Olaf Kutzmutz Jurek Becker: Jakob der Lügner Reclam Jurek Becker: Jakob der Lügner Von Olaf Kutzmutz Für Margret K. Die Geschichte Jakob Heyms ist die eines Lichtblicks in finsteren Zeiten. Im Mittelpunkt von Jurek Beckers Roman steht ein »Lügner mit Gewissensbissen« (154)1, dessen Gabe der Rede »ein paar Gramm Nachrichten« in »eine Tonne Hoffnung« (105) verwandelt. Für einige Zeit helfen seine Radiolügen den Ghettobewohnern einer polnischen Kleinstadt, wieder an ein Leben danach zu denken. Aus einem »Zwischenlager des Todes«2 macht Jakob einen Ort bescheidener Zuversicht – keine Selbstmorde mehr im Ghetto, die Menschen schmieden Pläne, treiben alte Schulden ein, »ganz plötzlich ist morgen auch noch ein Tag« (34). Nur der Leser weiß oder ahnt zumindest, dass kaum einer von ihnen die NS-Zeit überleben wird. Der Rohstoff für Jakob der Lügner stammt von Beckers Vater. Er hatte seinem Sohn von einem Mann im Lodzer Ghetto erzählt, der trotz strengsten Verbots Radio Moskau und Radio London gehört und diese Nachrichten im Ghetto verbreitet hat. Als ihm die Gestapo auf die Schliche kam, wurde er erschossen. Solch ein Stoff entsprach den Mutmach- und Verständigungsgeschichten einer sozialistischen Literaturästhetik, der Werke wie Nackt unter Wölfen von Bruno Apitz folgten. Beckers Sympathie gilt eher moralischen Durchschnittscharakteren, die passiven Widerstand leisten. So lässt Becker im Fragebogen des Magazins der Frankfurter Allgemeinen Zeitung überall dort Leerstellen, wo er seine »Helden« in Geschichte und Gegenwart nennen soll – einzige Ausnahme: »die Wehrkraftzersetzer«3. Erst eine künstlerische Idee macht aus der 1 © 2003 Philipp Reclam jun., Stuttgart. Olaf Kutzmutz Jurek Becker: Jakob der Lügner Reclam väterlichen Vorlage zu einem Heldenepos eine für Becker erzählbare Form. Er verändert die Geschichte insofern, als »die anderen nur denken, daß der Mann ein Radio hat, der hatte in Wirklichkeit aber keines«.4 Im Westen wie im Osten Deutschlands ist Beckers Romandebüt erfolgreich, selbst wenn der erste Rezensent im Neuen Deutschland verhaltener lobt. Werner Neubert hebt im Zentralorgan der SED die »erzählerische Dichte, klug-sichere Fabelführung, prägnant-schöne Sprache« und den »fesselnden Grundeinfall« hervor. Er vermisst hingegen ein deutliches Bekenntnis zur Ästhetik des sozialistischen Realismus. Beckers Roman zeige nicht, »wie die klarsten Kräfte der Klasse den realen Kampf organisierten und führten«. Die Hoffnung, die der Kleingewerbetreibende Jakob Heym verbreitet, vertraue zudem nicht auf »Klassenposition und politisches Bewußtsein«. Trotz solcher Einwände überwiegt am Schluss Neuberts Lob für einen talentierten Autor, und demnach könne sich Jakob der Lügner »mit den besten Werken unserer antifaschistischen Literatur über die faschistische Schreckenszeit von vor einem Vierteljahrhundert messen. Der Humanismus dieses Werkes muß jeden Leser tief ergreifen.«5 Neuberts Kritik ist verständlicher, wenn man weiß, dass Jakob der Lügner in der DDR wenige Jahre zuvor als Drehbuch abgelehnt wurde.6 Dieses Drehbuch, von Becker 1965 für die volkseigene Deutsche Film AG (DEFA) geschrieben, hatte in der DDR keine Chance, produziert zu werden. Becker sah dafür zwei Gründe: »Ich stellte nicht, wie üblich in der DDR-Literatur, den Widerstand gegen die Nazis in den Mittelpunkt, sondern Juden. Meine Figuren des Wortwiderstands waren in die übliche Widerstandskategorie nicht einzuordnen. Der andere Grund: In allen ordentlichen Büchern über die Nazizeit gehörte es sich, daß am Schluß die Befreier kamen. Bei mir kamen sie nicht.« Die »staatliche Zulassungspolitik« achtete zudem darauf, wie stark ein Werk die öffentliche Meinung beeinflussen würde. So durfte die kaum verbreitete 2 © 2003 Philipp Reclam jun., Stuttgart. Olaf Kutzmutz Jurek Becker: Jakob der Lügner Reclam Lyrik auf die größte Freiheit hoffen, Massenmedien wie Kino und Fernsehen auf die geringste.7 Die Westkritiker lobten Beckers »anderen Hiob« und rechneten seinen Schöpfer zum »Geschlecht der traurigen Humoristen«. Im »sympathischen Flunkerer« Jakob sahen sie gleichsam eine »Symbolgestalt für alle Geschichten-Erzähler«.8 Selten sind Einwände gegen Jakob der Lügner, nach denen der Roman »spielerisch« mit einer Wirklichkeit umgehe, »die absolut nichts Spielerisches«9 habe. Als weiteres Indiz für den Rang von Jakob der Lügner im Westen darf u. a. gelten, dass die Sammlung Luchterhand mit diesem Roman 1970 ihre Reihe eröffnete, und zwar nur ein Jahr nach der Erstausgabe im Aufbau Verlag. Beckers Roman wirkte zudem über die deutschen Grenzen hinaus, was mehr als ein Dutzend Übersetzungen des Werks und eine Verfilmung (USA 1999) belegen. Eine Kindheit erfinden Das Thema des Romans, die Kunst und Not des Lügens in schwieriger Zeit, passt zur Biografie Beckers. Als Kind jüdischer Eltern überlebte er das Ghetto von Lodz und die KZs von Ravensbrück und Sachsenhausen, und das vor allem durch eine kleine Schwindelei seines Vaters. Der hatte seinem Sohn im Ghetto ein höheres Alter erlogen, damit er wie die größeren Kinder arbeiten durfte. Die anderen wurden meist deportiert. Becker erinnert sich kaum an diese Zeit »grauer Ereignislosigkeit«. Vielleicht hat er seine frühen Jahre, die »kaum Leben genannt werden dürfen« (292), einfach verdrängt. Erzählen ist demgegenüber Schöpfung auf zwei Ebenen: indem es eine fiktionale Welt entwirft und zugleich eine lebensgeschichtliche Leerstelle füllt. Wie wichtig für Becker eine solche erzählerische Rekonstruktion war, hat er in Die 3 © 2003 Philipp Reclam jun., Stuttgart. Olaf Kutzmutz Jurek Becker: Jakob der Lügner Reclam unsichtbare Stadt beschrieben: »Ohne Erinnerungen an die Kindheit zu sein, das ist, als wärst du verurteilt, ständig eine Kiste mit dir herumzuschleppen, deren Inhalt du nicht kennst. Und je älter du wirst, um so schwerer kommt sie dir vor, und um so ungeduldiger wirst du, das Ding endlich zu öffnen.« (303) Autobiografisch gesehen, erzählt Becker also eine Geschichte, die ihm eine Kindheit erfinden, die für ihn Identität stiften könnte. Das historische und selbst erlebte Ghetto von Lodz ist eine verlässliche Basis für Beckers Erfindungen. Die Präzision, mit der sein Erzähler das Ghetto vermisst, entspricht der des Autors. »Ich wollte die Ghetto-Wirklichkeit möglichst genau kennen«, so Becker, »um zu wissen, wo ich sie verlasse«.10 Dafür recherchiert er gewissenhaft die Verhältnisse in diesem Ghetto, in dem Mitte 1940 rund 160.000 Menschen auf engstem Raum zusammenlebten. Was ihnen durch Verordnungen der Nazis an Individualität und Würde geraubt wurde, versucht Becker durch eine kleine Auswahl unverwechselbarer Figuren zurückzugeben. Hinter einer abstrakten Zahl von Ghettobewohnern entdeckt er Biografien, die er dem Leser als individuelle Figuren vorführt – den heldenhaften Herschel Stamm, den tratschenden Friseur Kowalski, die ängstlichen Kirschbaums, das Liebespaar Rosa und Mischa, die neugierig-kecke Lina und den verschlagenen Hoffnungsspender Jakob Heym. Beckers schriftstellerisches Verfahren, die geschichtlichen Zeugnisse lediglich als Material für seinen Roman zu benutzen, stößt auf Skepsis in seinem nächsten Umfeld. Die Reaktion von Beckers Vater auf Jakob der Lügner zeigt, wie schwer verständlich dieses Vorgehen für jemanden ist, der die Zeit bewusst miterlebt und erlitten hat. Er war empört über das phantasievolle Werk seines Sohnes und kommentierte harsch: »›Die blöden Deutschen kannst Du belügen über die Zustände im Ghetto, aber nicht mich. Ich bin dabeigewesen.‹«11 Wie also lässt sich in der Fiktion die geschichtliche ›Wahrheit‹ retten? 4 © 2003 Philipp Reclam jun., Stuttgart. Olaf Kutzmutz Jurek Becker: Jakob der Lügner Reclam Erzählen nach Auschwitz Beckers Roman erscheint, als das Bedürfnis, die nationalsozialistische Vergangenheit aufzuarbeiten, besonders in Westdeutschland dringlicher wird. »Wir haben nichts gewusst«, heißt es im Nachkriegsalltag zwar noch immer, aber mit dieser pauschalen Entschuld(ig)ung der Väter-Generation geben sich in der Bundesrepublik weder die Studentenbewegung noch die Außerparlamentarische Opposition (APO) zufrieden. Der Ruf nach politischen Veränderungen schließt zu Zeiten des Eichmann-Prozesses in Jerusalem (1961), des Frankfurter Auschwitz-Prozesses (1963/65) und der Großen Koalition aus SPD und CDU den kritischen Blick auf das Dritte Reich ein; Diskussionen entzünden sich Mitte der 60er Jahre unter anderem an der Verjährung nationalsozialistischer Gewaltverbrechen. Diesen politischen Bewegungen im Westen entsprechen im Ostblock Reform-Bemühungen, für die beispielhaft Dubček und der ›Prager Frühling‹ stehen. Mit dem Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes geht dieser ›Frühling‹ in der Tschechoslowakei 1968 gewaltsam zu Ende.12 Zu dieser Zeit wird Beckers Verhältnis zur DDR kritischer. Die Literatur erlaubt ihm, Bedenken zu formulieren, die für die Medien der DDR nicht tragbar gewesen wären.13 Auch wenn Beckers künstlerische Ideen der offiziellen Literaturauffassung der DDR widersprechen, bleibt davon seine grundsätzliche Loyalität zu seiner zweiten Heimat unberührt. »Ich kann Ihnen versichern, daß die DDR kein Alleinvertretungsrecht hat für Reibung zwischen Schriftsteller und Gesellschaft«14, hat Becker 1978, kurze Zeit nach seiner Übersiedlung in den Westen, in einem Interview für die Berliner Abendschau erklärt. Für Becker bedeutet Literatur, Stellung zu beziehen, Widerspruch. Er mischt sich gern ein, ist ein Autor, der immer wieder zur aktuellen Politik befragt wurde und sich zu Themen wie der Lage in Polen, der Wiedervereinigung, dem Aufstieg der Republikaner geäußert hat. Sein literarisches Engagement ist aber keines, das auf 5 © 2003 Philipp Reclam jun., Stuttgart.
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