eine weniger reaktive und stärker präventive Instanz einzurichten. Diktaturen und autoritäre Regime sind aus unterschiedlichen Gründen weitgehend durch Straflosigkeit von schweren Menschenrechtsverletzungen gekennzeichnet. Die Gründe hierfür werden wir an anderer Stelle diskutieren. Idealtypisch lassen sich drei verschiedene Formen von Systemwechseln beobachten, die durch unterschiedliche Machtverhältnisse zwischen den Kräften der alten und der neuen Ordnung gekennzeichnet sind. 1. Sieg einer Konfliktpartei, Kollaps, Revolution 2. Verhandelter Übergang 3. Vom autoritären Regime kontrollierte Reform Der Spielraum / Wahl der Instrumente zur Aufarbeitung vergangenen Unrechts wird außerdem noch durch die folgende Faktoren bestimmt: b) Art und Umfang der Menschenrechtsverletzungen a) Funktionsfähigkeit und Unabhängigkeit der nationalen Strafjustiz b) Soziokulturelle Aspekte (Vorautoritäre Demokratieerfahrungen, Rechtstradition, Rechtspluralismus, Akzeptanz alternativer oder traditioneller Rechtsinstitutionen) c) Stärke der nationalen und internationalen Zivilgesellschaft (Menschenrechtsund Opferorganisationen) d) Öffentliche Meinung, internationale Erschütterung über die Verbrechen e) Internationale Machtverhältnisse; Wahrung nationalstaatlicher Interessen (Blockademöglichkeiten ständiger Mitglieder im Weltsicherheitsrat) f) Vordemokratische Erfahrungen und Vorbilder Systemwechsel und vergangenes Unrecht - Livia Wendt / Gunnar Theißen Folgende Umgangsformen wahrscheinlich: sind unter den nachfolgenden Bedingungen eher Straflosigkeit/Amnestie (Von autoritärem Regime kontrollierte Reform, Überforderung und fehlende Unabhängigkeit der nationalen Justiz, Militärgerichtsbarkeit, keine Rechtsstaatstradition im Land, schwache Zivilgesellschaft bzw. schlechte Vernetzung der nationalen Zivilgesellschaft mit internationalen Akteuren, geringe internationale Beachtung, Verbrechen sind durch Mitglieder eines ständigen Mitglieds des UNSicherheitsrates begangen worden). Wahrheitskommission: (Verhandelter Systemwechsel Pattsituation, Personelle Kontinuität in Sicherheitskräften und Staatsapparat, Justiz nur begrenzt unabhängig, Akzeptanz alternativer Konfliktlösungsmechanismen) . Strafrechtliche Aufarbeitung: (Kollaps des alten Regimes, Justiz zumindest begrenzt funktionsfähig bzw. ersetzt durch internationales Strafgericht, internationales Interesse an einer Strafverfolgung). Begriffsklärung: Systemwechsel / Transition / Systemtransformation: Systemwechsel: Hierunter wird in der Regel ein klar erkennbarer Wandel eines politischen Systems von einer Diktatur oder autoritärem Regime zu einem demokratischen Regierungssystem verstanden. Unter den Begriff können auch umgekehrt verlaufende Prozesse des deutlich abgrenzbaren Zerfalles einer Demokratie gefasst werden. Transition: Dieser Begriff wurde durch ein internationales Forschungsprojekt von O'Donnell / Schmitter u.a. geprägt, die in ihrem Grundlagenwerk Transition from Authoritarian Rule (1986) die Demokratisierungsprozesse in Südeuropa und Lateinamerika untersuchten. Der Begriff wird fast ausschließlich für den "Übergang zur Demokratie" (nicht umgekehrt) benutzt. Transitionsprozesse lassen sich idealtypisch in zeitlich hintereinander abfolgende Perioden unterteilen: 1.Liberalisierung des autoritären Regimes, 2. Demokratisierung, 3. Konsolidierung des demokratischen Systems. In der Liberalisierungsphase kommt es häufig zu systeminternen Reformbemühungen von Teilen der politischen Machtelite, die durch Aufweichen der autoritären Strukturen an einer Herrschaftsabsicherung interessiert sind. Das Ende der Demokratisierungsphase wird meist durch die Verabschiedung einer demokratischen Verfassung und allgemeinen Wahlen markiert. Unter Konsolidierung wird die nach der formelle Institutionalisierung demokratischer Verfahren und Regeln verstanden, sondern dass diese auch funktionstüchtig sind. Dazu zählt u.a. auch die Akzeptanz der Demokratie, ihrer Normen und Werte durch die politischen Akteure und die Gesellschaft im Gesamten. Systemwechsel und vergangenes Unrecht - Livia Wendt / Gunnar Theißen Systemtransformation: Dieser Begriff beschreibt im Vergleich zu "Transition" meist den umfassenden politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Wandel. Neben der Etablierung demokratischer Strukturen wird unter Systemtransformation meist auch der parallel laufende gesellschaftliche und wirtschaftliche Wandel verstanden, wie z.B. die Einführung von Marktwirtschaft etc. Beispielhaft ist der Terminus: Osteuropäische Transformationsländer. *** Im Seminar wurde insbesondere die Frage aufgeworfen, ob und unter welchen Bedingungen eine internationale Intervention zum Schutz der Menschenrechte a) legitim bzw. b) effektiv ist. Literaturhinweise: Zallaquett, José (siehe Reader). Merkel, Wolfgang: Systemtransformation: Eine Einführung in die Theorie und Empirie der Transformationsforschung, Opladen, 1999, insbesondere S.1-169. O'Donnell, Guillermo / Schmitter, Phillipe C.: Transition from Autoritarian Rule: Tentative Conclusions about Uncertain Democracies: Baltimore, 1986. Systemwechsel und vergangenes Unrecht - Livia Wendt / Gunnar Theißen
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