13.03.2016 „Es war nicht mehr tragbar“ Erst seit 50 Jahren gilt in der Schweiz das FRAUENWAHLRECHT – Luciana Thordai-Schweizer erinnert sich an den Kampf dafür MARTINA PROPRENTER S ie möchte nicht Feministin genannt werden. „Wir hatten gar nicht realisiert, was die Folgen wären. Wir wussten, wir dürfen es nicht, aber wir hatten keine andere Wahl“, sagt Luciana Thordai-Schweizer. Wenige Tage zuvor hatte sie eine Rede gehalten, als Zeitzeugin des Lehrerinnenstreiks von 1959 in Basel. Wovon die Rentnerin so bescheiden spricht, hatte damals hohe Wellen geschlagen. Sogar die New York Times berichtete von den streitbaren Frauen. Wählen dürfen war in vielen Ländern und besonders bei den europäischen Nachbarn schon seit Jahrzehnten eine Selbstverständlichkeit. Dennoch legten die Schweizer, wenn sie in Volksabstimmungen über das Frauenwahlrecht entscheiden durften, immer wieder ihr Veto ein. Das erneute Männer-Nein am 1. Februar 1959 war der Tropfen, der das Fass endgültig zum Überlaufen brachte. „Ich höre heute noch, wie Rut Kaiser (Mitinitiatorin des Streiks, d. Red.) sagte: ,Jeder Hilfsarbeiter darf wählen gehen, nur wir nicht’“, erinnert sich Thordai-Schweizer. Sie selbst, die Jüngste im Kollegium und gerade erst zehn Monate fest angestellt, war tief beeindruckt von den „sehr gescheiten“ Kolleginnen. Einen Tag nach der folgenschweren Abstimmung fassten die Lehrerinnen den Beschluss zu streiken. Heimlich wurden Zettel ausgelegt, auf denen alle Teilnehmerinnen unterzeichnen sollten, aber so, dass die Kollegen, die am Lehrerinnenzimmer vorbei mussten, es nicht merkten. Bis auf vier haben alle 50 Lehrerinnen des Basler Mädchengymnasiums am Streik teilgenommen. Am Streiktag blieb ThordaiSchweizer dann einfach zu Hause. Wusste nicht, ob der Streik zustande gekommen war oder nicht – bis es an ihrer Tür läutete. „Meine ganze Klasse stand da“, sie seien vom Rektor heimgeschickt worden, riefen sie ihr in den ersten Stock entgegen. Da sie nicht auf die Straße herunterrufen wollte, worum es ging, bat sie die 30 Mädchen hoch, in ihre kleine Einzimmerwohnung. Stolz war sie, dass die Mädchen nicht einfach spazieren oder in die Stadt gegangen, sondern zu ihr gekommen waren, erzählt Thordai-Schweizer strahlend. Wie weitreichend ihr Streik war, spürten die Lehrerinnen bereits am nächsten Tag. Manche Kollegen seien peinlich berührt gewesen, manche solidarisch, andere drückten klar ihre Abneigung aus. „Man sagt ja oft, Frauen könnten nicht solidarisch handeln“, führt sie an, „daher hat das wohl so viel Eindruck gemacht.“ Zahlreiche Briefe erreichten die Lehrerinnen im Anschluss, rund ein Drittel war negativ. „Ein Mann hat sogar geschrieben, man sollte uns eine FAKTEN ERSTMALS in der Geschichte eines neuzeitlicher Staates können Frauen 1870 im USBundesstaat Wyoming wählen. Weitere Daten: 1917 Sowjetunion 1918 Österreich 1919 Deutschland 1920 USA 1928 Großbritannien 1944 Frankreich 1945 Italien 1971 Schweiz PRO Fahrkarte schicken: Sibirien, einfach.“ Bei der Erinnerung daran muss Thordai-Schweizer noch immer lachen. Viele hatten mit den Briefen auch Geld geschickt, für den Fall, dass die Lehrerinnen Bußen zahlen müssten. Das mussten sie auch. Neben den ausgefallenen Stunden wurde noch ein Zuschlag berechnet, an die Summe erinnert sich ThordaiSchweizer nicht mehr. Als Folge ihrer Streiks wurde eine Delegation von drei Lehrerinnen in die vorgesetzte Behörde zitiert. Warum gerade sie auch dabei war? „Ich war die Jüngste und modern im Auftreten und Umgang mit den männlichen Kollegen“, ist ihre Vermutung. Sie schminkte sich damals bereits, eine Freundin von ihr musste dafür noch beim Rektor vorsprechen. Kein Einzelfall zu einer Zeit, als noch die sogenannte Heiratsstrafe galt, es also Lehrerinnen per Gesetz verboten war, zu heiraten. „Mich hat er nicht mehr zitiert, sonst hätt’ ich ihm gesagt, ich brauche einfach meinen Lippenstift“, erzählt sie und schürzt die dezent geschminkten Lippen in gespielter Entrüstung. Schwestern Von der Heiratsstrafe war habe sie eigentlich keiauch Thordai-Schweizer betrof- nen Unterschied gemerkt. Aufen, obwohl der Große Rat diese ßer, so erzählt sie es, dass ihre eigentlich ein Jahr zuvor abge- Brüder den Führerschein maschafft hatte. So musste sie 1966 chen durften, die Schwestern ihre Festanstellung kündigen nicht. „Ich konnte das erst, als ich und fing nur einen Tag später als genug verdient habe und unabVikarin wieder an, mit gleichem hängig war“, erinnert sie sich. Pensum aber weniger Rechten Heimlich hatte sie Fahrstunden und ohne ihre Rentenansprüche genommen und die Eltern dann weiterführen zu können. einfachvorvollendete Tatsachen Erst 50 Jahre später durfte sie gestellt. Das Frauenwahlrecht sei im Staatsarchiv die Protokolle zuhause nie ein Thema gewesen, des Treffens einsehen. Konnte auch in Gesprächen mit ihrer lesen, dass die Behörde auf Seiten der Lehrerinnen war, Verständnis für ihr Anliegen hatte. Auch ihr Rektor Paul Gessler stand hinter den Lehrerinnen. „Nicht diese Lehrerinnen sind nicht mehr tragbar, sondern das Verhalten der Männer, auf das sie reagiert haben, war es nicht mehr“, schrieb er als Antwort auf eine der zahlreichen Kritiken am Verhalten der Lehrerinnen. Als Kämpferin sieht sie sich aber bis heute nicht. Sie habe nie kämpfen müssen, sagt sie rückblickend. Aufgewachsen mit drei Brüdern und zwei Luciana Thordai-Schweizer. moralisch aufgeladen diskutiert wie der mittlerweile berühmte Abtreibungsparagraf 218. Viele diskriminierende Gesetze wurden in Deutschland mittlerweile aufgehoben, ein Blick nach Amerika zeigt aber, dass dort noch Relikte aus längst vergangener Zeit überdauert haben und nie aufgehoben wurden. In Arkansas darf ein Mann seine Frau schlagen, allerdings nicht mehr als einmal pro Monat. In London dürfen Frauen nach 21 Uhr nicht mehr geschlagen werden. In Memphis/Tennessee dürfen Frauen nur dann Auto fahren, wenn ein Mann vor dem Auto herläuft und eine rote Fahne schwenkt, um Fußgänger und andere Autofahrer zu warnen. In Michigan gehört das Haar einer Frau per Gesetz ihrem Ehemann. In Oklahoma brauchen Frauen vor dem Gang zum Frisör sogar die Lizenz des Staates. Bis 1999 war es auf der britischen Kanalinsel Sark östlich von Guernsey verboten, Grundbesitz an Töchter zu vererben. Um einer Klage vor dem Europäischen Gerichtshof zuvor zu kommen, wurde das Gesetz aufgehoben. Um fair zu bleiben: Es gibt in Amerika auch zahlreiche männerdiskriminierende Gesetze, die noch in Kraft sind. So dürfen Männer in Pennsylvania ohne die schriftliche Erlaubnis ihrer Frauen keinen Alkohol kaufen. Für friedliche Ehen will Detroit/Michigan sorgen: Männern ist es hier sonntags untersagt, ihre Frauen böse anzuschauen. Es verstößt in Idaho gegen das Gesetz, wenn ein Mann seiner Angebeteten eine Pralinenschachtel überreicht, die weniger als 50 Pfund wiegt und in Aimes/Iowa dürfen Ehemänner nicht mehr als drei Schluck Bier trinken, bevor sie sich zu ihren Frauen ins Bett legen. „Wollt Ihr solche Frauen?“Vor Einführung des Frauenwahlrechts machten Gegner und Befürworter per Plakat mobil. Was heute eine Selbstverständlichkeit ist, musste vor 50 Jahren in der Schweiz noch erkämpft werden. FOTO: MAHRO kriminierende Gesetze hielten sich – retrospektiv – erstaunlich lange. Unvergessen etwa Altbundeskanzler Gerhard Schröders Ansicht über das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, das er nach der gewonnenen Wahl 1998 als „Familie und das ganze Gedöns“ beMutter nicht. Diese zeichnete. Bis 1958 konnten Ehehabe aber, sobald sie durfte, männer den Job ihrer Frau künkeine Wahl verpasst. Auch Thor- digen, wenn sie ihrer Meinung dai-Schweizer hat seit 1971, als nach die familiären Verpflichdas Frauenwahlrecht in allen tungen vernachlässigte. Bis 1958 Kantonen bis auf die Halbkanto- brauchten Frauen die Erlaubnis ne Appenzell Ausserrhoden und ihres Vaters oder Ehemannes, Innerrhoden eingeführt war, nur um den Führerschein machen zu dürfen. Erst 1962 durften zweimal nicht abgestimmt. Frauen ohne die Zustimmung war durften Frauen in ihrer Ehemänner ein eigenes Deutschland bereits 1919 Konto eröffnen, bis 1969 wurden erstmals wählen, ein über- Frauen nicht als geschäftsfähig heblicher Blick Richtung Schwei- angesehen. zer Nachbarn ist dennoch fehl Erst seit 1976 kann der Nacham Platz. Zahlreiche frauendis- name der Frau nach der Heirat als Familienname geführt werden. Vergewaltigung in der Ehe wird erst 1997 ein Straftatbestand. Zwar öffnete die Bundeswehr die Laufbahn Offizier des Sanitätsdienstes für Frauen schon 1975, erst 2000 erhalten Frauen Zugang zu allen Bereichen, können erst ab 2001 Dienst an der Waffe leisten. Nicht etwa ein Vorstoß der deutschen Regierung; der Gesetzgeber folgte damit einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, wie zuletzt 2015, als die Pille danach von der Rezeptpflicht befreit wurde. Dies wurde im Vorfeld jahrelang FOTO: PROPRENTER ähnlich emotional und Z TERMINE SCHAUSPIEL „Nirgends in Friede. Antigone“ heute um 19 Uhr, Theater Basel, kleine Bühne, Elisabethenstraße 16. Im Anschluss ab etwa 21.15 Uhr: Podiumsdiskussion „Geschlechterverhältnisse“. PUB-QUIZ Frauenfußball am Montag, 25. April, 20 Uhr, in der Fußballkulturbar Didi Offensiv, Erasmusplatz 12. FÜHRUNG „Gender Trouble – Frau und Mann im Museum der Kulturen Basel“, Münsterplatz 20, am Sonntag, 22. Mai, 15 Uhr. TAGUNG „Endlich!“ am Freitag und Samstag, 17. und 18. Juni, ab 10.30 Uhr in der Alten Universität Basel, Rheinsprung 9. JUBILÄUMSFEST 50 Jahre Frauenstimmrecht am Freitag, 24. Juni, ab 18 Uhr mit Improtheater, Poetry-Slam, Musikbeiträgen und Zeitzeugen im Gespräch . WEITERE Termine und Infos unter www.frauenstimmrecht.ch und www.frauenrechtebasel.ch . PRO
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