Die russische Minderheit Lettlands im Zwiespalt. Europäische

Erinnerung an den Baltischen Weg - Etwa zwei Millionen Menschen spannten im August 1989 eine Kette
über 600 Kilometer in den nach Unabhängigkeit strebenden baltischen Sowjetrepubliken Estland,
Lettland und Litauen
Die russische Minderheit Lettlands im Zwiespalt.
Europäische Integration oder russische
Instrumentalisierung?
von
Andreas Gajduk
Inhaltsverzeichnis
I. Einleitung ................................................................................................................................ 3
II. Heutiges Lettland unter Berücksichtigung historischer Ereignisse.................................. 4
III. Die Reise ............................................................................................................................... 8
1. Vorbereitung, Planung und Durchführung der Reise ................................................ 10
2. Meine Gesprächspartner .............................................................................................. 11
IV. Gründe für eine mögliche Instrumentalisierung ........................................................... 26
V. Erkenntnisse und persönliche Eindrücke von der Reise ............................................... 29
VI. Schlusswort und Ausblick ................................................................................................. 34
VII. Quellenverzeichnis........................................................................................................... 37
II
"Jeder Angriff auf russische
Bürger ist ein Angriff auf
die Russische Föderation."
(Der russische Außenminister
Sergej Lawrow, 2014)
“ Ich muss sagen, dass niemand, weder
die Letten noch die in Lettland
lebenden Russen das Szenario der Krim
und des Ostens der Ukraine in Lettland
wiederholt sehen möchten. Und selbst
diejenigen, die die russische Politik
unterstützen, sprechen sich deutlich
gegen solch ein Vorgehen in Lettland
aus.“
(Der lettische Außenminister
Edgars Rinkevics, 2014)
I. Einleitung
Spätestens seit der Krim-Krise ist die europäische Sicherheitsordnung aus den Fugen
geraten. Durch die kriegerischen Auseinandersetzungen in der Ostukraine wurde
diese besorgniserregende Entwicklung fortgeführt. Bis dahin schien ein militärisches
Gegeneinander in Europa Geschichte, doch die Realität belehrt alle eines Besseren.
Die heutige Situation im Osten Europas weckt Erinnerungen. Die einen sprechen von
der Balkanisierung der Region, andere von syrischen Verhältnissen. Bereits über 50
000 Menschen mussten innerhalb eines Jahres Ihr Leben lassen1, unzählige wurden
verletzt und sind nun für Ihr Leben gezeichnet. Die Ost-West Spannung ist wieder
präsent, befeuert von zahlreichen verbalen Schlachten der Verantwortlichen auf
beiden Seiten. Die neue russische außenpolitische Doktrin, die vorsieht
russischsprachige Bürger auch außerhalb der eigenen Grenzen, wenn nötig
militärisch zu verteidigen, rückte Osteuropa wieder einmal ins Zentrum der Weltpolitik.
Gerade die baltischen Staaten fühlen sich von dieser Politik bedroht. Man befürchtet
die Instrumentalisierung der großen russischen Minderheiten in den Ländern der
berühmten Singenden Revolution. Lettland spielt dabei aufgrund verschiedener
politischer sowie historischer Umstände eine besonders herausragende Rolle. Gerade
dort befindet sich die russischsprachige Bevölkerung in einem Spannungsfeld
1
o.V. (2015) Sicherheitskreise: Bis zu 50 000 Tote, http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/ukrainesicherheitskreise-bis-zu-50-000-tote-13416132.html, Abruf am 09.02.2015.
3
zwischen der Europäischen Union und einer möglichen russischen
Instrumentalisierung. Sind die Ängste der Letten vor der russischen Minderheit
begründet? Wie wirkt sich der Konflikt auf die baltische Region aus? Wie stehen die
russischsprachigen Bürger Lettlands zu Europa und zu den europäischen Werten?
All das sind existenzielle Fragen meiner Reise und zugleich sehr bedeutungsvoll für die
Zukunft der Europäischen Union als ein gemeinsames Friedensprojekt der
Mitgliedsländer.
Im Folgenden gebe ich einen Einblick in die aktuelle Problematik.
II. Heutiges Lettland unter Berücksichtigung historischer Ereignisse2
Das heutige Lettland befand sich schon historisch im Spannungsfeld zahlreicher
Mächte. Neben der einheimischen Bevölkerung besiedelten deutsche Missionare
sowie deutsche Ritter die Region. Aufgrund der vorteilhaften geographischen Lage
konnte sich insbesondere die Hauptstadt Riga rasant entwickeln und war zudem eine
lange Zeit Mitglied der Hanse. Später fiel das Land an das russische Zarenreich, das
Richtung Westen expandierte. Riga wurde nach Moskau und Sankt-Petersburg zur
drittgrößten Stadt des Reiches. Im 19 Jh. entstand um die lettische Sprache eine
Nationalbewegung als Reaktion auf die russische Besetzung und die herrschende
deutsche Klasse. Um die Unabhängigkeitsbestrebungen zu unterbinden, führte
Russland eine Politik der Russifizierung in der Verwaltung und den Bildungsinstitutionen
des Landes durch. Darüber hinaus wurde für das weitgehend protestantische
Lettland der orthodoxe Glauben Pflicht.
Im ersten Weltkrieg wurde Lettland von deutschen Truppen besetzt. Nach dem Ende
des Krieges im Jahre 1918 erklärte sich das Land für unabhängig. Das schmerzvollste
Kapitel der lettischen Staatlichkeit, das bis in die heutige Zeit hineinwirkt, erfolgte im
Jahre 1939/40. Deutschland und die Sowjetunion vereinbarten, dass Lettland zur
Einflusssphäre der Sowjetunion zählt. Zahlreiche lettische Intellektuelle verschwanden
in Lagern.
2
Die historischen Informationen basieren auf der aktuellen Ausstellung des Nationalen Historischen
Museums Lettlands sowie auf der Sendung vom Jean-Christophe Victor, “Mit offenen Karten“ bei Arte,
vom 05.12.2014.
4
Im Zuge des Zweiten Weltkrieges eroberte Deutschland Lettland erneut. Die Letten
wurden aufgefordert auf der deutschen Seite gegen die Sowjetunion zu kämpfen,
was viele auch freiwillig oder gezwungenermaßen taten. Zahlreiche Letten kämpften
ebenfalls auf der Seite der Roten Armee. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges
wurde Lettland zum wiederholten Male von der Sowjetunion annektiert. Auf Befehl
Moskaus wurden viele Russen in Lettland angesiedelt, was angeblich ausschließlich
dem Wiederaufbau des Landes dienen sollte. So ergab sich, dass im Jahre 1989
lediglich 52 Prozent der Bevölkerung Letten waren. Die russische Sprache war
vorherrschend.
Ende der 80-er Jahre kam es zu ersten Protesten gegen die Sowjetunion. Die
sogenannte Singende Revolution nahm Ihren Lauf. Es war eine völlig neue Art der
Revolution, eine friedliche Revolution. Der Protest gegen das bestehende System
wurde in Liedern ausdrückt. Seit den Unabhängigkeitsbestrebungen gegenüber den
Deutschen und den Russen am Ende des 19. Jahrhunderts, hatten die Esten und
Letten, später auch die Litauer ihrem Heimatgefühl und nationalen Selbstbewusstsein
auf den traditionellen Sängerfesten Ausdruck verliehen. Am 29 August 1989 bildeten
über eine Million Menschen eine 600 km lange
Menschenkette zwischen Tallin und Vilnius, um
ihre Einigkeit in dem Drang nach Freiheit und
Unabhängigkeit von der Sowjetunion zu
demonstrieren. Darauffolgend wurde Lettland
1991 offiziell unabhängig.
Die neue demokratische Regierung versuchte
das Land gen Westen zu orientieren. Im Jahre
2004 trat Lettland der Europäischen Union
sowie der NATO bei. Und im Jahre 2014 wurde
die lettische Währung durch den Euro
Vor dem Freiheitsmonument in Riga
abgelöst.
Ebenfalls im Jahre 2014 wurde Riga die Kulturhauptstadt Europas3, was die Stadt über
ihre Grenzen hinweg noch berühmter machte. Wenn man durch Rigas Straßen geht,
dann versteht man, warum in den 30er Jahren die Stadt als das "kleine Paris des
3
Andreas Fülberth, Riga: Kleine Geschichte der Stadt, 2013, S.117f.
5
Nordens" bezeichnet wurde. Wunderschöne Architektur, vom Mittelalter bis modern,
eine Altstadt die mit Prag konkurrieren könnte, Opernhäuser und Konzertsäle, aktives
künstlerisches Leben, interessante Geschäfte sowie gemütliche Restaurants, alles
deutet darauf hin, dass Riga zu den schönsten Hauptstädten Europas gehört. In der
Stadt wohnen heute 700 000 Menschen, somit ein Großteil der zwei Millionen
Bevölkerung des Landes. Es ist ebenfalls das wirtschaftliche Zentrum der Region.
Trotz der europafreundlichen Politik und der fortschreitenden Integration in die
westlichen politischen Strukturen ist Lettland nach wie vor stark von Russland
abhängig. Insbesondere der Energiemarkt wird von Russland dominiert. 100 % des
lettischen Gases kommen aus der Russischen Föderation.
Eine herausragende Problematik auf der politischen Agenda nimmt die Frage des
sogenannten “Nichtbürger“ ein. In der Sowjetunion, der sowohl Lettland als auch
Estland und Litauen angehörten, wurden zahlreiche Russischsprachige in der Region
angesiedelt. Nach der Unabhängigkeit Lettlands im Jahre 1991 fürchtete die
Regierung einen zu starken Einfluss der russischen Minderheit.4 Aus diesem Grund
wurde der Status der Nichtbürger eingeführt. Estland ging einen ähnlichen Weg, nur
Litauen gewährte allen, die bis zum 3. Februar 1989 rechtmäßig in Litauen wohnhaft
waren die Staatsbürgerschaft.
In Lettland haben die Nichtbürger einen besonderen Pass und dürfen sich frei im
Land bewegen, allerdings haben sie kein Wahlrecht und dürfen nicht in der
staatlichen Verwaltung tätig werden. Um als Nicht-Lette Staatsbürger zu werden
muss man mehrere Jahre im Land gelebt haben sowie einen Test absolvieren, der
einige sprachliche sowie geschichtliche Kenntnisse voraussetzt. Die
Einbürgerungskriterien wurden im Laufe der Zeit aufgrund anhaltender Kritik aus dem
Ausland j erleichtert, der Schwierigkeitsgrad des Sprachtest wurde herabgesetzt.
Nichtsdestotrotz gibt es immer noch knapp 300 000 Nichtbürger. Viele leben im Osten
des Landes (Region Lettgallen) sowie in der Hauptstadt Riga.
Die Russischsprachigen verfolgen meistens russische Medien und pflegen ihre eigene
Kultur. Seit 2007 dürfen sich die sog. Nicht-Bürger drei Monate lang frei in der EU
4
Julija Perlova: Identitätskonstruktionen in den Medien am Beispiel Lettlands. Eine Frameanalyse zu den
Europawahlen 2004 und 2009, 2010, S. 16f.
6
bewegen und benötigen für die Einreise in die Russische Föderation kein Visum. Somit
hat die Motivation sich besser zu integrieren spürbar nachgelassen.5
Im Vergleich zu den anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union nahm Lettland
nach der anhaltenden Wirtschaftskrise von 2008 eine weitgehend positive
Entwicklung. Nichtsdestotrotz steht die junge Republik vor großen demographischen
Herausforderungen.
Zahlreiche junge Leute
verlassen das Land. Die
erheblichen
Lohnunterschiede zwischen
den reichen westlichen
Staaten der EU und Lettland
machen die Rückkehr der
Menschen unattraktiv. Seit
der lettischen
Unabhängigkeit haben
mehr als eine halbe Million
Einwohner das Land
verlassen, was für einen
Staat dieser Größe enorme
Probleme verursacht.
Die Geschichte des Landes
Seit 1997 gehört Rigas Innenstadt zum UNESCOWeltkulturerbe
wirkt in die heutige
politische Lage mithinein.
Die große russische Minderheit versucht Einfluss zu nehmen und bündelt ihre
Interessen in der Partei „Zentrum Harmonie“. Es ist eine der größten Parteien des
Landes, war jedoch nie an der Regierung beteiligt, da andere lettische Parteien
stets die Regierungskoalition bildeten.
Aufgrund der großen russischen Minderheit ist die politische Lage Rigas anders
gestaltet. Seit 2009 ist ein ethnischer Russe Nils Usakovs Bürgermeister der Stadt.
5
Vgl. Mehling, M., Knaurs Kulturführer, 2014, S. 34 - 35.
7
In diesem Jahr hat Lettland zum ersten Mal die Präsidentschaft im Rat der
Europäischen Union übernommen. Bislang konnte die Regierung aufgrund weltweiter
Konfliktherde keine große Aufmerksamkeit auf den eigenen Vorsitz lenken.
Nichtsdestotrotz glauben viele Experten, dass die Rolle des Landes aufgrund der
Situation in der Ukraine wachsen wird.
III. Die Reise
Wer sind die drei kleinen baltischen Staaten im Osten der Europäischen Union? Diese
Frage stellte ich mir immer wieder. Die Region ist uns sehr nah und doch so weit weg.
Deutschland prägte das Leben der Menschen in Lettland, Estland sowie Litauen wie
kaum ein anderer Staat und doch wissen wir so wenig über das Leben der Menschen
dort, über ihre Ziele und ihre Gedanken über
Europa. Erst seit der Ukraine-Krise und der
lettischen Präsidentschaft im Rat der
Europäischen Union findet die Region mehr
Beachtung. Wenn wir in Deutschland über
Europa reden, so denken wir zunächst an
Frankreich vielleicht auch Italien, doch
Lettische Nationalbibliothek
Lettland nimmt dabei keine herausragende
Rolle ein. Dabei hat dieses Land eine höchst
interessante und abwechslungsreiche
Geschichte, Jahrzehnte lang ein Spielball
der Großmächte und nun endlich frei und
unabhängig.
Ich wollte unbedingt dieses neue Europa
kennenlernen. Bei meinen Vorrecherchen
stieß ich auf immer mehr neue Fragen und
wollte diesen auf den Grund gehen. Von
dem Ausmaß der lettischen
Minderheitenproblematik habe ich erst
nach der Wahl des ersten
russischsprachigen Bürgermeisters in Riga
im Jahre 2009 mitbekommen. Seitdem
Innenstadt von Riga
8
verfolgte ich die Entwicklungen rund um diese Frage. Im Zuge des Ukrainekonflikts
sowie immer weiterer Spannungen zwischen Russland und dem Westen habe ich
mich entschlossen nach Lettland zu reisen, um die Situation vor Ort zu erleben.
Nach meiner Erfahrung wissen eine
Menge junger Menschen bestens
über die Probleme in Spanien oder
Griechenland Bescheid. Was den
Osten angeht, so scheint der
„Eiserne Vorhang“ noch tief in den
Köpfen verankert zu sein. Mit meiner
Arbeit wollte ich einen Beitrag
leisten, um diesen Umstand ein
wenig zu verändern.
Darüber hinaus fand ich auch die
Frage nach der Instrumentalisierung
der Minderheiten besonders
spannend und wollte wissen
inwiefern sich die Situation mit
anderen postsowjetischen Staaten
Vansu-Brücke
vergleichen lässt. Selbstverständlich
stieß die Neuausrichtung der NATO in der baltischen Region ebenfalls auf mein
Interesse. All diese Aspekte motivierten mich meine Reise zu unternehmen.
9
1. Vorbereitung, Planung und Durchführung der Reise
Lettland ist ein kleiner Staat mit zwei Millionen Einwohnern. Flächenmäßig ist es etwa
so groß wie Bayern. Über eine Million der Einwohner leben in Riga und Umgebung. So
lag es auf der Hand den Schwerpunkt der Reise auf Riga zu legen. Doch auch die
zweitgrößte Stadt des Landes, Daugavpils stand auf meinem Plan. Die
russischsprechende Minderheit ist in diesen Regionen besonders groß.
Aufgrund ausgiebiger Vorbereitungen konnte ich
mich bereits vor der Reise auf zahlreiche
Gesprächspartner freuen. Mein Anliegen war es
einen möglichst tiefen Einblick in die Problematik zu
bekommen. Aus diesem Grund habe ich versucht
Menschen aus allen möglichen Lebensbereichen
zu kontaktieren.
Zu meinen
Gesprächspartner
Daugavpils ist die zweitgrößte Stadt
Lettlands und überwiegend
russischsprachig
zählten Politiker,
Medienvertreter,
Geschäftsleute,
Studenten, Kulturschaffende, Beamte sowie
Wissenschaftler. Die Vertretung der Europäischen
Kommission stand mir trotz eines vollen
Terminkalenders hilfreich zur Seite. Die Partei “Zentrum
Daugavpils: Die Plattenbauten sind
überall präsent
Harmonie“ hat sich ebenfalls sehr viel Zeit für meine
Fragen genommen und auch weitere Gesprächspartner empfohlen. Die russische
Botschaft informierte mich ebenfalls über ihre Arbeit sowie die Situation der
russischsprachigen Bevölkerung. Auch regionale Politiker halfen mir die Lage vor Ort
besser einschätzen und beurteilen zu können.
Neben den rein thematischen Fragen habe ich ebenfalls versucht das einfache
Leben der Menschen in Lettland zu erkunden. Besonders interessant fand ich die
Gespräche in einer russischsprachigen Familie. Dort hatte ich die Möglichkeit mich
ausgiebig mit drei Generationen unterhalten zu dürfen. Ich sprach mit einem 90
Jahre alten Herrn, seinem 60-Jährigen Sohn sowie dem 30-Jährigen Enkel. Es war
10
besonders spannend mitzuerleben, welch unterschiedliche Meinungen alle drei
vertraten und wie sie Lettlands Position zwischen der EU und Russland beurteilten.
Ich besuchte Sportveranstaltungen, Konzerte, Museen, Feste der russischen
Minderheit. Dadurch habe ich die Einstellung der Menschen in einfachen
alltäglichen Dingen sehen und erleben können. Das war eine prägende Erfahrung.
Sprachlich gab es ebenfalls keinerlei Probleme. Aufgrund meiner guten Russisch
Kenntnisse war es besonders hilfreich gerade mit den älteren Vertretern der
russischen Minderheit ins Gespräch zu kommen. Mit den Letten war es problemlos
möglich sich auf Englisch oder Deutsch zu unterhalten. Die Gastfreundlichkeit der
Menschen hat mich sehr beeindruckt. Fremde sind in Riga sowie in ganz Lettland sehr
willkommen. Es freut die Leute sehr, dass man sich für Ihr Land interessiert.
2. Meine Gesprächspartner
Um einen möglichst detaillierten Einblick zu erhalten, habe ich versucht mit
Menschen aus möglichst vielen Bereichen zu sprechen. Bereits im Vorfeld meiner
Reise hab ich mir ausgiebige Gedanken darüber gemacht, wer hierfür in Frage
kommen würde. Neben den Vertretern aus der Politik interessierte mich ebenfalls ein
Gespräch mit Medienvertretern, Arbeitern, Studenten und anderen Gruppen der
Gesellschaft. Ich habe mir einige Fragen für die anstehenden Interviews überlegt
und dann den Kontakt zu den entsprechenden Personen aufgenommen. Sowohl der
E-Mail Kontakt als auch mehrere Telefonate erwiesen sich hierbei als sehr hilfreich. Ich
bekam viel positive Rückmeldung. Allerdings gab es auch Personen, die sich aus
zeitlichen oder anderen Gründen nicht mit mir treffen wollten. Einige
Gesprächspartner konnte ich dennoch für mich gewinnen und von einem Treffen
überzeugen. Im Folgenden möchte ich die Ergebnisse meiner Gespräche
wiedergeben.
Zunächst traf ich mich mit Vecheslav Altuhov, dem
ehemaligen Präsidenten der „Russischen Gemeinde
Lettlands“. Die Aufgabe dieser Organisation besteht darin
das Kulturerbe der russischsprachigen Gesellschaft Lettlands
zu pflegen. Man organisiert zahlreiche Feste, führt
Diskussionsabende durch und vertritt die Interessen der
V.Altuhov
11
Russischsprachigen nach außen. Mit Herrn Altuhov führte ich ein sehr interessantes
Gespräch. Er erzählte mir von seinem Leben in Lettland und wie seine Organisation
die Entwicklungen im Land beurteile. Zunächst sprachen wir über die kulturelle Arbeit
der „Russischen Gemeinde“. Altuhov erzählte mir von zahlreichen Konzerten mit
russischsprachigen Künstlern. Diese seien in Lettland sehr beliebt und würden den
Menschen nostalgische Gefühle vermitteln. Die Bewahrung der russischen Sprache ist
Altuhov ebenfalls sehr wichtig, hierfür werden auch viele Leseabende veranstaltet.
Man engagiert sich auch politisch und macht auf sich aufmerksam. Gerade die
Gesetzesvorhaben, die den Gebrauch der russischen Sprache bei der Arbeit
unterbinden sollen, sieht die „Russische Gemeinde“ äußerst kritisch. Altuhovs Meinung
nach handelt es sich hierbei um “plumpe Diskriminierung“. Seiner Ansicht nach
können solche Pläne und Gesetzesvorhaben nichts Gutes mit sich bringen. Man solle
sich stattdessen Finnland als Beispiel nehmen. Dort seien lediglich 6 Prozent der
Bevölkerung schwedisch, doch trotzdem ist Schwedisch die Amtssprache. Dabei
gebe es dort laut Altuhov keinerlei ethnischen Probleme, die die finnische
Staatlichkeit gefährden würden. „Auch die Schweiz sowie Belgien seien
hervorragende Beispiel, was gelungene Mehrsprachigkeit anbelange“, so Altuhov.
Seine Mitstreiter sind enttäuscht von der lettischen Regierung. Sie fühlen sich
hintergangen. „Man hat ein Leben lang zusammen mit den Leuten gearbeitet und
ein schönes Land aufgebaut und nun werden wir wie Menschen zweiter Klasse
behandelt“, bemerkte Altuhov. Die Diskriminierung zeige sich seiner Meinung nach in
den kleinen Dingen des Alltags. Bespielweise gibt es bei zahlreichen Medikamenten
keinen russischen Beipackzettel. Man würde es durchaus nachvollziehen, dass
Lettland die eigene Sprache pflegen wolle, doch seien die russischsprachigen
Nichtbürger ebenfalls ein Teil von Lettland. All das sorgt dafür, dass Menschen
Sympathien für die russische Politik entwickeln würden. Man fühlt mit den Menschen
in der Ostukraine und fürchtet sich aber davor, dass etwas Ähnliches in Lettland
geschehen könnte. Die Sanktionen gegen Russland lehnt die “Russische Gemeinde“
ab. Sie würden nichts bringen und richten lediglich einen immensen Schaden auf
beiden Seiten an. Die neue Doktrin der russischen Außenpolitik, die besagt dass man
russischsprachige Bürger im Ausland schützen sollte, sieht Altuhov mit gemischten
Gefühlen. Eine Zuspitzung sowie eine Konfrontation würde den Menschen nur
schaden und dies verstehen auch alle Nichtbürger. Ein Ukraine-Szenario wird völlig
abgelehnt. Altuhov denkt, dass man alle radikalen Äußerungen meiden sollte. Die
Menschen würden sich auf privater Ebene sehr gut verstehen, es gebe Differenzen
12
doch seien diese nicht unüberbrückbar. Eine Instrumentalisierung findet laut Altuhov
nicht statt. Selbstverständlich seien viele Berichte der russischen Medien teileweise
einseitig, doch die Bilder aus der Ukraine können seiner Ansicht nach nicht
manipuliert sein. Man zeige dort die realen vorherrschenden Verhältnisse sowie
unfassbares menschliches Leid. Davor fürchten sich nicht nur die Letten sondern
auch die Nichtbürger. Der Zukunft sieht Altuhov pessimistisch entgegen, er glaube
nicht, dass sich die Lage der russischsprachigen Bevölkerung zum besseren ändern
werde, auch von der EU-Ratspräsidentschaft erwarte seine Organisation nichts
Neues.
Im Zusammenhang mit der Fragestellung meiner Reise war es mir ebenfalls besonders
wichtig die europäische Perspektive hinsichtlich der Situation in Lettland sowie der
lettischen Ratspräsidentschaft zu hören. Deshalb traf ich
mich mit Herrn Martins Zemitis, einem Mitarbeiter der
Vertretung der Europäischen Kommission in Lettland. Hier
sprachen wir über die Entwicklung Lettlands seit Ihrer
Unabhängigkeit, den Umgang mit der russischen
Minderheit sowie der weiteren Entwicklung Lettlands in
der Europäischen Union. Zemitis vertritt die Meinung, dass
Martins Zemitis,
ekonomika.lv
Lettland sich auf einem guten Wege befinde und dass
das Land trotz der Wirtschaftskrise von 2008 erhebliche
Fortschritte erziele. Die Problematik mit der russischen Minderheit wird ebenfalls immer
kleiner. Die junge Generation der Russischsprachigen integriere sich laut Zemitis auf
eine hervorragende Art und Weise. Die Menschen haben erkannt, welche Vorteile
Europa mit sich bringt. De Frage der Nichtbürger ist zweifelsohne nicht zu
unterschätzen, allerdings fehlt den Menschen inzwischen auch der Anreiz etwas an
Ihrer Situation zu ändern. Seit die Nichtbürger sich drei Monate lang frei in der EU
bewegen dürfen sowie kein Visum für Russland brauchen, sehen Sie keinen Anlass
etwas an Ihrer Situation zu ändern. Der Schwierigkeitsgrad des Sprachtests, der für die
Einbürgerung gebraucht wird, hält sich laut Zemitis in Grenzen. So hat unter anderem
der britische Botschafter in Lettland eben diesen Test mit verhältnismäßig kurzer
Vorbereitungszeit bestanden. Zemitis Meinung nach hat sich die Lage um die
russische Minderheit etwas entspannt. Unter anderem hat Riga jetzt einen ethnischen
Russen als Bürgermeister. Dieser leiste hervorragende Arbeit und genieße ebenfalls
das Vertrauen der Letten. Hinsichtlich der schwierigen Situation in der Ukraine meint
13
Zemitis, dass auch in Lettland eine Gefahr der Instrumentalisierung bestehe. Die
russische Minderheit konsumiere überwiegend russische Medien und diese seien nun
mal oft von Populismus geprägt. Die lettische Regierung möchte nun einen eigenen
Sender in russischer Sprache anbieten. Nichtsdestotrotz kann man laut Zemitis in Riga
von keiner angespannten Lage sprechen. Die Menschen verstehen und tolerieren
sich. Riga war schon immer multikulturell. Zimitis Meinung nach wird Lettland auch
weiterhin an seinen Herausforderungen arbeiten und deutliche Fortschritte erzielen,
wie bereits die Arbeit im Rat der Europäischen Union gezeigt hat. Man fokussiere sich
auf das Wesentliche und setze die richtigen Schwerpunkte.
Um eine möglichst breite Palette an Meinungen während meiner Reise hören zu
können, traf ich mich ebenfalls mit einem Vertreter der russischen Botschaft, der
allerdings aus verschieden Gründen unbekannt bleiben möchte. Bei unserem Treffen
in der der russischen Botschaft sprachen wir über die aktuelle Situation rund um die
Ukraine sowie den Einfluss dieser Ereignisse auf die russische Minderheit in Lettland.
Mein Gesprächspartner wies immer wieder auf die schwierige Situation der
Nichtbürger hin. Zudem machte er mich ebenfalls darauf aufmerksam, dass diese
Frage auch rechtlich erhebliche Schwierigkeiten mit sich bringe. Die Letten haben
sich dazu entschlossen nur den
Menschen die Staatsbürgerschaft zu
verleihen, die zum Zeitpunkt der
Besetzung durch die Rote Armee 1940
Staatsbürger waren sowie ebenfalls
deren Nachfahren. Bei der
Volksabstimmung über die
Unabhängigkeit des Landes haben auch
unzählige Russen für die Unabhängigkeit
gestimmt, doch wollte man nicht dass
eine so große Minderheit über die
Geschicke des Landes mitentscheidet.
„Dies ist schlichtweg eine
Russische Botschaft in Riga
Diskriminierung“, so der Vertreter der
Botschaft. Die Frage der Besatzung
würden die Menschen laut meinem Gesprächspartner ebenfalls anders sehen. Man
fühlte sich nicht als Besatzer, man baute das Land auf, schuf Fortschritt, wollte das
14
Land voranbringen und nun sei das alles auf einmal nichts wert. Es ist doch so, dass
auch Letten gegen das Nazi-Deutschland gekämpft haben. Und nun werde der 9.
Mai, der Tag des Sieges oft nur belächelt und am 16. März der Gedenktag zu Ehren
der lettischen SS-Division gefeiert. „Dies können die russischsprachigen Menschen
nicht nachvollziehen“, so der Vertreter der Botschaft. Hinsichtlich der
Zusammenarbeit mit der russischen Minderheit meinte mein Interviewpartner, dass
man manche Projekte zusammen durchführe. Die russische Föderation bietet
ebenfalls Studienplätze in Russland an. Es besteht auch die Möglichkeit die russische
Staatsbürgerschaft zu beantragen. Allerdings ist es laut dem Vertreter der Botschaft
nur verständlich, wenn die Menschen davon kein Gebrauch machten. „Sehen Sie,
wenn Sie 1955 in Lettland geboren sind und Ihr ganzes Leben lang hier gelebt und
gearbeitet haben, da wollen Sie doch keine russische Staatbürgerschaft. Sie fühlen
sich doch dann vielmehr lettisch“, so mein Interviewpartner. Seiner Ansicht nach
wird die russische Minderheit nicht instrumentalisiert. Jeder ist im Stande sich seine
eigene Meinung zu bilden. Hinsichtlich der einseitigen Berichterstattung der
russischen Medien, findet er, dass dort lediglich Fakten gezeigt werden, die
unbestritten sind. Außerdem würden auch die westlichen Sender laut meinem
Gesprächspartner ziemlich viel Propaganda betreiben. Abschließend erhalte ich
ebenfalls den Hinweis, dass ich mich mit den menschenrechtlichen Organisationen
treffen sollte, welche sich mit der Problematik der Nichtbürger beschäftigen. So u.a.
setze ich mich mit dem Menschenrechtler Vladimirs Buzajevs in Verbindung. Seine
rechtliche Einschätzung ist ebenfalls bei der Anfertigung meines Berichts mit
einbezogen worden.
Bei meinem Ausflug in Rigas Vorort Jurmala traf ich mich mit Prof. Dr. Andris Plotnieks.
Professor Plotnieks war während der Sowjetunion Abgeordneter des
Obersten Sowjets der UdSSR. Er arbeitete ebenfalls als Professor an
mehreren Universitäten in Lettland. Außerdem ist er auch Mitglied
der Lettischen Akademie der Wissenschaften. Mit ihm sprach ich
über die aktuelle Situation Lettlands in der Europäischen Union und
Prof. Plotnieks,
lv.ru
über die Auswirkungen des Ukrainekonflikts auf die russische
Minderheit. Herr Plotnieks bemerkte, dass die EU momentan Gefahr
laufe überbürokratisiert zu werden. Die große europäische Idee verliere sich dabei.
Darüber hinaus verlieren die kleinen Mitgliedsländer immer mehr an Bedeutung. In
Lettland spüre man dies besonders. Er hoffe sehr, dass man im Zuge der EU-
15
Ratspräsidentschaft die richtigen Akzente setzten werde. Die Lage rund um die
Ukraine findet er sehr ernst. Ob die Russischsprachigen in Lettland davon
instrumentalisiert werden, könne er nicht genau beurteilen. Allerdings hat er
persönlich früher immer Wert darauf gelegt seine Informationen aus verschiedenen
Quellen zu beziehen. Seit neuestem schaue er allerdings kein russisches Fernsehen
mehr, da er die dort vertretenen Ansichten doch als zu einseitig dargestellt findet.
Die neue russische Doktrin, die besagt, dass auch die russischen Minderheiten im
Ernstfall im Ausland beschützt werden sollten, findet er sehr eigenartig. „Wissen Sie,
wenn man diese Doktrin sehr genau nimmt, so muss sich doch auch die USA Sorgen
machen. Im New Yorker Brighton Beach (Brooklyn)6 wohnen viele russischsprachige
Menschen, sollen diese nun auch verteidigt werden? Sie merken es ist doch
unfreiwillig komisch“, sagte Plotnieks. Hinsichtlich der russischen Minderheit meint
Plotnieks, dass die meisten Leute passabel Lettisch sprechen und er hoffe, dass die
positive Entwicklung der letzten Jahre weiterhin anhält. Bezüglich der lettischen
Ratspräsidentschaft in der EU möchte er sich keine Illusionen machen,
nichtsdestotrotz hofft er, dass man nun endlich etwas für die Wirtschaft und gegen
den demographischen Wandel tun werde.
Besonders wichtig war für mich ebenfalls das Gespräch mit den Vertretern der Partei
„Zentrum Harmonie“, deren Vorsitzender der berühmte Bürgermeister der Stadt Riga
Nils Ušakovs ist. Zentrum Harmonie setzt sich für eine verstärkte Rolle der russischen
Sprache sowie für die Reformierung des
Staatsbürgerschaftsrechts ein. In Riga traf ich mich
mit der
Pressesprecherin
Katrina Iljinska. Wir
sprachen über die
Tätigkeitsfelder der
Partei sowie über die
K.Iljinska
aktuelle Lage der
russischen Minderheit im baltischen Raum. Der
Bei der Partei “Zentrum Harmonie”
jetzige Fokus der Partei liege auf wirtschaftlichen
6
Brighton Beach im Süden des New Yorker Stadtbezirks Brooklyn ist die grösste russische Enklave der
USA.
16
Fragen. Die Menschen erwarten, dass sich etwas in Fragen der Arbeitslosigkeit sowie
größeren Investitionen im Land ändert. Selbstverständlich sind die Probleme der
russischsprachigen Minderheit weiterhin sehr präsent. Doch laut Frau Iljinska sieht sich
die Partei “Zentrum Harmonie“ als eine lettische Partei. “Wir sind nicht der verlängerte
Arm Russlands“, so die Pressesprecherin. Die Anzahl der Wähler der Partei unter den
ethnischen Letten nehme zu. Wichtig sei ebenfalls die Tatsache, dass man sich zwar
auch für die Verstärkung der Rechte der russischsprachigen Minderheit einsetzte und
nichtsdestotrotz ebenfalls die lettischen Interessen im Auge behalte. „Bei der
parlamentarischen Arbeite sprechen die Abgeordneten unserer Partei ausschließlich
Lettisch. Und unter unseren Mitarbeitern sind ebenfalls sehr viele ethnische Letten“,
sagte Iljinska. Die Problematik der Instrumentalisierung der russischen Minderheit in
Lettland ist auch in ihrer Partei ein wichtiges Thema. „Wir sehen den Versuch einer
Instrumentalisierung, doch ist diese nur mäßig erfolgreich. Die Leute schauen die
russischen Programme und stimmen in vielen Punkten ebenfalls den russischen
Ansichten zu, doch möchte trotzdem niemand in Russland leben“, so die
Pressesprecherin. Besonders die jungen Menschen fühlten sich Lettland sehr
verbunden. Die Minderheitenfrage stelle sich heutzutage nicht mehr in solch einer
akuten Art und Weise, da das Land immer mehr zusammen wächst. Vielmehr zeige
man sich über den demographischen Wandel im Land sehr besorgt. „Unsere Partei
kritisiert sehr stark, dass nicht viel mehr getan wird um die Geburtenraten
anzukurbeln. Ein kleines Beispiel, die Mutterschutzzeit in Lettland beträgt 1,5 Jahre, in
Estland hingegen 3 Jahre. Wir sollten dem Beispiel der Länder Folgen, die
erfolgreicher sind als wir“, so Iljinska. Die Probleme der russischen Sprache sieht auch
sie sehr kritisch, aber die letzte Volksabstimmung hat laut Iljinska gezeigt, dass
Russisch als lettische Amtssprache nun Geschichte ist. Für die Zukunft erhoffe man
sich, dass auch die “Zentrum Harmonie“- Partei in einer lettischen Regierung
vertreten sein wird.
Von besonderer Bedeutung war für mich ebenfalls das Treffen mit den Vertretern der
russischsprachigen Medien Lettlands. Ich traf mich
mit Herrn Pavel Kirilov, einem Redakteur der
Tageszeitung Vesti. Auch bei diesem Treffen
sprachen wir über die Probleme der russischen
Minderheit sowie die aktuelle politische Situation.
Laut Kirilov nehmen die Menschen in Lettland die
P.Kirilov, vesti.lv
17
Situation rund um die Ukraine sehr ernst. Man habe Angst, dass Ähnliches auf die
baltischen Staaten übergreifen könnte. Die Situation hat sich in letzter Zeit immer
mehr nach oben geschaukelt. Man befürchtet die Provokationen Einzelner, die die
gesamte Lage zur Explosion bringen könnten. Kirilovs Meinung nach fühlen sich viele
Russen nach wie vor durch die lettische Regierung benachteiligt. Sei es das
Staatsbürgerschaftsrecht oder die Initiative bei der Arbeit ausschließlich Lettisch
reden zu müssen, dies alles würde laut Kirilov die Situation immer mehr anheizen.
„Dabei gehören auch wir die Russischsprachigen zu Lettland. Sehen Sie meine
Familie lebt bereits seit dem 17-ten Jahrhundert in Lettland, das ist unsere Heimat“,
sagte Kirilov. Hinsichtlich der Instrumentalisierung meinte Kirilov, dass diese Frage
besonders schwierig ist. Seiner Ansicht nach werde auf beiden Seiten
instrumentalisiert. „Es ist doch eine Frage der Intelligenz, jeder Mensch ist selbst im
Stande zu entscheiden welche Medieninhalte er konsumieren möchte“, sagte Kirilov.
Bezüglich der Problematik um die Russische Sprache sagte Kirilov, dass man nun
nach und nach mehr Druck auf die Sprache aufbaue. In den sogenannten
russischen Schulen werde nur zu 40 Prozent auf Russisch unterrichtet. Das Problem,
dass die ethnischen Russen teilweise nur schlecht Lettisch reden würden, liegt laut
Kirilov darin, dass es schlichtweg an der Übung fehle. „Man befindet sich fast
ausschließlich unter den Russischsprachigen, da wird lettisch einfach nicht
gebraucht“, so Kirilov.
Auch eine Journalistin von Rossija 24 (ein Nachrichten-Fernsehsender in Russland, Teil
der staatlichen Medienholding WGTRK) hat sich bereit erklärt meine Fragen zu der
Situation der russischen Miderheit in Lettland zu beantworten. Ekaterina Zorina lebt in
Riga und arbeitet bereits seit längerer Zeit für Rossija 24.
In Anbetracht der bestehenden Spannungen zwischen Ost und West ist Zorina der
Meinung, dass die russischsprechende Minderheit Lettlands die Entwicklungen mit
großer Aufmerksamkeit verfolge. Von einem Einfluss seitens Russlands könne man
allerdings laut Zorina nicht sprechen. „Die russischsprachigen Letten verbindet mit
Russland in erster Linie die Sprache, Familie, Bildung sowie teilweise die
gemeinsamen sowjetischen Erinnerungen. Meiner Meinung nach, sind die russischen
Letten sich darüber im Klaren, dass Russland sich einst von ihnen "los sagte", während
sie in Lettland nicht endgültig "heimisch" werden konnten, so die Journalistin.
Hinsichtlich des Ukraine-Konfliktes meinte Zorina, dass die Menschen in diesem Fall
sehr objektiv bleiben. Man nutze verschiedene Informationsquellen und fülle mit den
18
Menschen. Nichtsdestotrotz hat der Krieg in der Ukraine die unterschiedlichen
Mentalitäten in der Bevölkerung nochmals deutlich vor Augen geführt. „Bezüglich
der Statbürgerschaftsproblematik sind die Russischsprechenden schlichtweg
enttäuscht. Man kämpfte ebenfalls für die Unabhängigkeit und bekam nicht die
gleichen Rechte“, so Zorina.
Einer meiner interessantesten Gesprächspartner war Anatolys. Wir trafen uns bei
einem Eishockeyspiel und es bildete sich eine freundschaftliche Beziehung. Anatolys
gehört zu der russischsprachigen Minderheit, ist jedoch auch ein Staatsbürger
Lettlands. Er ist als Unternehmer in der Baubranche tätig. Mit ihm habe ich zahlreiche
Gespräche geführt, er erzählte mir von seinen Erfahrungen und ermöglichte mir
ebenfalls weitere Gespräche mit seinem Sohn und
seinem Vater. Es war sehr interessant drei Menschen
aus einer Familie interviewen zu können. Alle drei
hatten verschiede Meinungen und Erfahrungen. Jeder
hat seine persönliche Sicht auf die neuesten
Geschehnisse. Anatolys erzählte mir von seiner Jugend
in Lettland von seinem Studium und der Zeit nach der
Unabhängigkeit des Landes. Er könne es nicht
verstehen warum man nicht allen Menschen, die
Anatolys mit seinem Vater Sergejs
während der Sowjetunion eine ausreichend lange Zeit
in Lettland gelebt haben die lettische
Staatsbürgerschaft verleihen kann. „Schau mal nach Litauen, dort war dies ohne
Probleme möglich. Und hier fühlten sich viele wie Menschen zweiter Klasse“, so
Anatolys. Die Problematik hat seiner Ansicht nach jedoch abgenommen. Die Jungen
würden sich hervorragend integrieren und die russische Sprache betrachte man
zunehmend als einen Vorteil. Anatolys erzählt mir, dass die größten Sorgen der
Menschen nunmehr in ihren beruflichen Situationen liegen. Seiner Ansicht nach hat
man sich immer noch nicht von der Krise erholt. Daher spricht er sich auch gegen die
Sanktionen aus. Bezüglich der Instrumentalisierung durch Russland ist er sich nicht
ganz sicher. „Weißt du Andreas, eins ist sicher die Menschen haben Angst vor einem
ukrainischen Szenario. Ich glaube nicht, dass wir uns instrumentalisieren lassen,
allerdings haben viele Russischsprachige Verständnis für Russlands Politik. Die Jungen
hingegen orientieren sich bereits seit langen Richtung Europa“, so Anatolys.
19
Mit Anatolys Sohn Evgenis habe ich mich ebenfalls unterhalten. Er ist Anfang dreißig
und konnte erst vor kurzem seine erste Arbeitsstelle nach dem Studium antreten. In
seinen Augen ist dies eines der größten Probleme Lettlands. Die ethnische
Problematik sei zwar noch präsent, doch ist diese längst nicht mehr so ernst zu
nehmen wie noch vor ein paar Jahren. „Die jungen Russischsprachigen sprechen
passables Lettisch. Ein anderes Problem ist jedoch, dass man vor allem in Riga auch
ganz ohne Lettisch auskommen könnte”, sagte Evgenis. Auf die Frage, ob er eine
Instrumentalisierung der russischen Minderheit verspüre antwortet er mit einem Nein.
„Wir bekommen ja alles mit, allerdings möchte hier niemand russische Truppen
einmarschieren sehen. Wir sehen Lettlands Zukunft in der Europäischen Union. Eine
Sache muss ich allerdings loswerden. Als ich noch Student war, haben unsere
Professoren uns die EU damit schmackhaft machen wollen, dass wir eben dann
wegziehen könnten und in der EU arbeiten dürften. Nun frage ich mich inwiefern es
Lettland nützt, wenn junge Menschen weggehen?“, sagte Evgenis. Er nahm mich
ebenfalls mit zu seinen Freunden und erzählte von meinem Projekt und meiner Reise.
Dabei konnte ich ebenfalls Irina und Pavel kennenlernen. Beide sind Anfang dreißig
und russischsprachig. Wir redeten über Lettland, die Europäische Union und
insbesondere die russische Minderheit in der Hauptstadt. Irina erzählte von ihren
persönlichen Erfahrungen. „Auf privater Ebene gibt’s es keinerlei Probleme zwischen
Letten und Russen, gar in unserem Freundeskreis, man kommt hervorragend
miteinander aus. Viele junge Letten empfinden es sogar als Manko, dass sie kein
Russisch können“, sagt sie. Ihr Freund Pavel pflichtet ihr bei: „Dieses Lette-Russe
“Spiel“ fängt immer vor den Wahlen an, auf einmal ist es dann alles wieder präsent
und jede Zeitung schreibt darüber. In meinen Augen ist das nur ein Ablenken vom
Versagen der Politik. Die Menschen sind in den Köpfen schon sehr viel weiter.“
Auch mit dem 90 - jährigen Vater von Anatolys, Sergejs unterhalte ich mich
ausgiebig. Er ist 1951 aus Weißrussland nach Lettland gekommen. „Es gab hier nach
dem Krieg viel Arbeit, man hat uns gebraucht“, so Sergejs. Er erzählt mir von seinen
Erfahrungen im Krieg, der Schlacht um Berlin und teilt mir seine Sorge mit, dass so
etwas wieder passieren könnte. Auch er bekomme die angespannte Situation mit,
doch hoffe sehr, dass sich die Lage beruhigt. Hinsichtlich der lettischen Zwiespaltung
zwischen der EU und Russland bemerkt Sergejs: „Ich hoffe, dass wir uns mit Hilfe der
EU endlich mit den wirtschaftlichen Fragen unseres Landes beschäftigen werden und
nicht weiterhin auf der russischen Sprache rumhacken.“
20
Sehr prägend war für mich ebenfalls das Gespräch mit dem Taxifahrer Dimitri. Er ist
ein ethnischer Ukrainer, der bereits seit über 30 Jahren in Lettland lebt. Die Ereignisse
im Osten der Ukraine lassen auch ihn nicht kalt. Er habe dort noch einen sehr großen
Teil der Verwandtschaft der in Kiew und Donezk lebt. Mit den Verwandten in Kiew
telefoniere er noch gelegentlich, erzählt er mir, der Kontakt zu dem Teil der Familie in
Donezk ist abgebrochen. „ Es ist eine schreckliche Situation, ein Bruderkrieg! Da
stehen sich teilweise Vater und Sohn gegenüber. Es ist schrecklich!“, sagt Dimitri.
Sogar in seiner Familie ist man aufgrund der Ereignisse
tief verstritten. Man habe sich teilweise schlichtweg
nichts mehr zu sagen. In seinen Augen wirkt sich die
Situation auch auf Lettland aus. „Ich finde, dass
rationale Menschen sich jetzt gegen die russische
Aggression aussprechen. Klar gibt es auch die
anderen, aber die meisten sind gegen solch ein
Vorgehen bei uns im Land. Weißt du, ich habe keine
lettische Staatbürgerschaft, bin ein sogenannter
„Alien“7 und trotzdem fühle ich mich hier wohl und
Pass eines Nichtbürgers
möchte, dass wir in Frieden leben“, bemerkte Dimitri.
Bei einer Veranstaltung der “Russischen Gemeinde Lettlands“ habe ich zwei
Studentinnen kennengelernt, die ebenfalls der russischsprachigen Minderheit
angehören. Ella und Nadya sprechen ebenfalls perfektes Lettisch und studieren
Wirtschaftswissenschaften an der Universität in Riga. Wir kamen schnell ins Gespräch
und unterhielten uns über die russischsprachige Minderheit Lettlands. Die beiden
Studentinnen erzählten mir von einem Generationskonflikt unter den
Russischsprachigen. Ella meinte: „Meine Mutter ist ethnische Lettin und mein Vater
ethnischer Russe. Meine Eltern und ich haben sehr unterschiedliche Sichtweisen auf
das heutige Lettland. Ich habe ein Jahr lang in Lyon studiert und muss sagen, dass
ich meine Zukunft in Europa sehe. So denken viele junge Menschen in Lettland, egal
ob russisch oder lettisch“, sagt Ella. „Die ältere Generation sieht in der EU eine
Bedrohung“, pflichtet Nadya ihr bei. Die beiden Studentinnen erzählen mir, dass sie
ihre Zweisprachigkeit lieben, doch sich vielmehr Lettland als Russland verbunden
7
Als “Alien“ werden teilweise lettische Nichtbürger bezeichnet. Diese Bezeichnung kommt von einen
sogenannten Nichtbürgerpass („Aliens passport“).
21
fühlen. Über den Ukraine-Konflikt können sie nicht viel sagen außer, dass man das
menschliche Leid beenden sollte.
Bei meinem Besuch des Okkupationsmuseums in Riga treffe ich auf Aivars. Schnell
kommen wir ins Gespräch und unterhalten uns über die Ausstellung. Aivars zeigte
zwei Studenten aus China das Museum. Er ist Student an der Technischen Universität
in Riga. Ich erzählte von meiner Reise und meinem Thema. Aivars lachte und meinte,
dass die Frage gerade sehr aktuell sei und dass viele Politiker die Ängste der Leute
schüren würden. „Es ist doch so, Konfrontation bedeutet Aufrüstung und das kostet
Unmengen an Geld, Geld, das wir woanders vielmehr gebrauchen könnten“, sagt
Aivars. Hinsichtlich der Instrumentalisierung der russischsprachigen Bevölkerung meint
Aivars: „Ehrlich gesagt, bin ich schon der Meinung, dass die Menschen
instrumentalisiert werden. Wir haben zwar keine Konflikte, jedoch sehr
unterschiedliche Meinungen. Auch unter Studenten ist dies zu spüren. Mit meinen
russischsprachigen Freunden rede ich nur wenig über Politik, aber wenn das Thema
hochkommt, heißt es gleich der böse Westen.“
Ein interessantes Gespräch habe ich ebenfalls in Dauvgavpils führen können.
Daugavpils ist die zweitgrößte Stad Lettlands und überwiegend russischsprachig. Dort
traf ich den Stadtrat Jurij Zaicev. Wir sprachen über die
aktuelle Situation in Lettland sowie die Auswirkungen
der Spannungen zwischen dem Westen und Russland
auf die russischsprachige Minderheit in Lettland. Herr
Zaicev ist in den internationalen Medien in Erscheinung
getreten, als bekannt wurde, dass er aufgrund eines
fehlenden Sprachtests in Lettisch sein Mandat verlieren
sollte. Inzwischen hat er den Sprachtest nachgeholt,
doch die
Unverständnisse wie
ein gewählter
Jurij Zaicev
Volksvertreter aufgrund eines fehlenden Tests sein
Mandat verlieren könne blieben. Herr Zaicev setzt
sich aktiv für die Interessen der russischsprachigen
Minderheit in Lettland ein. Er organisierte
Nachweis über den abgelegten Lettischtest
22
zahlreiche Proteste für die Erhaltung der russischen Schulen sowie für die Stärkung der
Rechte der Nichtbürger. Wir trafen uns in Räumlichkeiten der russischsprachigen
Gemeinde in Daugavpils. Aufgrund dessen konnte ich mich ebenfalls mit Vertretern
der Gemeinschaft austauschen und neue Erfahrungen sammeln. Auf meine Frage
was gerade die russischsprachige Gemeinschaft von der lettischen Präsidentschaft
im Rat der Europäischen Union erwarte, antwortete Herr Zaicev: „Wir erwarten im
Prinzip nichts Neues, glauben aber, dass die Problematik der Nichtbürger in der Zeit
der Präsidentschaft nicht so radikal behandelt wird.“ Zaicevs Meinung nach möchte
die regierende Koalition den Einfluss der russischen Sprache immer weiter
eindämmen. Er und seine Mitstreiter würden gegen die Entwicklung ankämpfen,
teilte er mir mit. „Auch bei unserer politischen Arbeit werden uns ständig Steine in
den Weg gelegt. So versuchte ich eine regionale Partei zu gründen, die jedoch aus
fadenscheinigen Gründen nicht registriert wurde. Oder als wir einen Film über die
Gräueltaten im Zweiten Weltkrieg vorführen wollten, wurden uns der Zugang zu den
Austragungsort im letzten Moment verwehrt, daraufhin haben wir Hilfe von der
deutschen Gesellschaft in Daugavpils erhalten, in deren Räumlichkeiten der Film
letztlich ausgestrahlt wurde“, sagte der Politiker. All diese Dinge würden Zaicevs
Ansicht nach das weitgehend harmonische Zusammenleben der Letten und Russen
stören. Auch die Problematik der Nichtbürger erwähnt Zaicev mehrmals. Die
Spannungen zwischen dem Westen und Russland würden seiner Ansicht nach
ebenfalls nicht spurlos an Lettland vorbeigehen. „Gerade die Situation in der Ukraine
macht den Menschen Sorgen. Alle verfolgen die Ereignisse und versuchen mit
Spenden zu helfen“, sagte Zaicev. Die Frage, ob ein vergleichbares Szenario auch
Lettland drohen könnte, verneinte er. Seiner Meinung nach würde man nur
unbegründete Ängste schüren und unnötig teures Kriegsgerät anschaffen. Seiner
Ansicht nach benötige die russischsprachige Minderheit keinen Schutz und ist
ebenfalls im Stande sich selbst zu verteidigen. Eine Instrumentalisierung der
Russischsprachigen seitens Russlands sieht er nicht. „Zweifelsohne werden die
Russischsprachigen von Russland unterstützt, derzeit beispielweise benötigen die
sogenannten Nichtbürger kein Visum für die Einreise in die Russische Föderation,
auch Veteranen des Zweiten Weltkriegs wird teilweise finanziell geholfen. Allerdings
ist dies keine Instrumentalisierung. Sehen Sie die Armenier, Israelis und auch Deutsche
unterstützen ihre Leute im Ausland. Das wird von aller Welt akzeptiert und anerkannt,
warum nicht im Falle Russlands?“, so Zaicev. Über die jungen Russischsprachigen
spricht Zaicev ebenfalls. Seiner Ansicht nach sieht die junge Genration in der EU in
23
erster Linie einen wirtschaftlichen Vorteil, man genieße die Vorzüge der europäischen
Freizügigkeit. Abschließend erzählt Zaicev, dass das Zusammenleben der
Russischsprachigen und Letten im alltäglichen Leben sehr gut sei. „Ein gutes Beispiel
des guten Miteinanders der verschieden Volksgruppen ist unser Bürgermeister. Er ist
Lette, sein Frau ethnische Russin. Es gibt viele Mischehen. Übrigens sind die
Russischsprachigen nicht erst mit der Sowjetunion hergekommen, wir waren schon
vor dem 17 Jh. hier, nach der Spaltung der orthodoxen Kirche. Wir gehören auch zu
Lettland!“, sagte Jurij Zaicev.
Ein ebenfalls sehr interessanter Gesprächspartner war Gunnar. Er ist ethnischer Lette
und 64 Jahre alt. Über Aivars kam ich mit ihm ins Gespräch. Während der
Sowjetunion saß er mehrmals aufgrund seiner politischen Aktionen im Gefängnis. „Wir
und paar meiner Freunde haben alles Mögliche unternommen, Anti-Sowjet Sprüche
an die Wände geschmiert, den Milizautos die Reifen zerstochen, viel Blödsinn eben“,
erzählte Gunnar. Dafür hat er insgesamt mit knapp zehn Jahren Gefängnis bezahlt.
Nach dem Zerfall der Sowjetunion schloss sich Gunnar den nationalen Kräften
Lettlands an. „Ich war sogar Mitglied bei LNNK8“, sagte er. Nun ist Gunnar im
Ruhestand und hat “viel Zeit sich mit lettischer Geschichte zu beschäftigen“, erzählte
er. Seiner Ansicht nach sei die EU eine gute Sache für Lettland, allerdings würde das
Land personell ausbluten. „Die Jungen wollen alle weg, wir kämpften alle für ein
freies Land, heute ist es nichts mehr wert, ich finde da hat unsere Regierung versagt,
man biete den Leuten keine Anreize mehr“, so Gunnar. Die aktuellen Spannungen
rund um Russland und die Ukraine beobachtet auch er mit großer Sorge. „Weißt du,
ich befürchte dies könnte auch bei uns böse Kräfte hervorrufen, aber eine zweite
Ukraine werden wir nicht, wir sind schon längst mental in Europa angekommen, nur
unsere Politiker verstehen es nicht wirklich“, sagte mein Gesprächspartner.
Hinsichtlich einer russischen Instrumentalisierung meinte er: „Schau mal die Leute, die
auf die russische Propaganda hereinfallen können nicht mehr mobilisiert werden, es
sind ältere so wie ich. Die Jungen wissen, was sie an Europa haben. Da spielt es keine
große Rolle mehr, ob du Russe oder Lette bist.“
Die genannten Gespräche waren für mich sehr interessant und informativ. Ich konnte
dadurch sehr viele Eindrücke für meine Reise und meine Recherche gewinnen.
8
Tēvzemei un Brīvībai/LNNK war ein nationalistische Partei in Lettland, die zur Partei Nacionālā
apvienība "Visu Latvijai!"—"Tēvzemei un Brīvībai/LNNK" wurde. Diese ist ebenfalls an der aktuellen
Regierung in Lettland beteiligt.
24
Dabei hat mich besonders der Einblick in die verschieden Gesellschaftsgruppen
fasziniert. Abschließend nach allen Gesprächen kann ich feststellen, dass die
Kernaussage darin besteht, dass das Land allen Problemen zum Trotz immer mehr
zusammenwächst und die Sprache sowie die ethnische Herkunft inzwischen eine
immer weniger relevante Rolle spielt.
25
IV. Gründe für eine mögliche Instrumentalisierung
Das Leben der Menschen in Lettland ist vom friedlichen Miteinander geprägt. Die
mediale Aufregung, welche die unermessliche Kluft der Letten und ihrer
Minderheiten beschreibt, ist nicht ohne weiteres feststellbar. Man kann die
Diskrepanzen ausschließlich in sehr kleinen Dingen des alltäglichen Lebens erfahren.
Nichtsdestotrotz existieren zahlreiche Meinungen, die aufeinander prallen und die
Geschichte des Landes macht die Situation nicht immer einfach. Im Folgeneden
möchte ich noch einmal darlegen, welche Streitpunkte teilweise zur
Instrumentalisierung der Menschen benutzt werden.
Zum einen kommt immer wieder die Frage des Zweiten Weltkrieges auf. Für Lettland
war es eine besonders schwere Zeit, da sowohl Sowjetunion als auch das HitlerDeutschland die Letten in den
Kriegsdienst eingezogen hatten.
Teilweise geschah dies auf
freiwilliger Basis meist jedoch
wurden die Menschen gezwungen.
Nach dem Zweiten Weltkrieg
wurden die Veteranen der Roten
Armee als Helden gefeiert, der sog.
SS-Legionäre, wie die Angehörigen
der lettischen SS Einheiten
bezeichnet wurden, konnte nur im
Privaten gedacht werden. Nach der
Unabhängigkeit des Landes
änderte sich die Situation. Nun
treffen sich jährlich am 16. März
Veteranen und deren Angehörige
Lettisches Okkupationsmuseum
am Freiheitsdenkmal, um die
Gefallenen zu ehren. Dies ist kein
offizieller Feiertag, die Durchführung der privaten Festlichkeiten wird jedoch
genehmigt. Am 9 Mai hingegen feiern insbesondere Angehörige der russischen
Minderheit den Tag des Sieges über Nazi-Deutschland. Diese zwei Ereignisse sorgen
26
stets für eine Konfrontation in der Bevölkerung. Die Veranstaltungen werden stets von
zahlreichen Protesten begleitet.
Des Weiteren wird ebenfalls immer wieder die Frage nach der Besatzung Lettlands
aufgeworfen. Die russische Minderheit wehrt sich dagegen die Zeit ab 1945 als
Besatzung zu bezeichnen. Man ist der Meinung, dass Lettland eine reguläre
Sowjetrepublik war. Der überwiegende Teil der Russischsprachigen vertritt die Ansicht,
dass man insbesondere das Land aufgebaut und wirtschaftlich nach vorne gebracht
habe. Diese Ansicht wird von der lettischen Regierung abgelehnt und sorgte bereits
für zahlreiche
Konfrontationen.
Abschließend sollte ebenfalls
die Problematik der
Nichtbürger erwähnt
werden. Menschen mit
russischen
Sprachhintergrund, die nach
1940 nach Lettland
gekommen sind, besitzen
gesonderte Papiere, in
denen sie als „Aliens of the
Republic of Latvia“ also als
Nichtbürger Lettlands
ausgewiesen werden.
Dabei kann ein Nichtbürger
jederzeit einen Antrag auf
Erlangung der lettischen
Ex-KGB Gebäude, heute ein Museum
Staatsbürgerschaft stellen. Hierfür werden ein Wohnsitz in Lettland seit mindestens
fünf Jahren und ein Test in lettischer Sprache, Geschichte sowie den Grundlagen der
lettischen Verfassung verlangt.9 Der Status der Nichtbürger wird von der russischen
Seite scharf kritisiert, die lettische Regierung verweist dabei auf die Wahrung
nationaler Interessen. Ebenfalls vertritt man die Meinung, dass die entstandene
9
V. Rauchhaupt, J., Die EU bekommt den schwarzen Peter, 2007, http://www.lettischepresseschau.de/politik/eu/157-nichtbr-status-eu-bekommt-nun-den-schwarzen-peter-, Abruf am
12.02.2015.
27
Situation einem Außenstehenden nicht ohne weiteres klar vermittelt werden kann. Im
Jahre 1935 waren 77 Prozent der Bevölkerung Letten, Ende der 80-er Jahre betrug
der Anteil nur noch 52 Prozent.10 Aus diesen Gründen sah sich die lettische Regierung
gezwungen dagegen zu steuern.
All diese Punkte führten bereits zur zahlreichen Konfrontationen in der Bevölkerung
und bleiben auch weiterhin sehr problematisch. Allerdings sollte man bemerken, dass
die Spannungen zwischen den verschieden Volksgruppen kleiner werden. Auch der
Ukraine-Konflikt hat daran mit kleinen Ausnahmen im Osten des Landes nicht viel
verändert.
10
O. V., 2014, http://www.census.gov/
population/international/data/idb/region.php?N=%20Results%20&T=13&A=separate&RT=0&Y=2050&R=1&C=LG, Abruf am 12.02.2015.
28
V. Erkenntnisse und persönliche Eindrücke von der Reise
Die Reise nach Lettland prägte meine Sicht auf die EU. Es ist ein Land, welches vor
großen demographischen sowie wirtschaftlichen Herausforderungen steht und
nichtsdestotrotz an die europäische Idee glaubt. Der Euro wird dort weniger als
Krisenwährung denn als Hort der Stabilität gesehen, man steht Europa sehr
aufgeschlossen gegenüber. Bemerkenswert ist ebenfalls, dass Lettland trotz der
angespannten Lage um die russische Politik viel gelassener und sachlicher bleibt als
viele Stimmen im Westen.
Die Zweisprachigkeit, Lettisch und Russisch, fällt einem Außenstehenden sofort auf. Es
gibt Viertel die russisch dominiert sind, andere wiederum lettisch. Eine Konfrontation
dieser beiden Welten, wie in der westlichen Medienlandschaft oft angedeutet, kann
von meinen Erfahrungen nicht wirklich bestätigt werden. Allerdings konnte ich sehr
wohl bereits zu Beginn meiner Reise feststellen, dass es immer wieder Situationen im
Alltag der Bewohner Rigas gibt in denen die beiden Sprachen miteinander
konfrontiert werden. Bei einem Einkauf in einem kleinen Laden in der Innenstadt
stellte ich sofort nach dem Betreten des Geschäfts fest, dass die Kundschaft hier
überwiegend russischsprachig war, dennoch oder gerade deshalb wurde ich an der
Kasse von einem Mitarbeiter auf Lettisch angesprochen. Wider meiner Erwartungen
machte er keine Anstalten mit der
Kundschaft Russisch zu sprechen. Im
Gegenteil machte der Verkäufer einen
leicht genervten Eindruck. Es war
deutlich zu merken, dass er
ausschließlich auf Lettisch
kommunizieren möchte.
Ich hatte die Möglichkeit mich mit
vielen Menschen vor Ort austauschen
Eishockey: Riga gegen Cheljabinsk
zu können, mir wurde mehrmals bestätigt, dass die ethnische Frage vor allem seit
dem Beitritt in die Europäische Union an Bedeutung verloren hat. Das Land geht mit
seiner Geschichte deutlich gelassener um. Es gibt sehr viele Mischehen und Russisch
wird zusehends als Vorteil betrachtet. Im alltäglichen Leben sieht man keinerlei
Probleme im Umgang der Russischsprachigen mit den Letten. Dies war besonders zu
beobachten, als ich ein Eishockey Spiel zwischen der Mannschaft aus Riga und ihrem
russischen Rivalen aus Cheljabinsk besuchte. Man würdigte den Gegner, bei den
29
Hymnen der beiden Länder standen alle Menschen auf. Eine ähnliche Beobachtung
konnte ich bei einem russischen Kulturfest zum Ausklang des Winters machen, der
sogenannten „Maslenica“. Unter den Anwesenden waren ebenfalls viele Letten, die
gerne das Angebot der russischsprechenden Minderheit annahmen. Der russische
Botschafter Alexander Veshnjakov nahm ebenfalls an der Veranstaltung teil. In seiner
Rede verabschiedete er jedoch nicht nur den Winter, was der eigentliche Sinn dieser
kulturellen Veranstaltung war, er machte auch auf die angespannte Lage in der
Ukraine aufmerksam. Für mich zeigte dies erneut,
dass die Angst vor einem ukrainischen Szenario
ebenfalls in Lettland geschürt wird. Obgleich es sich
hierbei zweifelsohne um ein sehr aktuelles und
wichtiges Thema handelt, hatte es dennoch mit dem
eigentlichen Sinn der Veranstaltung nichts zu tun.
Meiner Ansicht nach war in solch einem Auftritt
ebenfalls der Versuch einer Einflussnahme bzw. ein
Versuch der Beeinflussung der Russischsprachigen in
Beim Kulturfest “Maslenica”
Lettland erkennbar. Im Publikum befanden sich
Menschen aus allen Gesellschaftsschichten, man
wollte einem kulturellen Fest beiwohnen und nicht einmal da konnte die Politik außen
vor bleiben. Dieser Vorfall bestätigte erneut meinen Eindruck, dass die Menschen in
Lettland im alltäglichen Leben bestens miteinander klar kommen, allerdings bleiben
sie bedauerlicherweise weiterhin das Ziel politischer Einflussnahme.
Eine weitere Beobachtung, die ich während meiner Reise machen konnte, war dass
die Menschen sich vor Provokationen in Acht nehmen. In den Gesprächen, die ich
im Zuge meines Aufenthaltes durchführte, wurde mir gesagt, dass man sich
insbesondere vor Extremisten auf beiden Seiten fürchte. Man versicherte mir, dass
man kein grundsätzliches Problem in der Bevölkerung sehe, gar im Gegenteil, was
nunmehr an der Wahl eines russischsprachigen Bürgermeisters in der Stadt Riga zu
beobachten ist. Allerdings könnten bestimmte Äußerungen der Politiker für Unruhe
sorgen und Menschen auf die Straßen treiben. Bislang war die Situation in Lettland
sehr friedlich geblieben. Sogar als das Zentrum der Staatssprache Lettlands den
Bürgern empfohlen hatte, auf der Arbeit nur Lettisch zu sprechen, blieben die
Menschen sehr gelassen. Aus Moskau kamen unverzüglich zahlreiche Proteste, in
Lettland wurde nur wenig demonstriert. Jedoch haben schon sehr bald darauf
30
zahlreiche Politiker Lettlands erklärt, dass solch eine Empfehlung an der Realität im
Land vorbei gehe. Solche Ereignisse zeigen, dass die Menschen sich nicht
instrumentalisieren lassen und die Entwicklungen sehr wohl hinterfragen.
Es ist meiner Ansicht nach nicht zu leugnen, dass es in Lettland zahlreiche Probleme
gibt, ebenfalls im Umgang mit der russischsprechenden Minderheit. Auch der UNOMenschenrechtsrat in Genf hat den Umgang Lettlands mit seiner russisch-sprachigen
Minderheit kritisiert. Nichtsdestotrotz hat sich die Lage in den letzten Jahren stark
verändert, die Zahl der Nichtbürger sinkt und für die jungen Russischsprachigen ist es
nun eine Selbstverständlichkeit die
Landessprache zu erlernen. Interessant war
jedoch die Tatsache, dass viele meiner
Interviewpartner mir mitteilten, dass das Erlernen
der Sprache an sich nicht wirklich ein Problem
darstelle, vielmehr mangelt es an der Praxis. Oft ist
es so, dass die Menschen nicht aus ihrem
russischsprechenden Umfeld herauskommen und
somit ihre Sprachfähigkeiten nicht ausbauen
können. Dem wird
inzwischen strak
Austragungsort eines berühmten
russischen Humor-Wettbewerbs “KVN“
entgegen gelenkt.
Heutzutage werden in Lettland sogar auf den
sogenannten russischen Schulen 60 Prozent der
Fächer in Lettisch unterrichtet. Ein ähnliches Muster
lässt sich auch bei der englischen Sprache erkennen,
obwohl Lettland mittlerweile ein fester Bestandteil der
Historische Bauten in
Jurmala
Europäischen Union ist, lassen die Englisch Kenntnisse
vieler Bewohner doch sehr zu wünschen übrig. Dies
könnte ebenfalls auf die mangelnde Praxis
zurückgeführt werden. Ich selbst habe diese Erfahrung während meines Aufenthalts
in Riga gemacht. Da ich mir leider eine schwere Erkältung eingefangen habe,
musste ich die nächste Apotheke aufsuchen. Dort habe ich versucht auf Englisch
Medikamente zu bestellen, der Verkäufer gab mir zunächst zu verstehen nicht mit mir
auf Englisch kommunizieren zu wollen, nach weiteren Versuchen nahm er es jedoch
mürrisch hin und bediente mich schließlich. Diese Erfahrung blieb aber ein Einzelfall,
in anderen Situationen konnte ich mich hinreichend gut auf Englisch verständigen.
31
Das Problem mit der russischen Sprache bleibt jedoch im Osten des Landes auch
weiterhin bestehen. In der Stadt Daugavpils wird meiner Ansicht nach fast nur
Russisch gesprochen. Hier kommen die Sympathien zur russischen Politik viel stärker
zum Ausdruck. Allerdings ist nunmehr ebenfalls in Daugavpils die Problematik eine
Generationsfrage. Meine Erfahrungen zeigen, dass wenn sich ältere Menschen
durchaus mit Russlands Politik identifizieren können, streben die Jungen vielmehr
Richtung Westen und der EU. Der Osten des Landes hat jedoch auch ein anderes
Problem. Die Armutsgefährdung war für mich sehr auffallend. Das
Durchschnittsgehalt in Lettland liegt bei 700 Euro11, bei etwa gleichen Preisen wie in
Deutschland. Dies sorgt ebenfalls für eine Abwanderung der Jungen auf der Suche
nach Arbeit in den westlichen Teil der Europäischen Union.
Bei meinem Ausflug nach Jurmala, einem Badeort vor Riga konnte ich ebenfalls
einen starken russischen Einfluss
ausmachen. Die meisten der
prächtigen Neubauten wurden
mit russischem Geld bezahlt. Die
wohlhabenden Russen
investieren gerne in Lettland, das
Land ist sehr nah und befindet
sich in der EU, man wähnt die
Kapitaleinlagen in Sicherheit. Ein
weiterer Vorteil solcher
Investitionen ist, dass man bislang
in Verbindung damit eine
Aufenthaltsgenehmigung
erhalten konnte. Die Änderung
entsprechender Gesetzte wird
jedoch stark debattiert. Die
Menschen vor Ort begrüßen die
Am Rigaischen Meerbusen in Jurmala
Investitionen, diese sorgen für
11
https://ec.europa.eu/eures/main.jsp?catId=8375&acro=living&lang=de&parentId=7784&countryId=LV
&living=, Abruf am 11.02.2015.
32
Beschäftigung und steigende Einnahmen. In den Sommermonaten ist die Stadt von
russischen Touristen überflutet, berichten die Einheimischen. Dieser Trend könnte
jedoch aufgrund der politischen Schwierigkeiten rückläufig werden.
Insgesamt muss ich sagen, dass Lettland einen großen Spagat zu bewältigen hat.
Einerseits steht man vor dem Problem, dass Russland zweifelsohne versucht Einfluss
auf die russischsprachige Bevölkerung auszuüben, andererseits möchte man nicht
auf die Investitionen verzichten. Seit den neusten Entwicklungen ist die
Gradwanderung offensichtlich noch schwieriger geworden. Das Schwarz-Weiß
Denken hat bedauerlicherweise zugenommen. Abschließend möchte ich bemerken,
dass mein Fazit ein positives bleibt. Es ist tatsächlich so, dass gewisse Probleme da
sind, doch versucht man diese ohne jeglichen Radikalismus zu lösen. In der Politik ist
man auf Ausgleich bedacht, im alltäglichen Leben fällt dem Betrachter ein netter
Umgangston auf, eine kleine Parallelwelt der Russischsprachigen lässt sich
selbstverständlich nicht wegdiskutieren, doch hat diese nicht die Auswirkungen,
welche eine Instrumentalisierung mit sich bringen würde. Das Anheizen der Lage fällt
meiner Ansicht nach nicht auf einen fruchtbaren Boden.
33
VI. Schlusswort und Ausblick
Die Zeit in Lettland ist sehr schnell vergangen. Jeden Tag habe ich etwas Neues
entdecken und erleben können. Es war eine sehr prägende Erfahrung. Ich habe viele
interessante Persönlichkeiten kennen lernen dürfen und hatte die Möglichkeit mit
Menschen aus verschieden Lebensbereichen in Kontakt treten zu können. Die Reise
hat mir geholfen Europa aus einer anderen Perspektive zu sehen und vielleicht ein
Stück weit zu verstehen, was uns als Gemeinschaft ausmacht und welche
gemeinsamen Werte wir teilen. Die Problematik der lettischen Minderheiten machte
noch einmal klar wie fragil die Europäische Integration sein kann.
Es lässt sich feststellen, dass die russischsprachige Minderheit Lettlands einem starken
Einfluss aus Russland ausgesetzt ist. Sehr oft sind es nostalgische Launen oder auch
ein tief sitzendes Gefühl nach dem Zerfall der Sowjetunion ungerecht behandelt
worden zu sein. Die Menschen fühlen sich oft im Stich gelassen. Die russischen
Medien vermitteln dabei teilweise lediglich ein einseitiges und populistisches Weltbild.
Die Stimmung wird dabei immer mehr angeheizt. Nichtsdestotrotz muss man sagen,
dass obwohl sich zahlreiche meiner Gesprächspartner verständnisvoll über die
russische Politik äußerten, so hat auch jeder unmissverständlich klar gemacht, dass
niemand solch einen Ausgang bzw. Eskalation der Ereignisse wie in der Ukraine
möchte. Viele Russischsprachige sagten mir ebenfalls, dass sie sich bereits Ende der
80-er Jahre für die Unabhängigkeit Lettlands eingesetzt hatten. Ihnen geht es nicht
darum eine Sowjetunion 2.0 errichten zu wollen, vielmehr besteht man darauf ein
gleichberechtigter Teil Lettlands zu sein und nicht einfach eine große Minderheit. Ich
konnte den Eindruck gewinnen, dass gerade die junge, russischsprachige
Generation dem lettischen Staat besonders loyal gegenübersteht. Die EU sieht man
als ein zukunftsweisendes Projekt, welches allerdings ständiger Reformierung bedarf.
Die Problematik der Sprache bei den jüngeren Russischsprachigen ist längst ein
unbedeutendes Thema. Vielmehr interessieren sie sich für dieselben Fragen wie die
Westeuropäer. Man befasst sich mit der Jugendarbeitslosigkeit sowie den
demographischen Wandel, die Frage der Minderheiten steht nicht mehr ganz oben
auf der Agenda.
Nichtsdestotrotz ist eine gewisse Spannung zu verspüren. Die ukrainischen Ereignisse
haben die öffentliche Meinung Lettlands zweifelsohne stark geprägt. Dabei gilt es
34
anzumerken, dass die versuchte Instrumentalisierung der russischen Minderheit nur
sehr begrenzt auf einen fruchtbaren Boden fällt. Darüber hinaus befinden sich unter
der Russischsprachigen Bevölkerung ebenfalls ethnische Weißrussen sowie Ukrainer,
die die Expansionspolitik keineswegs gutheißen.
Russland als Schutzmacht um Hilfe zu ersuchen hielten die meisten meiner
Gesprächspartner als sehr abwegig. In der Minderheitenfrage sieht man vielmehr ein
innerstaatliches Problem, das ebenfalls innerstaatlich gelöst werden müsse. Diese
Problematik existiert bereits seit Jahren und auch der russischen Minderheit ist es nicht
entgangen, dass die Frage der Nichtbürger sowie der russischen Sprache immer
dann zugespitzt wird, wenn die politischen Entwicklungen es erfordern. Nach Ansicht
meiner Gesprächspartner stellt die lettische NATO Mitgliedschaft sowie die
Mitgliedschaft in der EU eine sehr weitreichende Sicherheitsgarantie dar. Doch
glauben die Meisten, dass es nicht zu einem Eingreifen des militärischen Bündnisses
kommen wird. Es gibt unterschiedliche Ansichten zwischen den Letten und der
russischen Minderheit, was die Frage der Besatzung betrifft, man streitet sich um die
politische Mitbestimmung, doch einen gemeinsamen Nenner haben die beiden
Parteien auch und zwar eine friedliche Entwicklung Lettlands sowie ein friedliches
Zusammenleben im Land selbst. Gerade die jüngeren sehen in der Zweisprachigkeit
ausschließlich eine Bereicherung für das Land und wollen sich nicht auseinander
dividieren lassen. Die lettische Regierung unternimmt dabei seit Neustem den
Versuch mehr Medieninhalte in russischer Sprache anzubieten, um dem russischen
Medienapparat etwas entgegenzusetzen. Der Großteil meiner Gesprächspartner
war der Meinung, dass die Menschen es selbst in der Hand hätten, ob sie sich
lediglich auf ein Medium konzentrieren oder mehrere Quellen nutzten.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die russische Minderheit Lettlands mit einer
großen Sorge die Ereignisse in der Ukraine mitverfolgt. Dabei kritisiert man auch die
westliche Vorgehensweise. Auf eine Instrumentalisierung seitens Russlands lässt man
sich jedoch keineswegs ein. Man sieht sich als ein Teil Lettlands und fühlt sich diesem
Land verpflichtet. Die tiefen Gräben, welche nach der Unabhängigkeit des Landes in
der Sprach- sowie Staatsbürgerschaftspolitk entstanden sind, werden zusehends
kleiner. Gerade die junge Generation der russischsprechenden Minderheit sieht sich
als lettisch und nicht russisch. Man ist der Ansicht, dass gute Beziehungen zu Russland
für die heimische Wirtschaft von einem enormen Vorteil sind, doch auch die
Orientierung Richtung Westen sowie eine Konzentration auf den europäischen Markt
35
stößt auf Akzeptanz und Zustimmung. Anfang der 90-er Jahre fühlte man sich
weitgehend in der Opferrolle, viele meinten gar, dass Letten mit den Russen die
Rollen tauschten. Heutzutage sprechen die meisten von Integration statt
Konfrontation, es ist inzwischen vielmehr ein Miteinander als ein Gegeneinander. Man
ist bereit trotz aller Unterschiede die Probleme des Landes gemeinsam zu lösen und
an einer Vertiefung der europäischen Integration zu arbeiten.
36
VII. Quellenverzeichnis
Fülberth, A., Riga: Kleine Geschichte der Stadt, 2013, S.117f.
Mehling, M., Knaurs Kulturführer, 2014, S. 34 - 35.
Perlova, J., Identitätskonstruktionen in den Medien am Beispiel Lettlands. Eine
Frameanalyse zu den Europawahlen 2004 und 2009, 2010, S. 16f.
o.V. (2015) Lebens- und Arbeitsbedingungen in Lettland;
https://ec.europa.eu/eures/main.jsp?catId=8375&acro=living&lang=de&parentId=7
784&countryId=LV&living=, Abruf am 11.02.2015.
o.V. (2015) Sicherheitskreise: Bis zu 50 000 Tote,
http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/ukraine-sicherheitskreise-bis-zu-50-000tote-13416132.html, Abruf am 09.02.2015.
o. V., (2014), http://www.census.gov/
population/international/data/idb/region.php?N=%20Results%20&T=13&A=separate
&RT=0&Y=2050&R=-1&C=LG, Abruf am 12.02.2015.
V. Rauchhaupt, J., Die EU bekommt den schwarzen Peter, 2007,
http://www.lettische-presseschau.de/politik/eu/157-nichtbr-status-eu-bekommt-nunden-schwarzen-peter-, Abruf am 12.02.2015.
Victor, J-C., Sendung - “Mit offenen Karten“ bei Arte, vom 05.12.2014.
37